Zweites Buch

1.

 

Karem ächzte unter der schweren Last, aber schließlich schaffte er es, den Stein hochzuheben. Für einen kurzen Augenblick schien es, als würde ihm der Felsbrocken aus den Händen gleiten, aber dann hatte er ihn auf den Karren gehoben.

Die Sonne brannte heiß vom Himmel auf seinen nackten Oberkörper herab. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und blickte ins Tal. Er und drei andere Sklaven waren damit beschäftigt, einen weiteren Teil des Südhanges für eine Bepflanzung mit Rebstöcken vorzubereiten.

Ihm als Kräftigsten fiel die härteste Arbeit zu. Während die anderen die spärlichen Büsche ausrissen, war es seine Aufgabe, die Steine zu entfernen und die niedrig gewachsenen Bäume zu fällen. Karem war trotzdem nicht unzufrieden. Die körperliche Arbeit gefiel ihm und gab ihm die Möglichkeit, seinem immerwährenden Zorn freien Lauf zu lassen.

Inzwischen war er fast sechs Fuß groß und somit nur noch einen halben Kopf kleiner als Muran, den er aus tiefster Seele hasste. Er hatte sich durch die schwere Arbeit im Lauf der Jahre verändert. Muskeln bedeckten seinen Körper, und selbst der Aufseher wagte es nun nicht mehr, ihn zu schlagen.

Weiter oben am Hang plagten sich die drei Brüder Masak, Kulan und Threm damit ab, einen ziemlich großen Busch aus der Erde zu reißen. Schon als Kleinkinder waren sie in die Sklaverei verkauft worden und kannten im Gegensatz zu Karem kein Leben in Freiheit.

Masak bemerkte seinen Blick und winkte ihm zu. Karem hob die Hand zum Gruß. Er musste lächeln. Masak ging, wann immer es möglich war, jeder Arbeit aus dem Weg und nutzte jede Gelegenheit für eine kleine Pause. Trotzdem war er wegen seines fröhlichen, stets gutgelaunten Wesens bei den anderen Sklaven beliebt. Lediglich Muran mochte ihn nicht und ließ keine Möglichkeit aus, Masak die Peitsche spüren zu lassen.

Karem spuckte bei dem Gedanken an Muran aus. Diese Bestie in Menschengestalt, obwohl selbst ein Sklave, kannte kein anderes Vergnügen als jemand anderem Qualen zu bereiten.

Neben dem Wagen lag ein mit Wasser gefüllter Ziegenlederschlauch. Karem bückte sich und nahm einen tiefen Schluck. Einen Teil des kühlen Wassers ließ er über sein Gesicht und seinen Oberkörper laufen.

Muran war heute nicht auf dem Anwesen, er begleitete Farcellus zu einem entfernten Nachbargut, um vom dortigen Hengst eine seiner Stuten decken zu lassen. Vor dem Abend würden sie nicht zurück sein. Es gab also keinen Grund, sich zu verausgaben, außerdem war der Karren schon fast mit Steinen gefüllt und Karem musste warten, dass Drulla mit den Pferden kam, die den Wagen ins Tal hinunterziehen würden.

Er setzte sich in den Schatten einer noch nicht gefällten Pinie und ließ seine Gedanken schweifen. Seit sieben Jahren diente er nun Farcellus. Das Leben war hart, oft grausam und unerbittlich, aber es hatte auch seine schönen Seiten. Abends, wenn die Tagesarbeit getan war, durften männliche und weibliche Sklaven zusammenkommen, gemeinsam essen und sich für wenige Stunden unterhalten, bevor sie wieder in getrennte Quartiere zurückkehren mussten. Lediglich verheirateten Sklaven war es erlaubt, eine kleine Hütte zu bauen und miteinander zu leben.

Farcellus allein bestimmte, ob zwei Menschen das Ehegelöbnis ablegen durften. Aber auch danach blieben sie Sklaven, ebenso wie ihre Kinder, die jederzeit, ebenso wie der Ehepartner, verkauft werden konnten. Allerdings geschah das nur selten. Die ständig größer werdende Plantage erforderte stets neue Arbeiter, und Sklaven, die ein wenig privates Glück kannten, schufteten noch härter.

Karem hatte noch keines der Mädchen ins Auge gefasst, obwohl ihm schon mehrere mit Augen und Gesten zu verstehen gegeben hatten, dass sie für ihn zu haben waren.

Im Gegensatz zu den anderen Männern, die den ganzen Tag lang über nichts anderes sprachen, hatte er noch wenig Interesse an der körperlichen Seite so einer Beziehung; ihn faszinierte lediglich die vollkommen andere Denkweise der Frauen. Ihre Gesellschaft war angenehm und ihre sanften Stimmen erinnerten ihn an seine Schwester, die vor so vielen Jahren gestorben war.

Die meiste Zeit verbrachte er mit Crom, dem Ork. Karem war der Einzige, der sich dem Monster nähern konnte, ohne Gefahr zu laufen, von ihm zerrissen zu werden.

Tiefe Freundschaft verband sie inzwischen, und dabei hatte alles ganz anders angefangen ...

 

»Karem! Komm her!«, brüllte Muran außer sich vor Wut. Sein hässliches Gesicht war feuerrot angelaufen und ließ die alten Narben wie weiß schillernde Blütenblätter wirken.

Der Junge hastete über den Hof. Innerlich betete er, dass Muran keinen Vorwand gefunden hatte, ihn auspeitschen zu lassen.

Als er den Aufseher erreichte, wurde gerade Hemran, ein Sklave in mittleren Jahren, tot auf einer Bahre an ihnen vorbei getragen. Hemrans blutleeres Gesicht war zu einer schmerzverzerrten Grimasse erstarrt. Karem blickte auf ihn herab und schauderte. Der Ork hatte ihm einen Arm abgerissen, der nun zu seinen eigenen Füßen lag. Die Schulter des Mannes war ein schwarzes Loch, aus dem hellrote Fleischfetzen hervorragten. Hemran war verblutet, bevor man ihm hatte helfen können. Es war seine Aufgabe gewesen, den Ork zu füttern, der an die große Wasserpumpe gekettet war, die er durch reine Körperkraft bewegen musste. Wie schon zwei Wärter vor ihm war Hemran ein einziges Mal unaufmerksam gewesen und diese Gelegenheit hatte der Ork genutzt, über ihn herzufallen.

Muran fluchte und bespuckte den Toten. Jetzt musste er Farcellus berichten, dass wieder einer seiner kostbaren Sklaven von dem Ork getötet worden war. Aber zuerst würde er dieses Untier die Peitsche spüren lassen.

Der Aufseher ging zu seiner Hütte. Er war der einzig Unverheiratete, dem gestattet wurde, allein zu leben. Mit einer besonderen Peitsche, an deren Ende in das Leder Metalldornen geflochten waren, kam er wieder heraus.

Sein Gesicht versprach unendliche Grausamkeit. Er packte Karem grob am Nacken und schleifte ihn mit zum Wasserrad.

Der Ork hockte auf dem sandigen, mit seinem eigenen Unrat verschmutzten Boden und starrte Muran aus blutroten Augen entgegen. Seine Arme waren an den großen Holzbalken gefesselt, den er unermüdlich im Kreis anschieben musste, um Wasser aus der Tiefe des Brunnens nach oben zu pumpen. Seine massigen Beine konnte er frei bewegen, aber obwohl er in der Reichweite seiner Arme begrenzt war, gelang es ihm immer wieder, einen der Wärter, die ihm Futter brachten und seinen Laufweg reinigten, zu überraschen, zu verletzen oder sogar zu töten. Hemran war sein drittes Opfer innerhalb der letzten zwei Jahre geworden.

»Steh auf, du Mistvieh!«, brüllte Muran außer sich vor Wut.

Der Ork glotzte nur dumpf zurück. Die Peitsche zischte durch die Luft und knallte hart auf die lederartige Haut des Riesenwesens, das schmerzerfüllt jaulte und auf die Füße sprang. Es konnte sich nicht weiter zurückziehen, da die Arretierung des Wasserrades eingerastet war und sich der Balken, an den es gefesselt war, nicht bewegen ließ.

Wieder schlug die Peitsche zu. Muran war der Raserei verfallen. Immer härter prügelte er auf den Ork ein, der verzweifelt versuchte, sein Gesicht zu schützen. Obwohl seine Haut wesentlich widerstandsfähiger als die eines Menschen war, hinterließen die Metalldornen der Peitsche klaffende, blutende Wunden und rissen ganze Fetzen herunter.

Der Ork rüttelte wie wahnsinnig an dem Balken, um den Schlägen zu entkommen, aber es gab keinen Ausweg. Die Peitsche sang ihr grausames Lied, bis das Wesen zusammenbrach, und selbst dann ließ Muran erst von ihm ab, als er erschöpft außer Atem kam.

Seine Augen fixierten Karem.

»Du gehst jetzt in den Schuppen dort, holst dir einen Rechen und eine Schaufel und reinigst den Laufweg dieses Mistviehs!«

»Ich ... aber ...«

Murans Gesicht bekam wieder einen bösartigen Ausdruck. »Du widersetzt dich mir?«

Karem nahm all seinen Mut zusammen. »Aber er wird mich töten!«

»Das wird er nicht! Das Vieh ist jetzt ruhig und außerdem bin ich da. Wenn er dich angreift ...« Muran sprach nicht weiter, sondern ließ nur die Peitsche knallen. »Los jetzt, Junge.«

Karem flitzte zu dem kleinen Schuppen, in dem der Futtereimer und die Reinigungsgeräte untergebracht waren. Obwohl es in der winzigen Holzbude düster war, er hatte gerade mal genug Platz um sich umzudrehen, fand er den Rechen und die Exkrementenschaufel gleich.

Muran stand noch immer vor der Laufgrube und starrte den Ork finster an. In den Gedanken des Aufsehers begann, Panik aufzusteigen. Das Tier lag bewegungslos und blutete stark aus mehreren offenen Wunden. Farcellus würde ihn zu Tode foltern lassen, wenn der Ork starb. Er beschloss, dass er seinem Herrn die Verletzungen des Monsters verschweigen würde. Farcellus kam nur selten zur Grube, um den Ork bei der Arbeit zu beobachten. Mit etwas Glück würde er sich mit Murans Aussage begnügen, dass der Ork bestraft worden war. Die Schwere der Bestrafung musste dabei nicht erwähnt werden. Muran warf nochmals einen Blick auf den Ork, der ernsthaft verletzt schien. Besser, man behandelte seine Wunden. Mit großen Schritten ging er zu seiner Hütte, um eine heilende Salbe zu holen.

Karem kam zurück zur Grube. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass Muran gegangen war. Unschlüssig stand er da und überlegte, was er jetzt tun sollte, aber bevor er eine Entscheidung treffen konnte, sah er den Aufseher wieder auf sich zu kommen. Muran hielt einen irdenen Tiegel in den Händen, der mit einem Korken verschlossen war.

»Karem, hier drin ist eine heilende Salbe. Hol etwas Wasser und einen sauberen Lappen. Du wirst die Wunden des Orks reinigen und sie mit dieser Paste beschmieren.« Muran zog den Korken heraus. Ein widerlicher Gestank drang aus dem Tiegel. »Verwende nicht zu viel davon, diese Salbe ist sehr kostbar. Benütze sie nur für die noch blutenden Wunden, die anderen, die sich bereits geschlossen haben, heilen von selbst. Hast du das verstanden?«

Der Junge nickte ängstlich. Er legte Rechen und Schaufel beiseite, holte aus dem Schuppen ein Tuch und einen Eimer, den er am Brunnen halb mit Wasser füllte. Als er zurückkam, wartete der Aufseher schon ungeduldig.

»Los jetzt!«

Karem sprang den halben Meter in die Grube hinab. Muran reichte ihm den Eimer und den Lappen. Vorsichtig, Schritt für Schritt ging Karem auf den noch immer regungslosen Ork zu.

Der Boden der Grube war vollkommen verdreckt. Überall lagen verfaulte Essensreste und Exkremente herum. Jedes Mal, wenn er den Fuß aufsetzte, erhob sich eine dunkle Wolke Fliegen, die ärgerlich um sein Gesicht herumbrummten. Karem wagte nicht, sie mit dem Lappen zu verscheuchen und vermied jede hastige Bewegung.

Nur noch ein kurzes Stück trennte ihn von dem Ork, der auf dem Bauch lag, die gefesselten Arme bizarr nach oben zum Holzbalken verrenkt. Sein ganzer Körper war erschlafft, trotzdem näherte sich Karem ihm vorsichtig.

Auf dem Rücken des Wesens klafften mehrere fingerlange Wunden, aus denen dunkelrotes Blut zäh über die lederartige Haut zu Boden tropfte, wo sich schon eine kleine Lache im Sand gebildet hatte. Muran hatte ganze Arbeit geleistet.

Karem tauchte den Lappen in den Eimer und begann mit zitternden Händen, die Wunden vorsichtig abzutupfen. Ein Schauer durchlief den riesigen Körper, und der Junge schreckte zurück. Als er bemerkte, dass es sich nur um eine instinktive Reaktion des Orks gehandelt hatte und das Monster noch immer ohnmächtig war, machte er weiter.

Der Lappen hatte sich bald rot verfärbt, und Karem musste ihn mehrmals auswringen. Die Sonne brannte auf ihn herab und in seinem Nacken konnte er Murans Blicke spüren.

Nachdem er alle Wunden gesäubert hatte, brachte er den Eimer zum Rand der Grube und nahm den Salbentiegel, den Muran ihm entgegenstreckte. In den Augen des Aufsehers lag ein Ausdruck, den Karem erst nicht deuten konnte, aber schließlich entdeckte er die Angst darin.

»Was ist, Junge? Ist er schwer verletzt?«, fragte Muran heiser.

»Ja.«

»Wird er sterben?«

»Ich weiß nicht.«

»Geh jetzt und behandle ihn mit der Salbe!«, befahl Muran unwirsch, um seine Furcht zu überdecken.

Karem ging zurück zur Mitte der Grube. Diesmal machte er sich nicht die Mühe, besonders vorsichtig aufzutreten. Wenn der Ork durch die Waschung nicht aufgewacht war, dann würde er auch weiterhin bewusstlos bleiben.

Der Korken saß fest. Karem musste ihn mit den Zähnen herausziehen. Vorsichtig fasste er mit seiner schmalen Hand hinein. Seine Finger nahmen etwas Salbe auf, die er behutsam auf die größte Wunde auftrug. Er war so konzentriert, dass ihm nicht sofort auffiel, dass der Ork den Kopf gedreht hatte und ihn aus offenen, blutroten Augen anstarrte. Ein tiefes Grollen ließ ihn aufschrecken. Ketten rasselten, als die mächtige Hand des Orks vorzuckte und ihn am Arm packte. Karem hatte das Gefühl, sein Herz würde vor lauter Angst stehen bleiben.

Das Gesicht des Untiers schob sich näher. Stinkender Atem schlug ihm entgegen. Die riesigen Reißzähne, die aus der Unterlippe wuchsen, wurden gebleckt. Karem war unfähig, sich zu bewegen. Er versuchte erst gar nicht, sich zu befreien, sondern erwartete den Tod.

»Schmerzen!«, knurrte der Ork.

Karem war so fassungslos, dass er das Wort nicht verstand. Nur langsam dämmerte ihm, dass der Ork ihn angesprochen hatte.

Muran hatte beobachtet, wie das Tier Karem gepackt hatte. Er wagte nicht, seine Peitsche einzusetzen. Nicht nur, dass er dadurch den Jungen gefährdete und ein toter Sklave war genug für einen Tag, er hatte auch Angst, den Ork noch schwerer zu verletzen. Unfähig, eine Entscheidung zu treffen, stand er da und glotzte dumpf auf die Szene herab.

»Schmerzen!«, wiederholte der Ork.

»Ja, ich weiß«, antwortete Karem mit zitternder Stimme.

»Helfen!«

Der Junge nickte hastig. »Ich will dir helfen. Ich habe deine Wunden gewaschen, und diese Salbe wird dich heilen und dir die Schmerzen nehmen.«

»Gut!«, brummte der Ork. Seine Hand löste sich von Karems Arm.

Im Kopf des Jungen jagten sich die Gedanken. Sollte er versuchen zu fliehen? Nein! Wenn er zu langsam war, würde der Ork ihn wieder packen, und diesmal würde er ihm bestimmt den Kopf abreißen.

Seine Hände zitterten so stark, dass er den Tiegel fallen ließ und erst wieder aufheben musste. Noch behutsamer als zuvor strich er mit den Fingern die Salbe zwischen die Wundränder. Als er fertig war, blieb er unschlüssig stehen.

Die Augen des Orks suchten seinen Blick.

»Geh!«

Karem rannte, so schnell er konnte, zum Rand der Grube. Ohne den verblüfften Muran zu beachten, stürmte er an ihm vorbei und hetzte in seine Unterkunft, wo er sich mehrmals in den Urineimer übergeben musste.

Karem kauerte noch immer gebeugt über dem Eimer, als Muran die Unterkunft betrat. Er hob den Blick, als der Aufseher vor ihn trat.

»Ab heute bist du der Orkwächter. Jeden Tag nach deiner normalen Arbeit wirst du zur Küche gehen und dem Ork die Abfälle bringen. Zusätzlich wird jeden zweiten Tag das Wasserrad angehalten, und du reinigst seinen Laufweg!«

»Warum ich?«, wagte Karem zu fragen.

»Ganz einfach!« Ein breites Grinsen überzog das Gesicht des Aufsehers. »Das Monster hat dich gepackt und du lebst noch!«

 

Als Karem am nächsten Abend mit einem Eimer voll stinkendem Küchenabfall und zitternden Knien zur Laufgrube stapfte, war sein Gesicht leichenblass.

Den ganzen Tag hatte er überlegt, ob er Farcellus selbst bitten sollte, ihn von dieser Aufgabe zu entbinden, aber eine innere Stimme sagte ihm, dass jede Hoffnung in diese Richtung sinnlos war. Der römische Gutsherr würde den Verlust eines Knaben sicher besser verschmerzen, als einen weiteren erwachsenen Sklaven zu riskieren.

Karem wunderte sich noch immer, warum der Ork so schlecht behandelt wurde. Schließlich hatte er eine Menge Gold gekostet, aber in der Küche hatte der Junge erfahren, dass Farcellus das Monster jetzt schon als Gewinn verbuchte. Bevor der Ork an die Wasserpumpe gekettet worden war, hatte die schwere Arbeit den Römer jedes Jahr drei teuere Pferde gekostet. Totale Erschöpfung und Infektionen hatten die Tiere dahingerafft, und mehr als einmal war die Pumpe stehen geblieben oder hatte nur unzureichend Wasser gefördert, was angesichts des trockenen Bodens der Plantage, der ständig bewässert werden musste, eine Katastrophe war.

Andererseits dachte sich Karem, auch die menschlichen Sklaven hatten Geld gekostet, und auch sie wurden bei jedem kleinen Vergehen fast zu Tode geprügelt. In den Augen der Römer waren er und die anderen Sklaven weniger wert als Tiere. Warum sollten sie ausgerechnet ein Monster wie den Ork besser behandeln.

Karem hatte die Grube erreicht. Unermüdlich stapfte der Ork durch den Unrat, der auf dem sandigen Boden lag, und schob dabei den schweren Holzbalken im Kreis, der die Wasserpumpe betätigte, die ihrerseits Wasser auf die Felder fließen ließ. Karem konnte nicht anders, er bewunderte das ausgeklügelte System, das dafür sorgte, dass die Felder niemals austrockneten und somit das ganze Jahr bepflanzbar und erntefähig waren.

Als der Ork bei seiner Runde an Karem vorbeikam, blieb er stehen. Seine roten Augen richteten sich erwartungsvoll auf den Jungen. Soweit Karem das beurteilen konnte, wirkte das Wesen friedlich. Wahrscheinlich machten ihm seine Wunden noch zu schaffen. Eigentlich war es unglaublich, dass der Ork das Wasserrad schon wieder bewegen konnte. Dieses Monster musste sogar widerstandsfähiger als ein Groul sein.

Obwohl Karem erhöht am Rand der Grube stand, überragte ihn der Ork um zwei Köpfe. Beide starrten einander abwartend an. Schließlich wurde Karem der Futtereimer zu schwer und er setzte ihn ab.

Minuten vergingen, während sie sich musterten.

Plötzlich sprach ihn der Ork an: »Komm!«

Das Wort klang wie Donnergrollen aus der Kehle des Wesens.

Aus irgendeinem Grund erfasste Karem eine tiefe Ruhe und die Gewissheit, dass ihm das Monster kein Leid zufügen würde. Ohne weiter darüber nachzudenken, kletterte er in die Grube hinab und zog den abgestellten Eimer herunter.

Der Ork machte ein, zwei Schritte, bis er direkt vor Karem zum Stehen kam. Nun trennte die beiden nicht mehr als ein Meter. Der Schatten des Orks fiel auf Karem, und er musste den Kopf in den Nacken legen, um in die Augen des Wesens blicken zu können.

Obwohl er an den Holzbalken gefesselt war, reichte der Spielraum seiner Kette. Er konnte jederzeit nach Karem greifen und ihn packen.

Der Ork kam noch ein weniger näher. Seine breiten Nasenlöcher schnupperten. Karem blieb fast das Herz stehen, als der Ork die Oberlippe hochzog und sein raubtierhaftes Gebiss entblößte. Später lernte er diese Mimik zu verstehen, nämlich dass dies die Art des Orks zu lächeln war, aber im Augenblick schloss er die Augen und erwartete sein Schicksal.

Eine unglaublich große Hand griff nach dem Eimer. Der Ork setzte sich zu Boden und begann, das Essen in sich hineinzuschaufeln. Er schmatzte dabei laut. Als Karem die Augen wieder öffnete, sah er, dass der Ork sich über und über mit Essensresten beschmutzt hatte.

Er ging zum Grubenrand, holte einen Eimer und füllte ihn mit dem Wasser der Pumpe. Unter der Last schwankend, kehrte er in die Grube zurück. Der Ork schien sein Mahl beendet zu haben, denn der leere Eimer lag weggeschleudert auf der anderen Seite, hinter dem senkrechten Mast, der über die ganze Holzkonstruktion ragte.

Karem reichte dem Ork den Eimer. So wie das Wesen trank, musste es halb verdurstet sein.

»Mehr!«, forderte das Wesen und warf ihm den Eimer vor die Füße. Karem hob ihn auf, füllte ihn erneut und brachte ihn zurück. Wieder wurde der Eimer leer getrunken.

»Wie geht es deinen Wunden?«, fragte der Junge vorsichtig.

Der Ork glotzte ihn verständnislos an, aber schließlich schien er den Sinn der Frage zu begreifen.

»Schmerzen!«, war die einsilbige Antwort.

»Lass mich mal sehen.«

Geduldig wandte ihm das Wesen den breiten Rücken zu. Die Wunden hatten sich geschlossen, aber Karem entdeckte mehrere geflügelte Windzecken, die sich in das verletzte Fleisch gebohrt hatten. Die meisten von ihnen hatten sich voll Blut gesaugt, so dass sich ihre normale Größe von einem Daumennagel auf den Umfang einer Kinderfaust gedehnt hatte. Karem wusste nicht, ob Orks Infektionen erleiden konnten, aber sein Vater hatte ihn stets vor diesen heimtückischen Krankheitsüberträgern gewarnt.

»Die Wunden heilen, aber du hast Windzecken. Soll ich sie entfernen?«

Der Ork nickte. Karem wusste nicht, ob er verstanden worden war. Sei es drum, er war jetzt für das Wesen verantwortlich und würde gekreuzigt werden, sollte der Ork eingehen.

»Es wird wehtun«, sagte Karem, aber er bekam keine Antwort.

Mit dem Lappen umfasste er die erste pfirsichgroße Zecke. Das Tier spürte die Berührung und versuchte verzweifelt, sich tiefer ins Fleisch zu bohren, woran sie aber durch ihren eigenen aufgequollenen Körper gehindert wurde. Karem drehte sie abrupt hin und her, damit sich die Beißzangen lösten, dann riss er sie mit einem Ruck heraus. Er warf das Insekt auf den Boden und zertrat es. Das ausgesaugte Blut spritzte in den Sand. Der Ork hatte nicht einmal gezuckt.

Karem zählte elf Zecken, bis er den Rücken von ihnen befreit hatte. Zum Schluss spuckte er, so wie es ihm sein Vater beigebracht hatte, auf jedes der Zentimeter großen Löcher, um mit seinem Speichel den Heilungsprozess zu beschleunigen.

Leider hatte er Murans grüne Salbe nicht mehr. Der Aufseher hatte sie wieder weggeräumt, und Karem hatte nicht den Mut, danach zu fragen.

»Ich bin fertig«, murmelte der Junge.

Der Ork wandte sich wieder um und starrte Karem auf seine merkwürdige, ruhige Art an.

»Mein Name ist Crom«, sagte er.

»Ich bin Karem.«

Beide schwiegen erneut.

»Woher kannst du unsere Sprache?«, wollte der Sklavenjunge wissen.

»Mein Vater, Throomak, Häuptling, großer Jäger, macht Handel mit Menschen. Felle von Silberwolf und Urik gegen Eisenwaffen. Ich immer dabei. Lausche. Lerne. Worte merken. Sprechen schwer.«

»Warum hast du nie zu den anderen Menschen gesprochen? Alle denken du bist stumm.«

Crom fletschte die Zähne und entblößte seine riesigen Hauer. Ein tiefes Knurren erklang. »Menschen böse. Ich töte. Alle!«

»Du hast mich nicht getötet. Warum nicht?«

»Du nicht böse. Du nicht schlagen Crom. Du Crom schlagen, ich töte dich!«

»Ich werde dich nicht schlagen.«

»Gut. Bitte, anderen Menschen nicht sagen, Crom sprechen.«

»Warum nicht?«

»Crom will nicht sprechen. Menschen hassen. Früher denken, Menschen gut. Glitzernde Dinge schenken. Wasser, das Träume macht, geben. Aber jetzt, sie schlagen mich. Ich hasse sie.«

»Nicht alle Menschen sind böse.«

»Trotzdem versprechen, nicht sagen, anderen Menschen, Crom versteht Worte.«

Der Junge sah, dass es dem Ork ernst mit seiner Bitte war.

»Ich verspreche es dir.«

»Gut.«

»Aber jetzt muss ich hier sauber machen. Wenn Muran kommt, und ich bin nicht fertig, lässt er mich die Peitsche spüren.«

Der Ork brüllte auf. Karem fuhr entsetzt zurück, als das riesige Wesen sich aufrichtete und irgendetwas in seiner fremden, kehligen Sprache brüllte. Schließlich hatte sich der Ork beruhigt und ging neben Karem in die Hocke.

»Ich, Crom, töte Muran!«

Das würden dir alle Sklaven der Plantage danken, aber Muran war nicht so dumm, die Grube zu betreten und sich in die Reichweite der riesigen Pranken zu begeben. Er besaß den natürlichen Instinkt eines Raubtieres, das stets wusste, wann Gefahr drohte. Muran zu töten, Karem lächelte bitter, davon träumte jeder von Farcellus Sklaven.

 

 

Das Flüstern des Windes
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