11.

 

Eine Stunde später stieg das Luftschiff wieder in den Himmel hinauf.

Djoran, Gram, Medak und Marga waren hastig verscharrt worden. Die toten Stammeskrieger lagen aufgebahrt in einem abgesperrten Lagerraum unter Deck. Die N’Guur nahmen stets die Leichen ihrer gefallenen Stammesbrüder mit. Später würden ihre Schädel und Hände den uralten Riten nach mumifiziert und in der Heimatwelt der N’Guur, Sodal-Baat, begraben werden.

Karem hatte man grob an Bord des Spähers hochgezogen. Unter seinen Achseln brannten die blutigen Striemen der Seile, mit denen man ihn wie ein Stück Vieh über die Reling gehievt hatte.

Nun lag er festgebunden in einem dunklen Lagerraum. Nur wenig Tageslicht fiel durch die schmalen Spalten zwischen den Holzplanken. Nachdem sich seine Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, erkannte er, dass er nicht allein war.

In zwei Reihen auf beiden Seiten des Schiffes kauerten angekettet zwölf Menschen. Fünf Frauen und sieben Kinder im Alter von vier bis dreizehn Jahren. Niemand sprach ein Wort, lediglich das Wimmern der Kleinkinder erfüllte den stickigen Raum.

Die größeren Kinder und ihre Mütter hatten die Knie angezogen und brüteten dumpf vor sich hin. Jeder kannte das unaussprechliche Schicksal, das sie auf Omrak erwartete.

Ein Teil der Frauen und Kinder würden als Lustsklaven gehalten werden, bis ihre neuen Herren ihrer überdrüssig waren, dann würden sie wie der Rest in den Schwefelminen schuften, bis ihnen die giftigen Dämpfe die Netzhaut der Augen zerfressen hatten, und sie nach wenigen Jahren, als Greise von ihrem Schicksal erlöste.

So schwiegen sie alle, beantworteten nicht einmal die jammernden Fragen ihrer Kinder.

Karem saß etwas abseits von einem kleinen Mädchen mit dunkelbraunen Haaren. Sie mochte vielleicht acht Jahre alt sein und spielte mit den Gliedern der Eisenkette, mit der sie an die Bordwand gefesselt war. Das leise, stetige Klirren ging ihm auf die Nerven. Er wollte allein, ungestört mit seiner Trauer und seinem Hass sein.

Das Mädchen bemerkte seinen Blick und lächelte zaghaft.

»Hallo«, sagte sie freundlich.

Karem wandte den Kopf ab und hoffte, dass sie dieses Signal verstand. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine Unterhaltung.

»Ich habe ‘Hallo’ gesagt!«, beharrte das Mädchen.

»Das habe ich gehört«, knurrte Karem unfreundlich.

»Du musst jetzt auch ‘Hallo’ sagen«, meinte das Mädchen energisch.

»So muss ich?«, fragte Karem boshaft. »Wer sagt das?«

»Meine Mutter! Sie sagt, wenn man jemanden freundlich grüßt, darf man erwarten, auch gegrüßt zu werden.«

Karem drehte sich ein wenig und spähte in die Düsternis. Das Mädchen saß ebenso wie er abseits und allein.

»Deine Mutter scheint im Augenblick aber nicht hier zu sein!«

Das Mädchen brach in Tränen aus, und Karem bereute seine Gehässigkeit sofort. Sein persönliches Unglück gab ihm kein Recht, andere zu verletzen.

»Meine Mutter ist tot«, schluchzte die Kleine. »Ein böser Mann hat sie geschlagen.«

Karem rückte ein wenig näher. Seine Eisenkette ließ ihm genug Spielraum und als er den Arm ausstreckte, konnte er sie berühren. Sanft fuhr er mit der Hand über ihr weiches Haar.

»Es tut mir leid! Ich wollte dir nicht weh tun!«, flüsterte er.

Sie hob den Kopf. Karem sah, dass ihre großen, braunen Augen in Tränen schwammen. Ihr kleiner Körper zitterte.

»Wo ist dein Vater?«, fragte er sanft.

»Er war auf der Jagd, als die bösen Männer kamen. Ich weiß nicht, wo er ist, aber er wird kommen und mich holen.« Sie schniefte trotzig.

»Das wird er ganz bestimmt«, bestätigte Karem. »Aber bis dahin musst du tapfer sein, und jetzt ist es genug mit dem Weinen.«

»Ich wollte ja gar nicht weinen. Es kam einfach so.«

»Das verstehe ich.«

Sie warf ihre langen, lockigen Haare in einer anmutigen Geste zurück, die sein Herz erwärmte.

»Wo sind deine Eltern?«, wollte sie wissen.

Karems Gesichtszüge versteinerten.

»Sie sind tot! Mein Bruder und meine Schwester auch!«

»Oh!«

Die kleine Hand des Mädchens streichelte seinen Arm.

»Du kannst ruhig weinen. Ich werde es niemandem sagen.«

Karem wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes die aufsteigenden Tränen aus den Augenwinkeln.

»Danke, aber es geht schon.«

»Wie heißt du?«

»Karem. Und du?«

»Lelina.«

»Das ist ein schöner Name.«

Sie gluckste glücklich. Karem beneidete sie. Eben noch war sie todtraurig gewesen, und nun reichte ein kleines Kompliment, um ihr ein Lächeln abzuringen.

Plötzlich polterte es laut im Schiffsrumpf. Die Köpfe der Gefangenen ruckten hoch, als das Boot erzitterte und ins Schwanken geriet.

»Was ist das?«, fragte Karem, aber bevor Lelina ihm antworten konnte, waren Schritte zu hören, die hastig die Treppe in den Schiffsbauch hinunterstürmten.

Befehle wurden geschrien. Ein zorniges, wildes Brüllen war die Antwort. Peitschenhiebe donnerten.

Karem konnte nicht sehen, wer da geschlagen wurde, er befand sich in einem anderen Raum, aber er konnte deutlich hören, wie das Leder der Peitsche auf die Haut des fremden Gefangenen knallte. Kurz darauf herrschte wieder Ruhe. Die Aufseher zogen sich fluchend zurück.

Lelina war bleich geworden. Trotz des schlechten Lichts konnte Karem sehen, wie alles Blut aus ihrem Gesicht gewichen war. Ihre Augen zuckten unruhig.

»Was war das? Was war das für ein Brüllen?« Karem hatte das Mädchen an den Schultern gefasst und zwang sie, ihn anzusehen.

»Ein Monster ... ein Monster«, stammelte Lelina.

»Was für ein Monster?«

»Das weiß ich nicht! Sie haben es einen Tag nach uns auf das Schiff gebracht. Ich habe es nicht gesehen, aber es schreit und brüllt oft. Das ist kein Mensch! Niemand kann solche Geräusche machen!«

Karems Neugier war nun geweckt. Was mochte das für ein Wesen sein, das sie abgesondert von den menschlichen Gefangenen eingesperrt hatten.

Er legte sein Ohr auf das warme Holz der Bordwand und lauschte.

Ein tiefes Schnauben war zu hören. Als er vorsichtig mit den Fingerknöcheln gegen das Holz klopfte, erklang ein kehliges, unheimliches Knurren. Hastig zog er die Hand zurück.

»Lass das lieber!«, meinte Lelina eindringlich. »Wenn die Männer merken, dass du das Monster reizt, kommen sie herunter und schlagen dich!«

Karem lehnte sich mit dem Rücken gegen die Planken. Die Eisenschelle um seinen Hals schnitt in sein Fleisch, und er hatte Mühe, ausreichend Luft zu bekommen.

Eine Weile herrschte Schweigen. Nur das Klirren der Ketten und der keuchende Atem der Gefangenen waren zu hören. Karem dachte schon, Lelina wäre eingeschlafen, aber plötzlich fragte sie: »Weißt du, wo sie uns hinbringen?«

Er nickte. »Nach Omrak.«

»Ist das weit weg?«

Er hatte nicht den Mut, ihr zu sagen, dass Omrak eine andere Welt war. Unendlich weit entfernt von Thuur, also log er: »Nein! Nicht so weit!«

Das Mädchen sank mit einem glücklichen Lächeln zurück, das er mehr ahnte, als sah.

»Gut!«, flüsterte sie. »Dann wird mich mein Vater finden!«

»Das wird er ganz bestimmt!«, bestätigte Karem. »Und nun versuch, ein wenig zu schlafen, wenn dein Vater kommt, musst du ausgeruht sein. Ihr habt einen langen Rückweg vor euch.«

Ihre Ketten klirrten, als sie näher rutschte.

»Darf ich mich an dich anlehnen?«, fragte sie schüchtern.

Er öffnete den Arm zu einer einladenden Geste.

»Komm nur! Ich werde auf dich aufpassen, während du schläfst.«

Zufrieden kuschelte sie sich an ihn und war bald darauf eingeschlafen.

Karem selbst schlief nicht. Leise weinte er. Weinte um seine getötete Familie, sein eigenes Schicksal und um das Leid, das auf dieses kleine, unschuldige Wesen in seinen Armen warten mochte.

 

 

Das Flüstern des Windes
titlepage.xhtml
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_000.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_001.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_002.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_003.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_004.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_005.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_006.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_007.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_008.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_009.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_010.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_011.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_012.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_013.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_014.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_015.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_016.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_017.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_018.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_019.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_020.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_021.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_022.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_023.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_024.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_025.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_026.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_027.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_028.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_029.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_030.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_031.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_032.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_033.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_034.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_035.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_036.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_037.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_038.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_039.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_040.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_041.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_042.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_043.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_044.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_045.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_046.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_047.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_048.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_049.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_050.html
CR!88NJD5EC151WX1K4635PVMM709MB_split_051.html