6.
Karem versank in einer Welt voller Schmerzen. Seine Augenlider waren durch die brutalen Schläge zugeschwollen, und so er konnte seine Umgebung nur noch undeutlich wahrnehmen. In seinem Kopf trieb ihn ein dumpfes Pochen fast in den Wahnsinn. Blut lief aus seinen Ohren.
Sramar trat näher. Sein flaches, ausdrucksloses Gesicht verriet keinerlei Gefühlsregung. Er war von übernatürlicher Größe, breitschultrig, mit langen Armen und mächtigen Schultern. Sein Kopf saß fast direkt auf dem Oberkörper, der Hals blieb von dicken Muskelsträngen verborgen.
Er hob Karems Kopf an und betrachtete ihn mit fast kindlicher Neugier.
Karem hatte die Folter fast zwei Stunden lang schweigend ertragen, aber nun hing er gebrochen, mit Metallbändern an die nackte Wand gefesselt und wimmerte leise.
»Du bist ein harter Mann!«, gestand ihm Sramar zu.
Ein Zittern durchlief Karems Körper, als er die tonlose Stimme des Kalfaktors vernahm.
»Ich sage alles, was du willst«, presste Karem zwischen seinen geplatzten Lippen hervor.
»Habe ich dir eine Frage gestellt? Nein, ich habe dir keine Frage gestellt. Soweit sind wir noch nicht.«
»Bitte ...«
Karem konnte den fauligen Atem des Folterers wahrnehmen, als sich dieser vorbeugte und ihm flüsternd zuraunte: »Stirb nicht! Bitte, stirb noch nicht! Es gibt noch so viele Dinge, die ich mit dir anstellen möchte.«
Ihm wurde ein Lederknebel in den Mund gesteckt, damit seine Schreie nicht die anderen Gefangenen in den nahe liegenden Zellenblöcken beunruhigen konnten.
Sramar kramte in einer alten Holzkiste. Befriedigt zog er ein seltsames, kupfernes Gerät daraus hervor. Es ähnelte einer Zange, nur dass spiralenförmig gewundene Metallstachel an beiden Enden befestigt waren. Der Kalfaktor lächelte breit und glücklich.
»Wir werden eine Menge Spaß haben!«, brummte er fröhlich.
Karem zerrte an seinen Fesseln, als Sramar auf ihn zukam, aber es gab kein Entkommen, keine Gnade und keine Erleichterung.
Feuriger Schmerz setzte seinen Körper in Flammen. Sramar gluckste leise vor sich hin. Ihm stand ein sehr angenehmer Nachmittag bevor.
Vielleicht würde ihn die ganze Sache so in Erregung versetzen, dass er sich später noch ein wenig mit einer der weiblichen Gefangenen vergnügen würde.
Lächelnd drückte er die Griffe seines Folterinstrumentes weiter zusammen.
»Das glaube ich nicht!« Sara stand mit vor Empörung glühenden Wangen vor dem Thron. »Karem wäre zu so einer Tat gar nicht fähig.«
Der König lächelte amüsiert über die Naivität der Jugend.
»Du kennst diesen Burschen erst seit wenigen Tagen, aber du weißt schon alles über ihn. Interessant!«
Sara spürte, dass er sich über sie lustig machte. Wut durchströmte ihren Körper, während sie den beißenden Spott ihres Onkels hinnehmen musste.
Canai saß entspannt in dem großen Thron. Sein Rücken lehnte gegen die hohe Lehne. Die Hände hatte er vor dem Bauch gefaltet.
»Lass dir von jemandem sagen, der im Leben schon wesentlich mehr Überraschungen erlebt hat, dass man in niemanden hinsehen kann und dass jeder irgendwo in seiner Seele eine dunkle Stelle hütet, die nur darauf lauert, ans Tageslicht zu kommen.«
»Aber er hat mein Leben gerettet!«, entgegnete Sara aufgebracht. »Wie kannst du ihn in den Kerker werfen lassen?«
»Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen? Ihn mit dem gestohlenen Armband aus der Burg reiten lassen? Weißt du, wie ich vor dem Hofadel dastehe? Ich will es dir sagen, auf meinem Fest wurde einer meiner Gäste bestohlen. Es gibt schon genug Gerüchte um unser Haus. Wir können uns weitere Vorwürfe, seien sie nun berechtigt oder nicht, kaum leisten. Im Rat der Fürsten schürt dein Schwager Ronder, der Fürst von Melwar, den Unmut der ewig Unzufriedenen gegen mich. Hätte ich diesem Hund doch nie erlaubt, deine Schwester zu heiraten, aber ich dachte, so eine Verbindung würde ihn unserem Haus näher bringen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wie ich höre, ist deine Schwester nicht untätig und unterstützt ihn bei diesem Frevel auch noch. Und da glaubst du, ich kann es mir erlauben, Gnade mit einem daher gelaufenen Dieb zu zeigen?«
Saras Hände öffneten und schlossen sich krampfhaft, während sie nach den richtigen Worten suchte.
»Aber es ist doch gar nicht bewiesen, das Karem der Dieb war!«
Canai machte eine Handbewegung, und sein Berater Heidar trat vor.
»Prinzessin, es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber es ist bewiesen. Der junge Mann hat vor einer Stunde seine schändliche Tat gestanden. Ich war selbst zugegen, als er sein Gewissen erleichtert hat.«
Aus Saras Gesicht war jede Farbe gewichen. Ihre Mundwinkel zuckten unkontrolliert. Sie versuchte, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten, aber es gelang ihr nicht.
»Er ... er hat gestanden?«, stammelte sie.
»Ja!« Die Stimme des Königs richtete auch sie unbarmherzig. »Und ich möchte, dass du jetzt auf dein Zimmer gehst und diese ganze leidige Angelegenheit vergisst!«
»Aber was ist mit Karem? Welche Strafe hat er zu erwarten?«
»Er wird hingerichtet!«
»Hingerichtet«, wiederholte Sara fassungslos. »Aber ...«
»Nein! Nichts mehr ‘aber’! Du gehst jetzt auf dein Zimmer! Sofort!«, brüllte der König.
Sara zitterte am ganzen Leib, als sie den Thronsaal verließ. Ihre taumelnden Gedanken kreisten immer wieder um das gleiche Wort.
Hingerichtet.
»Prinzessin, es tut mir leid, aber das kann ich nicht tun! Es würde mich den Kopf kosten!«, winselte Sramar.
Sara stand vor dem riesigen Kalfaktor. Sie musste den Nacken in den Kopf legen, um in sein Gesicht blicken zu können. Der Abend war hereingebrochen, aber hier unten in den Gängen des Verlieses herrschte stetige Finsternis, die nur vom Schein der an den Wänden angebrachten Fackeln unterbrochen wurde. Außerdem war es feucht und kalt. Sie fröstelte, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen.
Die groben Wände waren mit Moos bewachsen, die Stufen glitschig. Ihr schauderte bei dem Gedanken, dass hier unten Menschen gefangen gehalten wurden. Ein leises Wimmern, wie von einem verletzten Tier schallte durch den Gang und verlor sich schließlich in der Weite des Verlieses.
Sara hielt dem Kalfaktor noch einmal die kostbare Perlenkette, ein Erbstück ihrer verstorbenen Mutter, vor das Gesicht. Sie konnte die Gier in seinen Augen aufblitzen sehen, aber noch hatte die Furcht vor dem König ihn fest im Griff.
»Diese Kette ist sehr wertvoll, Sramar. Du könntest den Rest deines Lebens in Wohlstand und Luxus verbringen. Denk noch einmal darüber nach! Hier unten bist du ein Diener, nichts anderes als ein weiterer Gefangener meines Onkels, aber mit dieser Kette könntest du deinem Schicksal entfliehen. Du könntest selbst ein vornehmer Herr werden«, drang sie auf ihn ein.
Sramar verlagerte unsicher sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
»Wenn man uns erwischt, werdet Ihr in Eurem Zimmer eingesperrt, mich aber wird man vierteilen!«, gab er zu bedenken.
»Im Leben gibt es immer einen Punkt, an dem man sich entscheiden muss. Nichts ist ohne Risiko, aber der Preis ist das Wagnis wert!«
»Also gut!«, gab er nach. »Ich werde Euch zu ihm führen. Anschließend mache ich meinen Rundgang, der sehr lange dauern kann. Ich werde die Zelle nicht verschließen, aber Ihr müsst mit ihm verschwunden sein, bis ich zurück bin. Ihr habt ungefähr zwei Stunden Zeit für eure Flucht, danach werde ich Alarm geben.«
»Und du willst wirklich nicht mit uns fliehen?«
»Nein, Herrin! Seht mich an! Ihr könnt Euch und ihn verkleiden, aber was immer ich mir anziehe, meine Größe und Statur wird mich verraten. Ich werde aussagen, dass Ihr behauptet habt, dass der König Euch die Erlaubnis gab, den Gefangenen zu besuchen. Dass Ihr ihm zur Flucht verhelfen wolltet, konnte ich schließlich nicht ahnen. Ich bin nur ein dummer Wärter, dem es nicht zusteht, solche Gedanken über eine Prinzessin zu hegen.«
Sie reichte ihm die Perlenkette, die blitzschnell in einer Tasche seines Mantels verschwand.
»Warte ein paar Monate, bis du die Kette versetzt!«
»So dumm bin ich nun auch wieder nicht!«, erklärte er grinsend. »Mein Schwager Farges ist reisender Kaufmann. Er wird den Schmuck in einer weit entfernten Stadt verkaufen.«
Er nahm einen großen Schlüsselbund von seinem Gürtel und bedeutete ihr, ihm zu folgen.
Sie gingen durch einen langen Gang tiefer in die unterirdischen Katakomben des Verlieses hinein. Sramar hielt eine Fackel vor sich, während Sara dicht hinter ihm blieb. Mehrmals musste der Kalfaktor den Kopf einziehen, wenn ohne ersichtlichen Grund die Decke niedriger wurde. Die Feuchtigkeit des Gewölbes legte sich schwer auf Saras Lungen, die sich gegen den Modergestank einen Teil ihres Ärmels vor das Gesicht drückte.
Vor einer hölzernen, halbrunden Tür blieb der Wärter stehen. Mit einem Knirschen bewegte der Schlüssel den Schließmechanismus, und die Tür schwang ächzend auf.
Karem lag auf einem verfaulten Strohbündel. Er war wach. Sara konnte sehen, dass die Kälte ihn zittern ließ. Seine Kleider waren zerfetzt. Der größte Teil seines Körpers war mit Schrammen oder verkrusteten Wunden übersät. Das Gesicht war so verschwollen, dass sie Schwierigkeiten hatte, den jungen Mann darin zu erkennen, der ihr vor wenigen Tagen das Leben gerettet hatte. Er blinzelte heftig. Tränen liefen über sein Gesicht, als der Lichtschein der Fackel auf ihn fiel.
Als Sara ihn in seinem erbarmungswürdigen Zustand sah, schnürte es ihr die Kehle zu. Entsetzt wechselte ihr Blick von Karem zu dem Mann, der ihm das alles angetan hatte. Sramar erwiderte diesen Blick ungerührt.
»Wir konntest du nur?«, zischte sie den Kalfaktor böse an.
»Der König gab mir den Befehl.« Es lag kein Bedauern in diesen Worten.
»Scher dich fort!«
Sramar reichte ihr die Fackel. Wortlos drehte er sich um und schlurfte davon.
Sara ging zu Karem hinüber, der verzweifelt versuchte, sich aufzurichten, aber immer wieder auf sein stinkendes Lager zurücksank. Sie kniete sich neben ihn. Ihre Hände fuhren sanft durch sein Haar, während sie weinte.
»Wer ist da?«, krächzte er heiser.
»Ich bin es! Sara, deine Schwester!«
Sein verunstaltetes Gesicht verzog sich zu einem gequälten Lächeln. »Du gibst wohl nie auf?«
»Nein, genau wie du. Das liegt wahrscheinlich in unserer Familie.«
Karem musste husten und spuckte einen Blutklumpen aus. »Ich glaube, dieser Hurensohn hat mir ein paar Rippen gebrochen«, meinte er kühl.
»Karem, wir müssen fliehen! Mein Onkel hat dich zum Tode verurteilt. Du sollst hingerichtet werden.«
Er lachte freudlos. »Meine Belohnung für deine Rettung hatte ich mir anders vorgestellt.«
»Kannst du gehen?«
»Was ist mit dem Wächter?«
»Ich habe ihn bestochen. Mach dir um Sramar keine Gedanken. Viel wichtiger ist, kannst du gehen?«
»Ich denke schon. Hilf mir beim Aufstehen!« Er streckte seine Hand aus, die sie fest packte. Karem schrie schmerzgepeinigt auf, als ihn Sara auf die Beine zog. Keuchend, mit zitternden Gliedern, blieb er schwankend stehen.
»Ich habe dir einen Mantel mitgebracht.« Sie öffnete ein Bündel. »Leg ihn dir um und setz die Kapuze auf.«
Ein brennender Schmerz durchzuckte Karem, als er in die Ärmel des Mantels schlüpfte.
»Geht es?«
Er nickte.
»Stütz dich auf mich!« Sie knickte unter seinem Gewicht ein, als er seinen Arm schwer auf ihre Schulter legte.
Schritt für Schritt brachten sie den langen Gang hinter sich und wirkten dabei wie zwei Betrunkene, die sich nach nächtlichem Trinkgelage auf dem Heimweg befanden.
Heidar stürmte in den Thronsaal, ohne auf die Etikette zu achten. Sein Gesicht, welches das Übergewicht deutlich verriet, war gerötet und er schnaufte kurzatmig.
König Canai, der sich allein im Thronsaal befand, blickte neugierig von dem Kartentisch auf, über den er sich gebeugt und auf einer Landkarte die Grenzen des Reiches eingezeichnet hatte.
»Herr, bitte verzeiht mir, dass ich hier so eindringe. Aber der Gefangene ist aus dem Verlies entkommen. Es sieht so aus, als habe Eure Nichte Karem zur Flucht verholfen, denn auch sie ist verschwunden.«
Canai kreuzte zufrieden die Arme vor der Brust. Er wirkte kein bisschen überrascht.
»Herr?«, fragte Heidar verblüfft nach.
Der König trat zu seinem Berater und legte ihm nachsichtig die Hand auf die Schulter.
»Das weiß ich bereits. Sie hatte Sramar bestochen. Der Kalfaktor kam direkt zu mir und berichtete mir von ihrem Vorhaben.« Canai zog die Perlenkette aus einer Tasche seines Gewandes, die Sara vor wenigen Stunden dem Wärter gegeben hatte.
»Ich verstehe nicht«, gestand Heidar. »Ihr habt sie entkommen lassen?«
»Sieh mal, mein Freund, so schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Hätte ich Karem hinrichten lassen, wäre der Vorwurf laut geworden, ich hätte einen Konkurrenten um den Thron ausgeschaltet. Jetzt frage ich dich, wohin kann Sara mit diesem Burschen fliehen? Wer wird ihr Schutz und Unterschlupf gewähren?«
Heidar zuckte verständnislos die Achseln.
»Natürlich wird sie ihr Weg nach Melwar führen!«, beantwortete sich der König die Frage selbst. »Ihr verräterischer Schwager wird sie mit offenen Armen empfangen. Ronder, dieser Hund, intrigiert seit dem Tod seines Vaters gegen mich. Alle Welt weiß, dass er auf meinen Sturz hinarbeitet. So, und nun betrachten wir die ganze Sache mal aus einem anderen Licht. Ein Dieb und Betrüger flieht. Meine Nichte hilft ihm dabei, und alle beide werden von Ronder aufgenommen. Wirkt das nicht wie eine von Ronder inszenierte Verschwörung, um mich vom Thron zu stoßen? Ja!« Canai hatte seinen Berater losgelassen und schritt nun nachdenklich durch den großen Raum. »So wird es auch der Rat der Fürsten sehen. Endlich habe ich einen Vorwand, gegen Ronder vorzugehen.«
Geschmeidig wandte er sich um. Seine Faust knallte in die offene Handfläche. Sein fanatischer Blick bohrte sich in Heidars Augen.
»Ruf die Generäle zusammen. Sie sollen einen Plan für den Angriff auf Melwar entwerfen!«