4.

 

Es war ein ungewöhnlich heißer Tag. Die Sonne brannte auf Karem herab, dessen Gesicht inzwischen durch eine Unzahl von Insektenbissen bis zur Unkenntlichkeit aufgequollen war.

Seine Lippen waren blutig gebissen und begannen nun, in der Hitze aufzuplatzen. Obwohl es heiß war, fror es ihn erbärmlich. Sein Kopf glühte, während sein Körper von Schüttelfrost geplagt wurde.

Karem, inzwischen halbverrückt, begann zu kichern. Er hatte erst eine Nacht und noch nicht einmal den ersten Tag zur Hälfte hinter sich, und er wünschte sich schon jetzt zu sterben. Er würde die ganze Strafe niemals durchstehen. Ab jetzt gab es nur noch ein unbarmherziges Warten auf den Tod.

Am Morgen war einer der anderen Sklaven gekommen und hatte die Wasserschale geleert, in der tote Insekten schwammen. Frisches Wasser wurde eingefüllt und ihm direkt wieder vor die Nase gestellt. Karem glaubte inzwischen, das Wasser sogar riechen zu können. Er hatte unsagbaren Durst. Ohne dass er es bemerkte, fuhr seine angeschwollene Zunge wie bei einer Eidechse zwischen seinen aufgesprungenen Lippen hervor und führte Leckbewegungen aus.

Karem bot einen erbärmlichen Anblick.

Für einen kurzen Moment wurde sein Geist klar und er blinzelte gegen die Sonne an, um Muran zu erkennen. Der Aufseher hatte Glück, noch schien ihm die Sonne nicht direkt ins Gesicht; das würde erst ab der Mittagszeit so weit sein, doch sein kahler Schädel glänzte schon jetzt feuerrot.

Karem sah, dass ihn Muran noch immer anstarrte. Seine Augen bewegten sich nicht, nicht einmal die Lider zuckten. Vielleicht war er schon tot. Letzte Nacht hatte Muran erst spät begonnen zu schreien, aber nachdem ihn sechs Stunden lang Unmengen von Insekten geplagt hatten, war auch sein Wille gebrochen, und er hatte vor Wut gebrüllt, aber auch gejammert wie ein kleines Kind. Nun aber schwieg er.

»Lebst du noch?«, krächzte Karem hinüber.

Für einen kurzen Moment rollten Murans Augen, dann wurde sein Blick wieder starr. Er war also noch nicht tot.

Karem begann zu begreifen, dass der körperliche Aspekt dieser Folter nicht das Schlimmste war. Er musste es irgendwie schaffen, seinen Geist über die drei Tage und drei Nächte zu retten oder er würde wahnsinnig werden und entweder als Toter oder aber als Greis dieses Loch verlassen. Er ließ seine Gedanken zurück in die Vergangenheit wandern, durchlebte Momente seines Lebens auf Thuur. Sein Geist floh in diese andere Welt, und Karem war wieder mit seinem Vater, seiner Mutter, Marga und Gram zusammen.

 

Varania stand am Fenster im ersten Stock der Villa und starrte auf die beiden Köpfe herab, die unten im Hof im Sand steckten. Es war ein bizarrer Anblick. Fast konnte man meinen, die Schädel besaßen keinen Körper und schwebten über dem Sand.

Sie wusste nicht, ob sie Mitleid mit Karem empfinden sollte, sie wusste nur, dass sie ihn begehrte, mehr begehrte als irgendetwas anderes in ihrem Leben. Muran war ihr völlig egal, aber sie begann darüber nachzudenken, wie sie Karem helfen konnte.

Er durfte nicht sterben, bevor sie nicht von ihm bekommen hatte, wonach es ihr verlangte.

Spät in der folgenden Nacht schlich Varania hinunter. Sie hatte feuchte Lappen, einen Schlauch mit Trinkwasser und eine heilende Salbe dabei.

In der großen Villa herrschte Stille, als sie durch den Vorraum ging. Ihre Sandalen hatte sie ausgezogen, um auf dem marmornen Fußboden keine Geräusche zu verursachen.

Leise öffnete sie die mit Schnitzereien verzierte Holztür einen Spalt und huschte hinaus in die Dunkelheit. Diesmal beleuchteten keine Fackeln die Gesichter der Gequälten. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass die Fackeln gelöscht wurden, damit die Nachtruhe ungestört verbracht werden konnte, und Farcellus hatte ohne Widerstand nachgegeben. Ihn plagten andere Sorgen.

Das fahle Licht des Halbmondes erleuchtete den Hof. Die beiden Köpfe der Gefangenen wirkten wie schwarze Perlen auf einem erdfarbenen Tuch.

Varania lauschte kurz, bevor sie den Schatten des Vordaches verließ. Karem schien zu schlafen. Seine Augen waren geschlossen und er atmete flach. Trotz der Düsternis erkannte sie die Entstellungen in seinem Gesicht.

Sie musste mehrfach seinen Namen flüstern, bis er endlich die Augen öffnete und sie verständnislos anstarrte.

»Marga? Marga, was tust du hier?« Seine Stimme klang wie Eisen, das über einen Stein gerieben wird.

»Still, Karem! Ich bin es! Varania!«

Aber er weilte in einer anderen Welt und erkannte sie nicht. Während er leise vor sich hinmurmelte und immer wieder den Namen ‘Marga’ benutzte, wusch sie sein Gesicht mit dem feuchten Lappen ab.

Sie hielt ihm den Wasserschlauch an die Lippen, aber Karem sprach weiter vor sich hin, bis er bemerkte, dass ihm jemand zu trinken gab. Wie ein Besessener biss er in das Ziegenleder und begann, zu saugen wie ein kleines Kind. Varania liefen die Tränen über die Wangen, ohne dass sie es bemerkte.

Als er genug getrunken hatte, klärte sich sein Blick.

»Varania!«, seufzte er leise. Seine Augen flehten sie an, ihn aus dem Loch zu holen, aber er sagte nichts weiter. Sie nahm den Salbentiegel und begann, sein Gesicht einzuschmieren. Überall war die Haut geplatzt und schälte sich nun in großen Streifen vom Fleisch. Er stöhnte, und sie flüsterte ihm erneut zu, er möge leise sein.

»Danke!«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Sie wollte sich gerade abwenden und gehen, als Karems Blick sie festhielt.

»Bitte geh zu Muran, und gib ihm Wasser!«, flüsterte er eindringlich.

Sie schüttelte wild den Kopf. Für eine Nacht hatte sie genug riskiert.

»Bitte!«, wiederholte er, aber da verschwand sie schon im Schatten der Veranda.

 

Karem konnte später nicht mehr sagen, wie er die zwei folgenden Tage und die letzte Nacht durchgestanden hatte. Die meiste Zeit hatte sich sein Geist in eine Traumwelt geflüchtet, aus der er nur zurückkehrte, als Varania noch einmal erschien und ihm zu trinken gab.

Diesmal ließ sie sich dazu herab und gab auch Muran Wasser, der inzwischen halbverdurstet war und ohne Unterbrechung verständnisloses Zeug vor sich hinplapperte. Selbst als ihm der Wasserschlauch an die Lippen gesetzt wurde, hörte er nicht auf zu reden, und so tränkte ein Großteil des Wassers den Sand.

Murans Gesicht hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen. Die alten Narben hatten sich rot verfärbt, während der Rest seines Gesichtes fast schwarz wirkte. Karem ging es durch die heilende Salbe besser, aber auch er litt unter seinen schweren Verbrennungen.

Varania hatte etwas zu essen mitgebracht und versuchte, ihn zu füttern, aber erbrach sofort alles wieder. Hastig scharrte sie die Essensreste zusammen und warf sie unter eine Zierhecke.

Als sie zurückkam, war Karem ohnmächtig geworden. Sie betrachtete für einen Moment sein vom bleichen Mondlicht erhelltes Gesicht, dann verschwand sie wieder im Haus.

Karem wurde am Abend des dritten Tages von seinen Qualen befreit. Drei Sklaven gruben ihn unter Farcellus Aufsicht aus. Er war bei Bewusstsein, nahm aber seine Umgebung nur noch durch einen grauen Schleier wahr. Sie mussten ihn stützen, seine Beine waren nicht mehr in der Lage, sein Gewicht zu tragen.

Überall an seinem Körper waren rote Pusteln zu sehen, wo ihn Sandflöhe und Rohrwürmer geplagt hatten. Sein Gesicht war aufgedunsen und dunkelrot verfärbt.

Farcellus trat näher und hob mit der Hand das Kinn des jungen Sklaven an. Karem grinste wie ein Verrückter und begann zu sabbern.

»Schafft ihn in die Unterkunft. Der alte Drulla soll ihn waschen und seine Wunden versorgen.«

Einer der Sklaven, sein Name war Damas, wagte zu fragen: »Was ist mit Muran, Herr?«

Der Römer wandte sich nicht einmal um.

»Der bleibt, wo er ist«, antwortete er und ging zurück in die Kühle des Hauses.

Muran, der Aufseher, starb in der darauffolgenden Nacht.

 

 

 

Zwei Tage und zwei Nächte packte Karem das Rüttelfieber. Drulla wusch seinen geschundenen Körper, wickelte in Öl getauchte Bandagen um die offenen Stellen und flößte ihm Wasser und Nahrung ein.

Dann endlich war es geschafft. Karem war über den Berg. Sein junger Organismus schöpfte neue Kraft und überwand das Fieber.

 

Am dritten Tag wagte er es zum ersten Mal, von seinem Lager aufzustehen. Drulla musste sich bei ihm unterhaken, damit er nicht stürzte.

Wie ein Kleinkind, das die ersten Gehversuche übte, stolperte er über die eigenen Füße, aber schließlich schaffte er es, zwar bis zum Äußersten erschöpft, aber doch ohne Hilfe, den Raum zu durchqueren.

Drulla erzählte ihm erst jetzt, dass Muran gestorben war. Als Karem die Nachricht hörte, konnte er keine Freude, sondern nur Mitleid für den Aufseher empfinden. Niemand, kein Mensch, hatte es verdient, in einem Loch zu sterben.

Schließlich schob er auch diesen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf seine Genesung.

Als er zum ersten Mal seit einer Woche wieder zur Laufgrube gehen und den Ork besuchen konnte, liefen ihm Tränen über die Wangen.

Drulla hatte ihm aus einem großen Ast eine Krücke geschnitzt, mit deren Hilfe er sich mühsam den langen Weg entlang schleppte, bis er schwitzend am Rand der Grube stand und in die Laufspur hinabklettern konnte.

Crom war außer sich vor Freude. Er schob den quer stehenden Holzbalken mit solcher Wucht an, dass die ganze Konstruktion ächzte. Endlich standen sie sich gegenüber. Die roten Augen des Orks musterten den jungen Mann, sahen die erlittenen Qualen und den geschundenen Körper. Er hob seine mächtige Pranke und legte sie sanft auf Karems Schulter. Die großen Kettenglieder rasselten, als er mit seinen breiten Fingern über Karems Haar fuhr.

»Ich habe dich vermisst, mein Freund«, brummelte er gutmütig.

Karem lächelte. »Ich habe dich auch vermisst.«

»Du viele Schmerzen tragen?«, fragte der Ork und brachte wie stets, wenn er aufgeregt war, die Wörter durcheinander. Durch die Gespräche mit Karem hatten sich seine Sprachfähigkeiten stark verbessert, aber noch immer fiel er oft in das Kauderwelsch seiner Kindheit zurück.

»Crom!«, meinte Karem vorwurfsvoll und lachte dabei. »Sag mir, warum ich mir all die vielen Stunden Mühe gegeben habe, dir unsere Sprache beizubringen, wenn du jetzt wieder wie ein altes, zahnloses Orkweib daherplapperst.«

Croms Oberlippe entblößte sich. Auch er lächelte. Seine große Pranke hob sich nur wenige Zentimeter, bevor sie wieder auf Karems Schulter niederklatschte. Karem sackte fast zusammen.

»Aber meine Kraft ist nicht die eines alten Weibes.«

»Da hast du ausnahmsweise recht!«, ächzte Karem.

»Wo ist mein Essen?«

»Drulla bringt es. Er hat mir erzählt, dass du dich die ganze Zeit geweigert hast, Nahrung zu dir zu nehmen.«

»Essen war nicht gut. Schmeckt mir nicht!«, scherzte der Ork.

»Und du glaubst, heute magst du es?«

Crom packte Karem mit beiden Pranken und hob ihn hoch, bis dessen Füße in der Luft strampelten.

»Ich bin mir sicher!«, lachte das Riesenwesen dröhnend.

 

 

Das Flüstern des Windes
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