3.
Als die Dämmerung im Tal die Schatten länger werden ließ, beendete Karem seine Arbeit und machte sich auf den Weg zur Küche, um für Crom die Abfälle zu holen.
Trotz des Vorfalls mit Farcellus’ Tochter war er gutgelaunt und pfiff eine kleine Melodie, als er den Fresseimer zur Grube schleppte. Zu seinem Erstaunen fand er Muran dort vor. Er hatte geglaubt, dass der Aufseher noch mit Farcellus unterwegs war, aber anscheinend war die Sache schneller als geplant gelaufen und die beiden waren schon zurück.
Obwohl der Aufseher ihm den Rücken zuwandte, erkannte Karem schon an seiner gespannten Körperhaltung, dass Muran außer sich vor Wut war. Jetzt entdeckte er auch die grausame Peitsche mit den eingeflochtenen Metalldornen in dessen geballter Faust. Muran schrie den Ork an, der in seiner eigenen Sprache zurückbrüllte. Karem hatte keine Ahnung, was vorgefallen war. Erst vor kurzem hatte Crom begonnen, ihm die Sprache der Orks beizubringen, und außer ein paar einfachen Wörtern verstand er noch nichts.
Plötzlich hob Muran die Peitsche und ließ sie auf den Ork niedersausen. Ein durchdringender, für ein so großes Wesen unglaublich hoher Schmerzensschrei, erklang aus der Grube.
Ohne zu überlegen, stürzte Karem nach vorn und entriss dem Aufseher die Peitsche. Murans kahl rasierter Schädel ruckte herum. Seine dunklen Augen fixierten Karem unbarmherzig.
»Gib mir sofort die Peitsche wieder!«, zischte er.
Obwohl Karem nun bewusst wurde, was er getan hatte, erfasste ihn eine vollkommene Ruhe.
»Nein, Muran. Du wirst den Ork nie wieder schlagen!«
Murans Gesicht nahm einen bösartigen Gesichtsausdruck an. Karem kannte diesen Ausdruck. Der Aufseher hatte ihm soeben ohne Worte unendliche Qualen versprochen. Von nun an war es egal, ob er ihm die Peitsche zurückgab oder nicht. Muran würde ihn auf jeden Fall bestrafen.
»Das war ein Fehler, mein Junge. Du denkst, du bist groß und stark und kannst es schon mit dem alten Muran aufnehmen, aber soweit bist du noch nicht. Ich werde dir jetzt eine Lehre erteilen, die du dein Leben lang nicht vergisst.«
Ohne weiteres Zögern sprang Muran nach vorn. Seine große Faust krachte in Karems Gesicht, der zu Boden geworfen wurde. Blut schoss aus seiner gebrochenen Nase, während der jahrelange angestaute Hass ausbrach. Schon einmal hatte ihn der Aufseher, damals war er noch ein Kind gewesen, ohne Vorwarnung brutal niedergeschlagen, aber diesmal lag kein weinender Knabe im Staub, sondern ein kräftiger, junger Mann, der bereit war, sich zu verteidigen.
Muran trat nach ihm. Karems Hände schossen hoch, packten den Fuß und wirbelten ihn herum. Nun lag der Aufseher am Boden.
Karem warf sich auf ihn. Ohne zu zielen, ließ er seine Fäuste fliegen. Unter seinen Schlägen brach Murans Jochbein. Plötzlich durchfuhr Karem ein greller Schmerz. Muran hatte sein Knie hochgezogen und ihm in den Unterleib gerammt. Karem ließ sich von dem Aufseher herunterfallen. Beide kamen gleichzeitig wieder auf die Beine.
Muran wischte sich ärgerlich das eigene Blut, das aus seiner geplatzten Oberlippe floss, aus dem Gesicht. Seine Augen lauerten auf eine neue Möglichkeit anzugreifen. Karem hatte eine Hand auf seinen Unterleib gelegt. Nur langsam ließ der Schmerz nach.
Beide umkreisten einander wie wilde Tiere. Diesmal war es Karem, der zuerst zuschlug. Seine Faust donnerte gegen Murans Schläfe, der zurücktaumelte. Als Karem nachsetzen wollte, schlug der Aufseher einen Körperhaken, der alle Luft aus seinen Lungen entweichen ließ.
Karem schaffte es, seinen Oberkörper zu drehen, so dass Murans nächster Schlag ins Leere ging. Noch während der Ausweichbewegung riss Karem den Ellenbogen hoch, traf aber Muran nur seitlich am Hals.
Andere Sklaven kamen aus den Unterkünften herbeigestürmt und feuerten die Kämpfer an, die unermüdlich aufeinander eindroschen. Beide bluteten aus unzähligen Platzwunden, hatten Brüche und schwere Prellungen, aber keiner gab nach. Der blanke Hass hielt sie aufrecht.
Karem gelang es, einen schweren Schlag gegen Murans Kiefer zu landen, wurde aber gleichzeitig von Murans Fußtritt gegen sein Knie aus dem Gleichgewicht gebracht.
Taumelnd kamen sie beide wieder auf die Füße. Ihre Arme hingen schwer herunter, während das wilde Schreien der Zuschauer in ihren Ohren dröhnte.
Plötzlich knallte ein Peitschenschlag auf Karems Rücken nieder. Er wandte sich langsam um und blickte in Farcellus Augen, die ihn ruhig musterten. Auch Muran hatte den Römer jetzt bemerkt. Erschöpft ließ er sich auf die Knie sinken.
»Was ist hier los?«, fragte Farcellus.
Muran deutete mit einer Hand auf Karem. »Dieser Sklave hat mich angegriffen, Herr.«
»Stimmt das, Karem?«
»Nein, Herr.«
»Herr ...«, rief Muran, aber Farcellus gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen.
»Karem?«
»Muran hat den Ork geschlagen!« Er deutete auf die Peitsche, die am Rand der Grube im Staub lag. Der Ork stand aufrecht hinter seinem Holzbalken und beobachtete das Geschehen. Seine Augen blickten hasserfüllt, während ihm aus einer offenen Stirnwunde Blut über das Gesicht floss.
Farcellus ging zur Grube und hob die Peitsche auf. Seine Finger befühlten die in das Leder eingeflochtenen Metallsplitter. Als er zurückkam, wirkte seine Miene bedrohlich. Seine Hand hob sich und die Peitsche klatschte auf Murans nackten Rücken herunter.
»Damit schlägst du den Ork, Muran!«, brüllte er aufgebracht. »Dieses Vieh hat mich zweihundert Goldtalir gekostet, dein eigenes erbärmliches Leben ist nicht einmal einen Bruchteil davon wert.«
»Herr ...«, flehte Muran. Wieder fuhr die Peitsche auf ihn herab und hinterließ eine blutige Spur, die von Murans Nacken bis zu den Hüften reichte.
»Schweig, oder ich schlage dich tot!« Farcellus wandte sich nun an Karem. »Junge, du bist ein guter Arbeiter, und seitdem du dich um den Ork kümmerst, gibt es keine Probleme mehr mit ihm. Trotzdem kann ich nicht zulassen, dass du meinen Aufseher schlägst, selbst wenn du dich nur verteidigen wolltest. Du hättest zu mir kommen und mir von dem Vorfall berichten sollen. Ihr beide tragt einen Teil der Schuld, deshalb werdet ihr beide bestraft werden. Drei Tage und drei Nächte sollt ihr im Omrakischen Bad leiden. Die Strafe wird sofort vollzogen!« Farcellus wandte sich an die schweigend herumstehenden Sklaven, die eingeschüchtert zu Boden starrten. »Und ihr anderen verschwindet in eure Unterkünfte. Sollte ich erfahren, dass einer von euch einem der beiden während dieser drei Tage etwas zu essen oder zu trinken gibt, erwartet ihn das gleiche Schicksal.«
Muran hatte sich erhoben. Einen Augenblick lang loderte Wut in seinen Augen auf, und Karem dachte schon, er würde sich wieder auf ihn stürzen, aber dann sah er, dass der Hass nicht ihm, sondern dem Römer galt.
Farcellus bemerkte den Blick. Ein freudloses Lächeln überzog sein Gesicht. »Muran, ich hoffe, dein Hass wird dir die Kraft zu leben geben, denn nun wirst du eine Woche in dem Loch verbringen.«
Mitten auf dem Hof wurden zwei Löcher gegraben, die ungefähr einen Abstand von drei Metern zueinander hatten.
Karem und Muran mussten sich, an Händen und Füßen gefesselt, die Gesichter einander zugewandt, jeder in eines der Löcher stellen, dann wurden sie bis zum Hals eingegraben. Die Erde wurde festgestampft, bis sie außer dem Kopf nichts mehr bewegen konnten.
Vor jedem der Beiden wurde, gerade außerhalb der Reichweite ihrer Münder, eine flache Schale Wasser gestellt. Neben ihren Köpfen wurden brennende Fackeln in den Boden gerammt.
Karem konnte sich nicht vorstellen, warum Farcellus nicht wollte, dass sie die hereinbrechende Nacht im Dunklen verbringen sollten, aber sehr bald wurde ihm klar, dass die Fackeln kein Freundschaftsdienst waren.
Als alle anderen Sklaven gegangen waren, kam Farcellus. Muran und Karem mussten die Augen nach oben verdrehen, um ihn sehen zu können.
»Ihr habt nun Gelegenheit, euch anzustarren und auszuloten, wie groß euer Hass aufeinander ist. Vielleicht hält dieser Hass euch am Leben, vielleicht zerbricht er euch. Wir werden sehen!«
Mit diesen Worten wandte er sich um und schritt zurück ins Haus.
Murans Gesicht wurde von den brennenden Fackeln gespenstisch erleuchtet. Die flackernden Schatten verzerrten seine Miene, bis er wie ein Dämon aus Thorams Hölle wirkte. Die Augen des Aufsehers starrten Karem an.
»Ich werde dich töten!«, zischte er leise.
Karem antwortete nicht. Er wich Murans Blicken aus und konzentrierte sich aufs Überleben. Drei Tage und drei Nächte ohne Essen und Trinken musste er durchstehen. Obwohl er nur ein Sklave war und ein erbärmliches, hartes Leben führte, hing er daran. Die Freundschaft zu dem Ork hatte ihm Selbstvertrauen und neue Hoffnung gegeben, aber nun lag die schlimmste Prüfung seines jungen Lebens vor ihm.
Er grübelte noch immer über den Sinn der Fackeln nach. Karem dachte sich, dass die Strafe bestimmt härter wäre, wenn sie die Nacht in Dunkelheit verbringen müssten, denn Murans Blicken konnte er ausweichen, indem er einfach die Augen schloss.
Plötzlich zischte die Flamme der Fackel und etwas fiel neben seinem Gesicht zu Boden. Er verdrehte den Kopf so gut er konnte. Ein großes Insekt war in die Fackel geflogen, und der Gestank des verbrannten Körpers drang ihm unangenehm in die Nase.
Seltsamerweise schien sich auf einmal der Boden bewegen. Karem dachte erst an eine Sinnestäuschung, aber dann wurde ihm klar, dass unzählige Insekten, angezogen durch den Lichtschein der Fackel, auf ihn zukrochen.
Ein fingerlanger Tausendfüßler kam als Erstes heran. Karem hatte ihn, solange er konnte, beobachtet und versucht, das Kerbtier durch Anpusten und Spucken zu vertreiben, aber unbeirrt hielt das Tier auf ihn zu und verschwand schließlich aus seinem Blickfeld.
Entsetzt musste er feststellen, dass ihm das Insekt den Hals hinaufkroch, um den Spiegelungen des Lichtscheins auf seinem Gesicht näher zu kommen.
Der Tausendfüßler krabbelte über seine Nase, als Karem zu schreien begann.
Die Nacht war fast vorüber, als Karems heisere Schreie verstummten. Adesthe, Farcellus Gattin, wälzte sich im Halbschlaf im Bett herum. Nur schwer hatte sie überhaupt Schlaf gefunden, die Schreie waren bis in ihr Schlafgemach gedrungen und nun, da die Schreie endlich verstummten, weckte sie die Stille.
Das erste Licht des neuen Tages erschien hinter den Talwänden als flammendes Banner der Morgengötter. Sie erhob sich vorsichtig, bemerkte aber sofort, dass diese Rücksichtsnahme unnötig war, ihr Gatte war ebenfalls wach geworden.
»Kannst du nicht mehr schlafen, Adesthe?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte sie. »Die Hitze der Nacht und diese Schreie, nein, an Schlaf war nicht zu denken.«
»Sie werden bald aufhören zu schreien. Wenn die Hitze des Tages ihre Kehlen austrocknet, bleibt keine Kraft mehr.«
»Musstest du sie so hart bestrafen?«
»Ja.« Einen Augenblick schwieg er, sprach dann aber weiter. »Wir leben auf einem abgelegenen Gut, fern der nächsten Legionskaserne und sind nur vier Römer, denen über fünfzig Sklaven gegenüberstehen, die uns die Kehle zerreißen würden, wenn sie nur könnten. Angst und Qualen sind unser Schutz vor der Macht des Pöbels.«
Adesthe stand auf, trat vor einen mannshohen, aus poliertem Silber bestehenden Spiegel und begann, ihr langes, dunkles Haar zu bürsten, das sie im Gegensatz zum Tag jetzt offen trug.
Das Morgenlicht ließ ihre Körperformen durch den hauchdünnen Stoff ihres Nachtgewandes schimmern, und Farcellus dankte in Gedanken nicht zum ersten Mal den Göttern für diese Frau. Er liebte diese Augenblicke ihres gemeinsamen Lebens, wenn vertraute Bewegungen und Geräusche Harmonie in seinem Dasein schufen.
»Wir müssen uns wegen des Sklaven Karem unterhalten«, riss ihn Adesthe aus seiner Betrachtung.
»Wieso?«, fragte er überrascht.
»Ist dir noch nicht aufgefallen, welche Blicke unsere Tochter ihm zuwirft?«
»Varania?« Für ihn war sie noch immer das kleine Mädchen, das er früher auf dem Arm herumgetragen hatte. Dass sie nun eine junge, aufblühende Frau mit den Gefühlen der Jugend sein sollte, war ihm schlichtweg entgangen.
»Ja, Varania«, bestätigte seine Gattin. »Ständig schleicht sie um ihn herum und gestern, während du bei Drevus gewesen bist, habe ich sie beobachtet, wie sie zu ihm auf den Südhang gestiegen ist.«
Farcellus sprang erschrocken auf. »Du meinst doch nicht ...?«
Ihr helles Lachen beruhigte ihn. »Nein, soweit ist es noch nicht. Ich denke dieser Karem ist klug genug zu wissen, was ihm angetan wird, sollte er deine Tochter berühren. Aber Varania ist ein außergewöhnlich schönes Mädchen, irgendwann einmal könnte er schwach werden.«
»Was schlägst du vor?« Farcellus hatte gelernt, in privaten Dingen dem kühlen Verstand seiner Frau zu vertrauen.
»Verheirate Varania mit einem jungen, adligen Römer; Bewerber gibt es genug, und ihre Glut wird dir viele Enkelkinder bescheren.«
»Meinst du wirklich? Ist sie nicht noch zu jung?«
»Ich selbst war zwei Jahre jünger, als du mich zu deiner Gattin erwählt hast.«
Er nickte stumm.
»Gut, bitte triff die Vorbereitungen.«
Farcellus trat leise näher. Seine Hände fuhren ihren noch immer straffen Körper hoch und umfassten ihre vollen Brüste. Als er mit den Fingern sanft über die sich aufrichtenden Spitzen strich, seufzte sie erregt.
»Komm zurück ins Bett, Adesthe.«
Lächelnd befreite sie sich von ihm. Als er den Ernst in ihren Augen entdeckte, zerstörte sie seine aufkommende Erregung.
»Mein Gatte, es gibt noch etwas, über das wir sprechen müssen.«
»Was?«, fragte er nun misstrauisch.
»Unser Sohn Luvon verkehrt mit den falschen Leuten. Er und sein verrückter General sprechen inzwischen offen von Rebellion. Leanda, die Schwester eines der kaiserlichen Prätorianer, hat mich heimlich gewarnt, dass dieser Unfug in Rom nicht unbemerkt geblieben ist. Der Imperator ist sehr erzürnt und plant eine Strafaktion.«
Aus Farcellus’ Gesicht war jede Farbe gewichen.
»Aber Luvon ist doch nicht mehr in der Legion.«
»Trotzdem ist sein Name am kaiserlichen Hof nicht unbekannt.« Ihre schmalen Hände umfassten seine breiten Hände. »Farcellus, ich habe Angst um unseren Sohn. Was wird geschehen, wenn ihn Cassius III. des Verrats bezichtigt?«
»Er wird seine Unschuld vor dem Senat beweisen müssen. Kann er das nicht, wird er hingerichtet.«
»Oh, nein!«
»Mach dir keine Sorgen, Adesthe. Ich spreche noch heute mit ihm. Sollte die Lage sich weiter zuspitzen, schicke ich ihn nach Omrak oder Thuur.«
Sie hauchte dankbar einen Kuss auf seine Wange. Die erloschen geglaubte Erregung flammte wieder auf, und er zog sie auf das gemeinsame Ehebett.
Als sie protestieren wollte, verschloss er ihren Mund mit seinen Küssen.