Siebenunddreissig

Der Fall stand immer noch auf wackeligen Beinen, aber sie zogen es durch.

Bat bestand darauf, dass er mehr Verbandsmaterial als Tallow abbekommen hatte, weil er die schlimmeren Verletzungen davongetragen hatte. Als man ihn in aller Schärfe informierte, dass auch Tallows Wade eingewickelt war, dass seine Hände aus schleierhaften Gründen gequetscht waren, dass seine halbe Schulter von schwarzen Prellungen und Verbrennungen überzogen war und dass er aussah, als hätte man ihm die gesamte Ladung einer Nagelpistole ins Gesicht geschossen, meckerte Bat rum, dass der Fick-dich-Roboter aus Tallows Apartment gestohlen worden sei, und fügte mit besonders giftiger Stimme hinzu, das sonstige Inventar des Apartments sei offenbar absolut wertlos, da darüber hinaus nichts entwendet worden sei.

»Was sind Sie denn für einer? Ein Autist?«, fragte Tallow, woraufhin Scarly lachte und Bat ihn aufforderte, ihn nie wieder mit seinem Schwachsinn zu behelligen.

Nun, da fünf Tage vergangen waren, seit Tallow seinen Wagen in die Rückseite der Gruft gesetzt hatte, war Assistant Chief Al Turkel offiziell beurlaubt – nach außen hin wegen des Verlusts eines seiner ältesten und besten Freunde: Jason Westover, der unter tragischen Umständen mit seiner geliebten Frau Emily aus dem Leben geschieden war. Ein gemeinsam geplanter Mord beziehungsweise Selbstmord in der besseren Gesellschaft, und noch dazu im Aer Keep! Angesichts eines solchen Trauerfalls hatte Turkel erklärt, könne er seinen Dienst unmöglich ausüben.

Inoffiziell hatte Turkel zwei nervenaufreibende Tage lang nicht nachgegeben. Er hatte nicht geahnt, dass Tallow mit dem Jäger ins Krankenhaus Beth Israel gefahren war und seine eigene Behandlung hinausgezögert hatte, bis sich ein Arzt bereit erklärt hatte, den Wichser schleunigst mit Neuroleptika vollzupumpen. Zwei Tage später hatte der Jäger angefangen, halbwegs sinnvolles Zeug von sich zu geben, und den begleitenden Officers erklärt, dass er den Schlüssel und die Dienstmarke von seinem guten Freund Al Turkel habe.

Tallow hatte sich an das Team gehängt, das die weniger frequentierten Kellerregionen der Gruft erforschen sollte. Wie sich herausstellte, hatten die Mitarbeiter ein informelles System entwickelt, das es müden Cops ermöglichte, sich zwischen anstrengenden Schichten in einer leer stehenden Zelle abseits des hauptsächlichen Gefängnisbetriebs aufs Ohr zu hauen. Es kränkte Tallow nur ein bisschen, dass ihm niemand davon erzählt hatte.

Nach einer dreistündigen Suchaktion (eine Tortur für Tallows rechtes Bein) hatten sie eine Zelle tief in den Eingeweiden der Anlage aufgestöbert, die offenbar häufiger besucht wurde. An den Wänden fanden sie Muster in Fingerfarbe – Wirbel. Scarly glich die Farbe mit den Spuren aus der Pearl Street ab, und die Jagd war eröffnet.

Plötzlich fing Turkel an, um sein Leben zu reden. Er erklärte, man habe ihn mit vorgehaltener Waffe gezwungen, das Abzeichen eines toten Detectives ohne Hinterbliebene und einen Schlüssel an den Jäger auszuhändigen, damit dieser eine Zelle am Grund der Gruft als Unterschlupf benutzen konnte. Tallow dachte sich, dass der Jäger es sehr genossen haben dürfte, sich so nah am versunkenen Werpoes zu verstecken. Nachts hatte er sich vermutlich einreden können, er säße mitten im Dorf in einem Tipi oder so.

Machen, der den Stein versehentlich ins Rollen gebracht hatte, war längst weg – eine gute Stunde nach dem Treffen im Central Park hatte er sich in ein Flugzeug nach Mexiko gesetzt. Sein gegenwärtiger Aufenthaltsort war genauso fraglich wie der Verbleib eines beträchtlichen Teils der Geldmittel Vivicys. Tallow glaubte kaum, dass er Andrew Machen jemals wiedersehen würde.

Als der Jäger weiterredete, brachen Turkels Geschichten zusammen. Er redete wie ein Mann, der seit langen Jahren mit niemandem mehr gesprochen hatte und nun entschlossen war, das Versäumte in möglichst kurzer Zeit aufzuholen. Tallow, Scarly und Bat konnten Beweise liefern, die seine Aussagen stützten, und so erfand man das Märchen mit der Beurlaubung und stellte Turkel praktisch unter Hausarrest.

Heute lag der Fall nicht mehr in Tallows Händen. Er war in den exklusiven Olymp des One PP entfleucht, wo die Polizeigötter über den korrekten Umgang mit den Geschäften törichter Sterblicher und hinkender Detectives berieten.

Eigentlich sollte Tallow im Büro der Lieutenant am Ericsson Place antreten, um sich offiziell in einen siebentägigen Urlaub zu verabschieden; in einen Urlaub, aus dem er auch ganz bestimmt zurückkehren durfte, wie man ihm versichert hatte. Doch stattdessen parkte er seinen neuen Wagen – ihm war der Wagen neu, aber er fuhr sich wie das Gefährt der Familie Feuerstein – in der Baxter Street und lief rüber zur Gruft.

»Arschloch«, murmelte ein Sergeant, als Tallow sich anmeldete.

»Wo ist er?«, fragte Tallow. »Da, wo er bisher war?«

»Keine Ahnung, wen du meinst, Kumpel.«

Tallow seufzte und warf einen Blick auf das Namensschild des Sergeants. »Auch gut. Wenn die First Deputy Commissioner später nachfragt, wie es in der Gruft heute so läuft, werde ich Sie mit Sicherheit erwähnen.«

»Wichser«, zischte der Sergeant. »Ja, er ist immer noch da, wo er vorher war. Ist grad zurück vom Gericht. Arschloch.«

»Danke, Sarge.« Tallow strahlte ihn an und hinkte davon.

Der Jäger lag allein in einer Untersuchungszelle und las ein Buch. Was die Körperhaltung anging, hatte er wenig Alternativen – seine Krücken lehnten neben dem Bett, seine Beine waren weitgehend eingegipst, er trug eine Halskrause und ein Stützkorsett. In der Notfallambulanz hatten sie Tallow gesagt, dass der Jäger in Anbetracht der Umstände noch glimpflich davongekommen sei; die meisten Verletzungen habe er durch den Flug durch die Tür und nicht durch die Kollision mit der Motorhaube davongetragen, da die Wände einen Großteil der Bewegungsenergie des Wagens abgefangen hätten. Jemand hatte dem Jäger Teile eines billigen Anzugs angezogen. Die Schuhe hatte er wieder ausgezogen.

»Hallo, Detective«, sagte der Jäger. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich nicht aufstehe. Dazu bin ich im Moment nur mithilfe zweier weiterer Personen in der Lage.«

»Hallo.« Irgendwie brachte es Tallow immer noch nicht über sich, den Namen des Jägers zu gebrauchen. Dadurch hätte er ihn nur kleiner gemacht, als er war, und das wollte er nicht.

»Ich war eben im Gericht«, meinte der Jäger, ohne von seinem Buch aufzublicken. »Wie es aussieht, habe ich noch ein langes, produktives Leben vor mir.«

»Ich habe davon gehört«, meinte Tallow. Der Deal stand bereits: Als Lohn für die Kooperation des Jägers und um sich das Gefeilsche um die verzwickte Frage zu ersparen, ob man einen nie therapierten Schizophrenen für Verbrechen verantwortlich machen konnte, die er über zwanzig Jahre hinweg begangen hatte, beließ man es bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Bewährung in einem Hochsicherheitsgefängnis, wahrscheinlich in Sing Sing.

»Also.« Der Jäger starrte weiter in sein Buch. »Was machen wir heute? Noch mehr Fragen?«

»Nur eine Frage«, sagte Tallow. »Was sollten die Waffen an den Wänden? War das Wampum?«

Die Augen des Jägers schnellten zu Tallow. Er war hocherfreut. »Wampum! Sie wussten es!«

»Ein Wampum-Gürtel, der sich um das gesamte Apartment legen sollte?«

»Nicht ganz, Detective, aber fast. Es war Wampum. Und Wampum ist Information. Genau wie Kunst, wie ein Lied, wie Musik und Tanz … alles Information. Sie können es sich wie eine Riesenmaschine vorstellen – ich kann es mir jedenfalls sehr gut vorstellen, dank der ganzen Medikamente, die momentan in mir herumschwimmen! Es war so ähnlich wie die frühen, zimmergroßen Computer – eine einzige apartmentgroße Maschine, auf der ein eigenes Programm lief.«

»Aber sie war noch nicht fertig, oder? Als ich durchs Apartment gegangen bin, habe ich immer wieder Leerstellen gesehen, fehlende Elemente.«

»Stimmt, ich war noch nicht fertig. Jedes Teil musste exakt passen. Jedes Teil musste einen eigenen Funken Maschinenmagie besitzen, ein paar eigene Programmzeilen.«

»Aber wozu?«

»Was wissen Sie über den Geistertanz, Detective?«

Tallow runzelte die Stirn. »So tief in der Vergangenheit kenne ich mich nicht so gut aus. Aber ich weiß, dass es mit den amerikanischen Ureinwohnern zu tun hat. Irgendein Zauber, der alle Weißen umbringen sollte.«

»Das ist eine mögliche Interpretation. Leider habe ich nicht die Kraft, die ganze Komplexität der Entwicklungen zu erläutern. Aber im Kern war der Geistertanz ein kompliziertes, mit zahlreichen Informationen angereichertes Tanzritual. Wenn es korrekt vollendet wurde, sollte es mehrere Folgen nach sich ziehen: die Beseitigung aller Weißen und ihrer Bosheit aus Nordamerika; die Auferweckung der gefallenen Ureinwohner; die Erneuerung und Auffrischung des Landes, das von allen Strukturen befreit sein würde, die der weiße Mann ihm aufgebürdet hatte. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Detective?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Tallow langsam.

»Ich habe eine Ritualmaschine gebaut, die den Geistertanz vollziehen sollte, sobald sie komplett war. Sobald sie fertig war und lief oder tanzte oder sich erzählte oder was weiß ich, würde sie Manhattan ins alte Mannahatta zurückverwandeln, in die Insel der vielen Hügel, und mein Volk würde zurückkehren.«

»Sie sind gar kein Ureinwohner, oder?«

»Nicht mal ein bisschen«, sagte der Jäger.

»Und trotzdem wollten Sie eine Mordwaffenmaschine bauen, die New York zerstört und durch die ewigen Jagdgründe ersetzt hätte.«

Der Jäger lächelte. »Zu meiner Verteidigung kann ich höchstens vorbringen, dass ich vollkommen wahnsinnig war.«

»Ja, davon hatte ich gehört«, sagte Tallow. »Also geht es bald nach Sing Sing?«

»So sieht’s aus.« Der Jäger räkelte sich ein wenig auf dem Bett. »Eine Zelle nur für mich. Mit vielen Büchern und Farben. Anfangs wird es wohl zum gelegentlichen Austausch mit anderen Gästen des Staates kommen, doch dieser Kontakt sollte sich schon in ein paar Jahren etwas lockerer gestalten. Wissen Sie eigentlich, woher der Name Sing Sing stammt, Detective?«

Das wusste Tallow ausnahmsweise, aber er schüttelte trotzdem den Kopf.

»Von Sint Sinck. Die Sint Sinck waren ein Stamm der Mohegan, der an der dortigen Küste lebte. Nachbarn der Lenape. Sing Sing wurde auf dem Land der Ureinwohner erbaut.«

Der Jäger lächelte so breit, dass er Tallow die Zähne zeigte.

Fünfzehn Minuten später stand Tallow draußen vor dem Wagen und klopfte seine Taschen nach dem Autoschlüssel ab. Als es in seinem Sakko knisterte, zog er eine zerdrückte Zigarettenschachtel heraus, die er seit einer Woche nicht mehr angerührt hatte. Einen Moment lang betrachtete er sie nachdenklich. Dann suchte er sich eine Zigarette aus und warf die Schachtel in den Rinnstein, riss den Filter ab und zündete sich die Kippe an.

Mit seinen gequetschten Fingerspitzen schickte John Tallow einen Rauchfaden für Emily Westover in die Höhe, und einen weiteren für Jim Rosato.

Auch für sich selbst schickte Tallow einen Dunstkringel in den Himmel der anderen, ehe er die Zigarette austrat und sich auf den Weg in den 1st Precinct begab.