Dreiundzwanzig
Tallow fuhr eine Zeit lang im 1st Precinct herum, um sich zu vergewissern, dass sein Hirn noch reibungslos funktionierte. Es ging gegen Mittag. Er wusste, dass er versuchen sollte, etwas zu essen. Außerdem kam ihm in den Sinn, dass er seine Forensiker weiterhin behutsam zähmen musste.
Jene, die John Tallow weniger gut kannten, waren oft überrascht, wenn er mal tiefer in die Tasche griff, und noch überraschter, wenn sie erfuhren, dass er direkt in Manhattan wohnte. Manche vermuteten, dass er sich für irgendein rätselhaftes Entgegenkommen schmieren ließ, das weder seine Energie noch sein Interesse erforderte. Die Wahrheit war viel einfacher: Tallow gab nicht viel Geld aus. Nie. Selbst seine Wäsche erledigte er großteils mit billigem Seifenpulver in der Küchenspüle. Er ging kaum aus. Er aß kaum. Seinen Lesestoff und seine Musik besorgte er sich günstig oder umsonst im Netz.
Alle Jubeljahre – wobei Tallow bei diesen Gelegenheiten kaum nach Jubeln zumute war – stellte er sich sein jüngeres Ich vor, wie es an einem Punkt ein Stück die Zeitlinie hinunter stand, die nackten Zehen in den Strand seiner Teenagerjahre grub und auf das Heute blickte, wo sein zukünftiges Leben implodierte wie ein sterbender Stern. Wo sich sein Leben zu einem kleinen, dunklen, dichten Etwas von einer offenkundig bösartigen, alles verschlingenden Gravitation zusammenzog.
Alle Jubeljahre leistete John Tallow sich eine Flasche Wodka, fuhr nach Hause und leerte sie in einer Stunde.
Kurz vor dem Mittagspausenrummel hielt er vor einem Sandwichladen, den er kannte. Er zwängte seinen Wagen hinter ein brandneues, SUV-artiges Teil, das man mit seinen breiten Scheinwerfern und riesenhaften Felgen, seinem Gold und Chrom auch für ein futuristisches Mondauto halten konnte. Der Laden selbst war kaum mehr als eine Theke mit einem auf sechs Monate befristeten Pachtvertrag und einer Auswahl, die man als »minimalistisch« bezeichnen konnte. Doch das, was es gab, war ebenso meisterhaft zubereitet wie durchdacht. Tallow holte das Telefon heraus und rief Scarly an.
»Dieses Scheißhandy«, meldete Scarly sich. »Das Ding ist wie eine Fußfessel, die man auch noch selbst bezahlen muss. Nur für die Hand. Ja, ja, schon gut. Was ist?«
Tallows rechtes Auge zuckte. Er spürte, wie exakt dahinter ein leichter Kopfschmerz einsetzte. »Ich wollte nur fragen, ob ich Ihnen beiden was zu essen mitbringen kann.«
»Hey! Bat! Willst du Nahrung?«, brüllte Scarly, ohne das Telefon vom Mund zu nehmen.
Während Tallow den Kopf schüttelte, hörte er Bat irgendwo im Hintergrund jammern: »Der Beutel schmerzt. Nahrung ist ein Streich, der uns Säugern gespielt wurde. Der Beutel ist der Tod, Scarly. Nahrung ist der Tod.«
»Nee, er will nichts«, meinte Scarly. »Aber bringen Sie ihm trotzdem was mit. Entweder isst er’s doch und verreckt dran, oder er rührt’s nicht an und ich esse es für ihn. Wo sind Sie?«
»Vor einem guten Laden im 1st. Wie wäre es mit kalten Steakstreifen auf frischem Brot mit einem Aufstrich aus roten Zwiebeln, den die Jungs hier mit Bier anrühren?«
»Um Himmels willen ja! Das klingt ja nach richtigem Essen.«
»In zwanzig Minuten bin ich da.«
»Danke, John.«
»DER BEUTEL DES TODES!«, heulte Bat in der Ferne.
Beim Aussteigen rempelte Tallow beinahe einen großen, sehnigen Mann in einer hellbraunen Wildlederjacke um. Der Typ hatte eine Melone mit unzähligen Taubenkotflecken und drei großen Truthahnfedern im improvisierten Klebeband-Hutband auf dem Kopf. »Verdammter Abschaum«, fauchte der Mann. Seine Zähne waren braun wie Schlamm.
Mit ausdrucksloser Miene hielt Tallow ihm die Marke hin. »Tut mir schrecklich leid«, sagte der Mann daraufhin, tippte sich an die Hutkrempe und schlurfte davon. Tallow ging zum Laden. Er hatte mal gelesen, dass ganze vierhunderttausend New Yorker über schwerwiegende psychische Probleme klagten. Und niemand wusste, wie viele Straßenbewohner sich überhaupt nicht offiziell beklagten und somit durchs löchrige Netz des städtischen Amts fielen, das sich beunruhigenderweise »Abteilung für Mentalhygiene« nannte. All diese Leute landeten nie bei den unzähligen anderen Behörden, die das Amt dafür bezahlte, die Verrückten von der Straße ins System zu verfrachten. Viele Menschen verdienten damit ihr Geld, und jeder Idiot, der durch den 1st Precinct schlenderte, sah sofort, wie viele tatsächlich ihrer Arbeit nachgingen. In New York konnte sich selbst ein Irrer, der rituell präparierte Mordwaffen sammelte, vor aller Augen verstecken. Genau genommen sprach nichts dagegen, dass der sehnige Typ mit dem Taubenschisshut der Mann war, den Tallow suchte.
Im schmalen Ladengeschäft stand eine Dame in einem schwarzen, scharf konturierten Jackett, die türkisen Schmuck und Schuhe mit auffälligen keilförmigen Absätzen trug. Auf den ersten Blick dachte man, sie würde auf dicken Goldscheiben balancieren. Die Besitzer des Ladens – beide in ihrem üblichen Williamsburg-Hipster-Look aus kurzärmeligem Hemd und sauber getrimmtem Bart, der aussah wie mit Mastix angeklebt – kümmerten sich wie üblich nicht im Geringsten um irgendetwas anderes als ihre Ware und das Geld. Tallow malte sich aus, wie sie Nacht für Nacht ihre Einnahmen zählten und sich dazu beglückwünschten, keinen Blickkontakt mit irgendetwas Menschenähnlichem hergestellt zu haben. Aus einer iPod-Dockingstation auf dem Tresen drangen leise, von Störgeräuschen und stolpernden Beats durchzogene New-Age-Synthesizerklänge.
Obwohl das Gesicht der Dame von einer Sonnenbrille verdeckt und von offenem Haar eingerahmt wurde, fiel Tallow auf, wie blass sie war – eine andere Blässe als die der Blumenhändlerin. Diese Frau nahm das Licht nicht in sich auf, sondern schrumpelte darunter stückchenweise zusammen. Ihre Haut spannte sich und trocknete aus, sobald sie der Welt ausgesetzt wurde. Kein Pflegestift konnte ihre zerkauten, aufgeplatzten Lippen übertünchen. Inzwischen war Tallow froh, dass ihre Augen nicht zu erkennen waren.
Die Dame zahlte bar; die Scheine holte sie aus einem geprägten Lederzylinder unter ihrer rechten Armbeuge, der kein bisschen größer war, als er für Geld, Kreditkarten, Handy und Autoschlüssel sein musste. Als sie sich umdrehte, entdeckte Tallow eine Brosche auf ihrer Brust – eine Scheibe aus grober Tierhaut in einer goldenen Einfassung mit einem goldenen Rothirschkopf in der Mitte, der von zwei Goldfedern flankiert wurde. Die Dame bemerkte seinen Blick und strich sich zwanghaft über die Brosche. Ihre falschen Nägel klapperten über das Gold, und schon war sie verschwunden. Tallow registrierte nur noch, dass ihr Ehering etwas zu groß für ihren Finger wirkte.
»Dreimal das Steak-Sandwich, bitte.«
»Kommt sofort«, sagte Bart Nummer eins und nickte Bart Nummer zwei zu, ohne Tallow eines Blickes zu würdigen. Im Team schnitten und hackten und wickelten sie die Sandwiches in nicht mal zwanzig Sekunden zusammen, noch schneller als letztes Mal. Wenn hier schon solche Kundinnen auftauchten, hatte sich der Laden offenbar herumgesprochen. Vor seinem inneren Auge sah Tallow, wie die beiden Besitzer des Nachts trainierten, im Hintergrund Animal Collective auf Repeat, während sie reihenweise Sandwiches zurechtklopften, immer im Wettlauf mit derselben Stoppuhr, die sie auch beim Barttrimmen mitlaufen ließen.
Tallow zahlte, klemmte sich die Sandwiches unter den Arm und hörte einen Schrei.
Vor dem SUV kauerte die Dame im schwarzen Jackett auf dem Gehsteig und brüllte. Neben ihr türmte sich der Mann mit der Melone auf, wedelte mit den Armen und flennte wie ein Baby.
Tallow schob die Sandwiches unter den linken Arm und schrie den Mann an, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Als der Mann herüberguckte, schlug Tallow ganz langsam das Sakko zurück und zeigte ihm seine Waffe.
Der Mann sah die Waffe und stellte das Flennen ein. »Ich hab sie nur nach Feuer gefragt. Da hat sie geweint. Und ich dachte, weinen wäre heute groß in Mode.«
»Hau ab. Das ist ein einmaliges Angebot.«
Der Mann peste die Straße hinunter, beide Hände an der Melone auf seinem Kopf.
Mit einem Seufzen blickte Tallow sich um und legte die Sandwiches auf die Motorhaube des SUV. Gute Cops präsentierten ihre Waffen nur im Notfall. Das wusste er, aber es war nun mal eine schnelle, einfache und verlässliche Methode. Vorwürfe konnte man sich später immer noch machen. Die Dame schaukelte mittlerweile schluchzend und keuchend auf der Stelle. In ihrer Lunge war keine Luft mehr zum Schreien.
Tallows Einfühlungsvermögen reichte, um eine Situation einzuschätzen, aber das war’s dann auch. Er hatte erkannt, dass Bobby Tagg sich in einer extremen Drucksituation befunden hatte, mitten in einem psychischen Zusammenbruch, aber es wäre ihm kaum gelungen, dem Mann Trost und Ruhe zu spenden. Jim Rosato war ein stumpfes Tier von einem Cop gewesen, doch die Leute konnten ihn von Natur aus besser leiden. Und deshalb, dachte Tallow, waren sie ein gutes Team gewesen.
Für einen Moment überkam ihn die säuerliche Erinnerung an neulich, als die Lieutenant angedeutet hatte, Tallow hätte sich das nur eingebildet.
Er ging neben der Dame in die Hocke. »Schon gut, Ma’am. Ich bin von der Polizei. Er ist weg. Können Sie mir sagen, was passiert ist?«
Sie barg den Kopf unter den Armen und wiegte sich weiter vor und zurück. »Ich dachte, er wär’s«, stöhnte sie immer wieder vor sich hin.
»Schon gut, Ma’am«, wiederholte Tallow und legte ihr versuchsweise eine Hand auf die Schulter. Sie kreischte auf, zuckte voller Abscheu und Entsetzen zurück, fiel beinahe um und fing an, gleichzeitig zu husten und zu weinen und dabei beinahe zu ersticken. Doch das schien sie wenigstens aus ihrer Geistesabwesenheit zu wecken. Sie kippelte auf den Fersen, ihre seltsamen Goldabsätze kratzten über den Asphalt und fanden einen Halt. Tallow versuchte es noch einmal. Als er sie ganz leicht am Unterarm berührte, richtete sich ihre schwarze, goldumrandete Sonnenbrille auf ihn. Sie ließ sich vorsichtig stützen und führen, bis sie auf den Beinen stand, wo sie erneut in Schluchzen ausbrach und gegen ihn sank. Tallow legte ihr einen ungelenken Arm um die Schultern und blickte zu Boden. Auf dem Gehsteig lag der ungeöffnete Lederzylinder, daneben das eingewickelte Sandwich der Dame. Mit einer kleinen Kraftanstrengung streckte er den Fuß aus und kickte die Handtasche näher heran.
»Es tut mir leid«, murmelte die Dame wie aus weiter Ferne in seine Brust.
»Schon gut«, erwiderte er.
»Nein, es ist nicht gut.« Sie bemühte sich, vollständig einzuatmen. »Er hat mich nur nach Feuer gefragt. Aber ich hab die, die Federn und seine Kleidung gesehen und …« Wieder weinte sie, doch diesmal wirkten ihre Tränen kontrollierter, heilsamer. Sie heulte sich aus, sie kehrte zu sich selbst zurück.
»Wie heißen Sie, Ma’am?«
»Emily.« Ihre Hände zitterten wie bei einem epileptischen Anfall. Tallow begriff, dass er sie weniger emotional als physisch stützte – ohne seinen Arm wäre sie glatt umgekippt.
»Jetzt setzen wir Sie erst mal hin«, sagte er und manövrierte sie mühselig zu seinem Wagen. Als er sich bückte, um die Fahrertür aufzusperren, knackte seine Wirbelsäule. Er schwang die Tür auf und deponierte Emily seitlich auf dem Sitz. »Sekunde.« Rasch sammelte er ihre Tasche und ihr Sandwich ein, sicherte seinen eigenen Einkauf, öffnete die hintere Tür und legte seine kostbaren Sandwiches oben auf die Laptoptasche (wobei er sich fragen musste, wie kaputt ein Mensch eigentlich war, der drei belegte Baguettes wie einen Goldschatz behandelte). Als er sich wieder zu Emily umdrehte, hatte sie die Sonnenbrille von der Nase gefummelt und erfolgreich in einer Tasche ihres Jacketts verstaut. Sie besaß die Augen einer Person, die nur selten und nicht sehr friedlich schlief.
»O Gott«, krächzte sie. »Schauen Sie sich mal meine Hände an!« Die Venen auf ihrem Handrücken traten hervor wie Drähte, und ihre Finger bebten so stark, dass sie beinahe vor den Augen verschwammen.
Als Tallow ihr die Tasche reichte, nahm Emily sie mit Mühe entgegen und hielt sie fest. Tallow beobachtete sie. Das Zittern ließ nach, hörte aber nicht auf. Er kniete sich neben sie und stützte sich aufs Auto. »Emily. Wollen Sie noch mal versuchen, mir zu erzählen, was da passiert ist?«
Ein Anflug von Unaufrichtigkeit verschleierte ihr den Blick – ein Anblick, der Tallow merkwürdig traurig stimmte.
»Ich … ich kann es gar nicht sagen«, meinte Emily. »Ich fürchte, mir, mir geht es in letzter Zeit nicht so gut. Es ist ein, äh, ich weiß nicht, wie nennt man das? Ein emotionales Problem, psychische Schwierigkeiten? Ist auch egal, ich klinge sowieso wie eine Verrückte, was? Manchmal komme ich einfach nicht klar. Vielleicht bin ich bloß zu ängstlich? Aber dieser Mann, er … Das war der falsche Moment.« Emily blickte auf ihre Brosche, zupfte hasserfüllt daran herum und stieß einen furchtbaren, untröstlichen Laut aus, ein Lachen und Greinen in einem. »Und das blöde Ding hier …« Sie sah Tallow an und riss sich zusammen. »… ist auch egal.«
»Haben Sie Ihr Handy dabei?«, fragte er und deutete auf ihre Handtasche.
Mit einem Nicken öffnete sie den Reißverschluss und holte ihr Telefon hervor – ein topaktuelles Modell, das Tallow bisher nur aus Zeitschriften kannte, eigentlich bloß eine dünne, flexible, kratzfeste Plastikscheibe mit einem Antennendraht, der kunstvoll verschlungen in die Rückseite eingearbeitet war. »Die Hersteller schicken uns immer Prototypen«, meinte Emily, um sich zu erklären oder zu entschuldigen.
Tallow nahm das Handy. »Wie heißt Ihr Mann?«
»Jason«, murmelte sie. »Jason Westover.«
Er klickte sich durchs Telefonbuch, bis er einen Jason gefunden hatte, und drückte auf Anrufen. Seine Handwärme aktivierte einen Mechanismus in der Struktur des Telefons – zwischen seinen Fingern verkrümmte es sich zu einem altmodisch gebogenen Hörer.
»Ja? Was ist, Em«, meldete sich eine müde Männerstimme – es klang nicht nach einer Frage, sondern nach einer schicksalsergebenen Feststellung.
»Hier ist Detective Tallow vom NYPD. Spreche ich mit Mr. Westover?«
»Oh. O Gott.«
»Keine Sorge, es ist alles gut. Spreche ich mit Jason Westover?«
»Ja, ja. Ich wusste nicht …«
»Machen Sie sich keine Gedanken, Sir. Ich bin bei Ihrer Frau. Sie hat einen ziemlichen Schrecken mitgemacht, und ich fürchte, sie ist nicht in der Lage, selbst nach Hause zu fahren. Sie ist sehr durcheinander. Es wäre nett, wenn Sie mir sagen könnten, wo Sie wohnen, und mich dort treffen würden.«
»Oh. Oh, verstehe«, antwortete Westover. »Ja, natürlich. Ich danke Ihnen. Wir wohnen im Aer Keep. Ich mache mich so schnell wie möglich auf den Heimweg. Wir treffen uns im Hauptfoyer. Was ist mit dem Wagen?«
»Der Wagen ist abgesperrt, die Schlüssel sind in Sicherheit. Ich weiß, es ist ungünstig …«
»Nein, nein, das ist gar kein Problem. Ich nehme mir jemanden mit, dem ich die Schlüssel gebe und der dann das Auto abholen kann. Wo steht es?«
Tallow sagte ihm die Adresse. Am anderen Ende der Leitung kratzte ein sehr spitzer Bleistift über feingeripptes Papier.
»Vielen Dank«, meinte Westover. »Danke für Ihre Mühe. Ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Und wir kommen zu Ihnen. Danke, Sir.«
Als Tallow auflegte, wirkte Emily noch unglücklicher. »War er wütend?«
»Er war froh, dass es Ihnen gut geht. Okay. Hätten Sie was dagegen, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen? Leider darf ich Sie nicht fahren lassen.«
Dafür schenkte sie ihm ein halbes Lächeln. Aber es war ja auch nur ein halber Witz, dachte Tallow. Er half ihr auf, führte sie um die Motorhaube herum und verfrachtete sie auf die Beifahrerseite. Als er sich hinterm Steuer anschnallte, kam ihm eine Idee.
»Ich hätte da eine Frage«, sagte er. »Sie wohnen im Aer Keep. Also was hat Sie hierher verschlagen?«
Sie zeigte auf den Laden. »Die machen die besten Sandwiches.«
Tallow lenkte Richtung Uptown.
»Danke, dass Sie das alles für mich tun«, meinte Emily.
»Ich kann Sie doch nicht unten im 1st stranden lassen. Und ich glaube, Sie sollten sich im Moment wirklich nicht hinters Steuer setzen.«
»Im 1st?«
»Im 1st Precinct. Das NYPD teilt die Stadt in Zonen ein, in sogenannte Precincts. Wir befinden uns im 1st Precinct.«
»Lustig«, sagte Emily, ohne zu lächeln. »Unsichtbare Mauern um die Wall Street.«
»Ja, so in der Art.«
»Die Wall Street … sie ist nach der Mauer benannt, die die Niederländer errichtet haben, um die Eingeborenen auszusperren.«
»Sie interessieren sich für Geschichte?«
Emily versank ein wenig in ihren Gedanken. »Ja, das letzte Jahr oder so habe ich viel gelesen. Eigentlich komme ich nicht gern hier runter. Es ist mir zu nah an Werpoes.«
»Werpoes?«
»Ein großes Dorf der Ureinwohner gleich neben dem Collect Pond. Wenn man sich den kleinen Park da unten anschaut, könnte man fast glauben, man würde noch ein Stückchen davon sehen. Aber ich bin nur einmal hingegangen.« Sie rieb ihre Brosche. Das Kinn aufs Schlüsselbein gezogen, betrachtete sie den Schmuck, als könnte jederzeit ein Flaschengeist daraus aufsteigen. Nein, viel trauriger – als wüsste sie, dass niemals irgendetwas daraus aufsteigen würde, egal was für Geschichten man ihr erzählt hatte.
»Sind wir immer noch im 1st Precinct?«, fragte Emily, als sie den Broadway überquerten.
»Haben ihn gerade verlassen.«
»Das hier war mal ein alter Pfad der Lenape. Die älteste Straße Manhattans bildet eine Grenze Ihres 1st Precinct.«
»Geisterkarten«, überlegte Tallow.
»Was? Geister?« Emilys Augen weiteten sich. Sie klang ernsthaft besorgt.
»Nicht, nichts«, meinte er. »Hab nur laut nachgedacht. Aber warum interessieren Sie sich so sehr für die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner? Oder geht es Ihnen mehr um Ureinwohner in New York?«
Tallow war sich nicht sicher, ob Emily sich langsam entspannte oder erneut zusammenbrach. Sie starrte nicht mehr aus dem Fenster, als würde sie mit einer Attacke auf den Wagen rechnen, doch ihre Hände zitterten noch heftiger und ihre Augen waren feucht. »Nur wegen etwas, das mir mal jemand erzählt hat«, antwortete sie nach einer Weile. »Hat Jason sehr wütend geklungen?«
»Nein, eher schockiert.«
»Schauen Sie mich nicht so an. Er schlägt mich nicht, falls Sie das denken.«
»Tue ich nicht.«
»Jason hat viel um die Ohren. Mehr, als irgendwer aushalten kann. Ich will es ihm nicht noch schwerer machen.«
»Verstehe.«
»Nein, Sie verstehen es nicht.« Ihre Augen schimmerten feucht, als sie ihn anblickte. »Aber Sie wollen es verstehen, oder?«
Tallow wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Während er weiter Richtung Uptown bretterte, die Augen stur auf die Straße geheftet, spürte er, wie sie ihn ansah, wegsah, ihn wieder ansah. Als wäre es sicherer, ihn anzuschauen, als nach draußen zu schauen. Irgendwann hatte er das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen.
»Geisterkarten«, wiederholte er.
»Was?«
»Das habe ich vor fünf Minuten gemurmelt. Sie haben nur Geister gehört, aber ich habe Geisterkarten gesagt. Weil ich mich gestern mit einem Mann getroffen habe, der ein riesiges Finanzunternehmen an der Wall Street leitet. Eine Firma, die man immer nur Finanzunternehmen nennt, weil man keine Ahnung hat, was sie eigentlich macht. Sie wissen schon.«
Auch Emilys Lächeln hatte etwas Geisterhaftes an sich. »Ja, so muss es Ihnen wohl vorkommen.«
»In der Tat. Aber egal. Er hat mir von einer unsichtbaren Karte aus Verbindungen erzählt, die über dem ganzen Bankenviertel liegt und in Lichtgeschwindigkeit Transaktionen abwickelt, aber dabei nicht so richtig auf das Gelände passt? Nur weil man sich physisch gesehen in der Nähe der Börse befindet, ist man nicht unbedingt … informationell gesehen nah dran?«
»Sie reden von geringer Latenz«, meinte Emily mit einer Spur Überraschung in der Stimme.
»Ach ja?«
»Ja. Das Ganze hat sich erst so richtig durchgesetzt, als ich aus dem Geschäft ausgestiegen bin. Ultraniedrige Latenzzeiten, algorithmischer Handel. Eine ultraniedrige Latenz bedeutet, dass Handelsanweisungen sehr, sehr schnell verschickt werden. Der Algo-Handel teilt jede Transaktion durch einen speziellen Programmcode quasi in Hunderte kleinere Vorgänge auf – ein bisschen wie Regen, richtig starker Regen, der auf die Fenster der Börse prasselt und irgendwann eine große Pfütze bildet. Aber die Pfütze sieht man nicht. Man sieht nur den Regen. Die große Transaktion läuft vor aller Augen und doch im Verborgenen ab.«
»Sie haben mal an der Wall Street gearbeitet?«
»Ja, für eines Ihrer mysteriösen Finanzunternehmen. Vivicy.«
»Nie gehört«, sagte Tallow. »Warum sind Sie gegangen?«
»Mein Mann und ich haben uns bei Vivicy kennengelernt. Das heißt, so in der Art. Ich habe ihn über meinen Chef kennengelernt, die beiden sind alte Freunde. Und nach der Hochzeit hat Jason gesagt: Als Boss ist Andy ein ganz schönes Arschloch, und das Geschäft läuft doch mittlerweile ziemlich gut, also warum machst du’s nicht wie ich und ziehst dein eigenes Ding auf? Jetzt bin ich unabhängige Finanzberaterin. Ich kann von zu Hause aus arbeiten, bei meinem Hund, und mittags nach Downtown fahren, wo es die besten Sandwiches gibt, statt nur eine von Andys Zauberern zu sein. Ich muss nicht mehr für ihn zaubern. Aber die Magie, die ich wirklich brauche, kann ich nicht lernen. Fuck!«
Emily fing an, mit den Fäusten aufs Armaturenbrett zu hämmern und immer wieder Fuck zu schreien. Nach einem schnellen Rundumblick riss Tallow am Steuer und fuhr rechts ran, ohne eine Massenkarambolage zu verursachen, beugte sich über die Mittelkonsole und packte sie an den Handgelenken. Doch selbst als er sie fest im Griff hatte, wollte sie weiter um sich schlagen. »Schauen Sie mich an!«, rief er und zerrte an ihren Armen.
Sie zuckte zusammen. Für einen Moment schienen sich ihre Augäpfel nach oben zu drehen, ehe ihr Blick doch zu ihm zurückkehrte. »Tut mir leid«, flüsterte sie kleinlaut. »Bitte, sagen Sie Jason nichts davon. Er macht sich schon so viele Sorgen.«
»Ich habe ihm alles gesagt, was er wissen muss. Alles Weitere geht nur Sie beide etwas an.«
»Ja«, meinte Emily, doch Tallow hatte das Gefühl, dass sie es anders meinte. Sie lehnte sich zurück und blieb sitzen, bewegungslos und mit ängstlichem Gesicht.
Tallow fädelte sich wieder in den Verkehr ein. »Haben die Ureinwohner eigentlich gefischt? Also hier in Manhattan?«
»Natürlich«, erwiderte Emily mit geschlossenen Augen. »Unter anderem Austern. Als die Niederländer kamen, sind sie auf riesige Berge aus weggeworfenen Austernschalen gestoßen. Die haben sie dann zerschlagen und benutzt, um …«
»Um die Pearl Street zu pflastern«, meinte Tallow. »Ich weiß.« Mit einem Mal hatte er das schneidende Gefühl, sich in riesenhaften Netzen verfangen zu haben, die so feinmaschig waren, dass sie nur im richtigen Licht zu sehen waren. Er holte das Handy heraus. »Scarly?«
»Sie sind ein ganz mieser Lieferdienst, Tallow.«
»Ich weiß. Ist was dazwischengekommen, deshalb wird’s etwas später. Hören Sie mir zu. Die Farben. Jede einzelne Waffe wurde gereinigt, bevor sie aufgehängt wurde, aber die Farben muss er mit den Fingern aufgetragen haben. Deshalb müssen Sie die Farben auf DNA und was weiß ich noch alles untersuchen, bevor Sie irgendwas anderes unternehmen, um ihre Zusammensetzung zu ermitteln. Klar?«
»Wird gemacht. Bringen Sie die Nahrung.«
»Wird gemacht.« Tallow beendete den Anruf mit einem Daumendruck und schätzte aus dem Augenwinkel ab, wie anwesend seine Begleiterin derzeit war. »Emily. Wissen Sie, was die amerikanischen Ureinwohner als Farbe benutzt haben?«
Ihre Augen öffneten sich nicht. »Ocker. Hier in der Gegend wohl vor allem Rotocker, der ist an der Ostküste am leichtesten zu finden. Ein Pigment, das auf Ton basiert und für alles Mögliche verwendet wurde, auch als Körperfarbe und zur Musterung des Haars. Manche Leute behaupten, ein paar der ersten amerikanischen Ureinwohner, die den Europäern über den Weg gelaufen sind, hätten Rotocker aufgelegt gehabt, und deshalb würden sie bis heute als ›Rothäute‹ gelten.«
Mit Geschichte kannte Tallow sich aus. Zwar nicht bis in älteste Zeiten, aber mit der Vergangenheit seiner Stadt auf jeden Fall. Er wusste, dass es hier früher überall Minen gegeben hatte. Auch Staten Island war entgegen anderslautender Behauptungen keine riesige Müllkippe; die Niederländer hatten dort schon früh Stollen gegraben. Seine Gedanken sprangen im Quadrat und krallten sich fest, wo sie konnten.
»Und sonst?«, fragte er.
»Blauer Lehm. Zerdrückte Muschelschalen als Weiß. Sie haben lauter Zeug in der Sonne getrocknet oder verbrannt, um die richtigen Farben zu gewinnen. Holzkohle natürlich. Harz, Beeren. Warum?« Sie öffnete die Augen und sah ihn an.
»Nur um mich ein bisschen mit Ihnen zu unterhalten. Schließlich hatten Sie einen Schock. Wo ist eigentlich Ihr Hund?«
»Tagsüber habe ich eine Hundeausführerin. Sie ist mit dem Hund rausgegangen, ich bin Mittagessen gefahren. Abends geht mein Mann mit dem Hund Gassi.«
Emily schien in einen Zustand abzudriften, den Tallow nicht unbedingt als »Apathie«, aber doch als Distanziertheit und Gleichgültigkeit bezeichnet hätte. Ihre Stimme drang tief aus ihrem Inneren, aus einem öden Ort, sehr weit entfernt vom Hier und Jetzt. In den seltenen Momenten, in denen Tallow sich in den letzten Jahren seiner selbst bewusst geworden war, war seine Stimme aus einem ganz ähnlichen Ort in seinem Inneren herübergeklungen.
Doch die letzten zwei Tage hatten ihn zurück in die Welt gezerrt. Noch vor zwei Tagen hätte er sich als Zivilist ausgegeben und die kreischende Emily links liegen gelassen, um mit seinem Mittagessen in den Wagen steigen zu können. Vor den letzten zwei Tagen hatte er alles anders gemacht. Sprich: Er hatte so wenig wie möglich gemacht. Die Fälle hatten sich von selbst erledigt, ohne sein Zutun.
Jetzt war er zurück in der Welt. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren, er setzte sich mit anderen Menschen auseinander. Und nur deshalb, begriff er, fügten sich die verstreuten Bruchstücke dieses grässlichen und vielleicht letzten Falls seiner Karriere allmählich zueinander. In seinem Magen breitete sich eine kalte Leere aus. Je weiter er dachte, desto eisiger und mulmiger war ihm zumute.
»Also«, sagte Tallow leise, »wer war der Mann?«
»Was?«, fragte Emily. Sie schwebte immer noch in weiter Ferne, doch nun wurde die Aussicht an ihrem Rückzugsort von Angst getrübt.
»Der Obdachlose, der Sie so erschreckt hat. Für wen haben Sie ihn gehalten?«
»Für niemanden«, flüsterte sie mit ängstlicher Stimme und wand das Gesicht ab.
Tallow lenkte in den Aer Keep. Das Haupttor war ein Beton-Checkpoint, der wie ein Relikt aus dem Kalten Krieg wirkte. Als er seine Marke vorzeigte, fiel ihm auf, dass die Sicherheitsfrau dasselbe Spearpoint-Abzeichen trug wie die Drohnen bei Vivicy.
Die Frau beugte sich vor und spähte in den Wagen. »Mrs. Westover? Ist alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut, Hannah. Mir ist nur schlecht geworden, und da hat mir der nette Polizist angeboten, mich nach Hause zu fahren. Ist mein Mann schon da?«
»Ja, Ma’am. Brauchen Sie irgendetwas? Soll ich Ihnen den Arzt aufs Apartment schicken?«
»Wirklich, Hannah, mir geht’s gut. Wahrscheinlich hab ich nicht genug gegessen oder so. Aber trotzdem danke.«
Das Lächeln der Frau war eindeutig – sie fragte sich, ob sie sich hinreichend bemüht hatte, weil sich später irgendjemand, der ihre Tätigkeit kontrollierte, ganz sicher danach erkundigen würde.
Endlich hob sich das Tor, um sie in die Festung einzulassen. »Von hier aus fährt man in die Parkgarage«, meinte Emily.
Tallow steuerte den Wagen bis zum Schlund der Garage, wo die Fahrbahn in die Tiefen der Festung abfiel, und hielt an. Er zerrte den Geldbeutel hervor und suchte sich eine Visitenkarte, fischte den Kuli aus dem Notizbuch in der Innentasche und kritzelte seine Handynummer auf die Karte. »Hier«, sagte er und drückte Emily die Karte in die Hand. »Mit der Nummer erreichen Sie mich auf dem Handy. Auch in der Nacht. Ich schlafe sehr wenig. Wenn Sie mir jemals irgendetwas erzählen wollen oder wenn Ihnen jemals irgendwas Sorgen bereitet, wenn Sie mit irgendwas Hilfe brauchen, rufen Sie diese Nummer an. Das ist Ihr neuer Notruf. Alles klar? Selbst wenn Sie sich nur über Geschichte unterhalten wollen – diese Nummer.«
»Alles klar«, meinte Emily und schob die Karte in eines der eigenartigen Reißverschlussvestibüle ihres Jacketts. »Alles klar.«
Als Tallow in den beleuchteten Untergrund der Insel fuhr, musste er wieder an Minen denken. Die Fahrbahn teilte sich. Er hielt sich rechts und folgte dem geschwungenen Weg zu den glitzernden Türen des Hauptfoyers, vor dem weitere Wachen standen. Einer kam auf ihn zu, als er ausstieg.
»Hier können Sie nicht halten, Sir.«
Tallow präsentierte ihm die Marke. »Kann ich wohl.«
»Genau genommen, Sir …«, fing der andere an, doch Tallow umrundete den Wagen bereits, um Emily die Tür aufzuhalten. Bei ihrem Anblick runzelte der Wachmann frustiert die Stirn. Den Worten nach zeigte er sich gefügig, aber Tallow kannte den ausgiebigen, feindseligen Blick, mit dem der Typ ihn währenddessen musterte – er prägte sich sein Gesicht ein, um ihm später irgendetwas Übles anzutun. Lächelnd gab Tallow Emily Handtasche und Sandwich, nahm sie sanft am Ellenbogen und führte sie am Wachmann vorüber, den er sich ebenfalls genau anschaute und mit einem frostigen Haigrinsen bedachte. Konnte ja nicht schaden.
Das schimmernde Glas an der Front des Foyers schob sich beiseite, um Tallow und Emily aufzunehmen. Unmittelbar dahinter wartete ein kompakter Mann, der einige Zentimeter kleiner und um Welten fitter war als Tallow. Er unterhielt sich mit einem athletisch-schlanken, jüngeren Mann in einem schnittigen schwarzen Anzug, der einen Bluetooth-Ohrhörer im Ohr hatte. Nach zwei Schritten ins Foyer entdeckte Tallow das Spearpoint-Abzeichen auf dem diskreten Anstecker am Revers des Jüngeren.
Jason Westover begrüßte seine Frau mit einem warmen, verständnisvollen »Autoschlüssel?«.
Emily fingerte den Schlüssel aus der Tasche und händigte ihn an ihren Mann aus, der ihn dem jüngeren Mann zuwarf. Dieser nickte Westover zu, eine kleine, zugleich diskrete und ein wenig unterwürfige Geste ähnlich einer Verbeugung in älteren Zeiten, und verschwand sofort.
»Sie sind Detective … Tallow?«, fragte Westover.
Tallows Haut kribbelte. Irgendetwas war gerade absolut schiefgelaufen, aber er wusste nicht was. »Genau. Und hier ist Ihre Frau. Gesund und munter.«
»Aber natürlich«, meinte Jason Westover und hielt ihr eine Hand hin. Wie jemand, dem soeben mitgeteilt worden war, dass er sein Handy am Tisch vergessen hatte. Westovers Augen wanderten taxierend über seine Gattin.
»Aus reiner Neugier, Mr. Westover … was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Gründer und Besitzer von Spearpoint Security. Warum?«
»Wie gesagt, ich bin nur neugierig. Ein Glück, dass Sie so kurzfristig aus dem Büro wegkonnten. Das heißt, wenn einem das Büro gehört, ist das wohl etwas einfacher. Ihrer Frau geht es jedenfalls gut. Ja, sie hat mir hervorragende Gesellschaft geleistet. Ich freue mich, dass ich Sie beide kennenlernen durfte.«
»Wie freundlich von Ihnen«, log Westover.
»Ich bin froh, dass ich helfen konnte. Ihre Frau hat einiges mitgemacht, und danach schien es mir wirklich keine gute Idee zu sein, sie allein nach Hause fahren zu lassen. Wenn ich richtig verstanden habe, haben Sie medizinisches Personal im Haus? Es kann nicht schaden, sie kurz durchchecken zu lassen. Mit einem Schock ist nicht zu spaßen. So etwas kann einen ganz unerwartet überkommen.«
»Ja«, sagte Westover mit tonloser Stimme, nahm Emily am Arm und wandte sich zum Gehen. »Nochmals danke, Detective. Sie haben uns sehr geholfen.«
»Ja«, fügte Emily hinzu und versuchte, Tallow nicht aus den Augen zu verlieren, während sie umgedreht wurde. »Vielen Dank.«
Er stellte sicher, dass sie ein Lächeln auf seinen Lippen sah, das ihr sagte, dass alles in Ordnung war. Erst dann wandte er sich selbst ab. »Schönen Tag noch.«
Tallow ließ die Tür aufgleiten, damit das Zischen hörbar in der Luft hing, blieb stehen und beobachtete, wie Westover seine Frau eilig zu den Aufzügen führte und dabei gepresst und nachdrücklich auf sie einredete. Er sah, wie sich Emilys freie Hand zur Faust verkrampfte.
Als Tallow bei seinem Wagen ankam, stand der Wachmann noch immer daneben. Tallow lächelte und schüttelte den Kopf. »Hab nur einen Bewohner abgesetzt. Kein Grund zur Aufregung. Okay? Ich fahr dann wieder.«
»Hier drinnen gibt’s Gesetze.« Der Wachmann drückte den Rücken durch und plusterte sich auf.
»Gesetze?«, lachte Tallow. »Hier drinnen? Mann, das klingt ja, als wäre das hier nicht mehr New York City!«
Der Wachmann trat einen Schritt auf ihn zu. Tallow konnte es nicht fassen. »Ist es auch nicht. Es steht nur zufälligerweise auf einem Fleck New York City. Und ich sorge hier drinnen für Recht und Ordnung. Mann.«
Als Tallow stehen blieb, rückte ihm der Wachmann noch weiter auf die Pelle. »Langsam«, meinte Tallow. »Weißt du, was der Unterschied zwischen uns beiden ist?«
»Gibt keinen Unterschied. Außer dass ich hier drinnen was zu sagen habe und du nicht.«
»Nein. Der Unterschied ist, dass du deine schicke Uniform mit den Kevlar-Fasern, die dir irgendein Lügner als ›kugelsicher‹ verkauft hat, und deine tolle Monsterknarre, mit der du bisher höchstens auf Pappkameraden geschossen hast, auch mal ablegst. Du nimmst dir einen Tag frei, ziehst dich an wie ein ganz normaler Typ und gehst raus in die Welt wie jeder andere auch. Stimmt doch, oder? Aber ich bin ein Cop. Ich bin beim NYPD. Mein Leben ist nicht normal. Ich habe keine freien Tage. Gar keine. Daran solltest du denken, falls wir uns mal auf der Straße begegnen, wie du es dir die letzten fünf Minuten über ausgemalt hast. Darüber solltest du ganz scharf nachdenken, bevor du mir jemals einen Schritt näher kommst.«
Der Wachmann wich einen Schritt zurück.
»Und jetzt wünsche ich noch eine schöne Schicht, Sir«, meinte Tallow, stieg ein und rollte möglichst langsam davon. Und fragte sich mal wieder, warum alle Welt die ganze Scheiße, die sie mit sich herumschleppte, ausgerechnet bei ihm abladen wollte.