Vierundzwanzig

Als Tallow in Bats und Scarlys Büro einbog, wurde er von einem großen japanischen Plastikroboter willkommen geheißen, der auf dem Arbeitstisch stand, die Arme schwenkte und mit einer elektronischen Prozessorstimme Sag Hallo zu meinem kleinen Fleund! rief, während immerzu ein kleiner Plastikpenis an einem kurzen Metallkolben aus seinem Unterleib schoss.

Schließlich tauchte Bat hinter dem Ding auf. »Denken Sie jetzt nichts Falsches. Mir war langweilig.«

»Haben Sie nichts zu tun?« Als Tallow die drei Sandwiches auf den Tisch legte, sah er, dass der Roboter mit einem flachen, cremefarbenen Kästchen verdrahtet war, das direkt dahinter stand.

»Können Sie ausschließen, dass die Zukunft eines Tages von einem riesigen Fick-dich-Roboter abhängen wird, der an einem getunten Bewegungsmelder hängt? Außerdem sind die Ergebnisse der Suchanfrage zu der albernen Steinscheißpistole da.«

»Und?«

»Haben Sie die Nahrung?«

»Sie hassen Nahrung.«

»Der Todesbeutel hat seinen eigenen Willen. Geben Sie mir die Nahrung.«

»Liegt auf dem Tisch. Reden Sie mit mir.«

»Ich habe den Fick-dich-Roboter nicht ohne Grund installiert.«

»Reden Sie mit mir, wenn Sie nicht erschossen werden wollen.«

»Das Opfer hieß Philip Thomas Lyman, ein Einwohner Rochesters im Bundesstaat New York. Wie es der Zufall so will, leitete er eine Sicherheitsfirma namens Varangian. Lief ziemlich gut für ihn – bis er auf einem Geschäftsausflug nach Midtown erschossen wurde.«

Tallow nahm sich ein Sandwich und ging. »Ich bin dann mal unten« war alles, was ihm dazu noch einfiel.

Tallow ging in der Rekonstruktion auf und ab, aß sein Sandwich, ohne es zu schmecken, studierte das Pseudo-Apartment von außen und probierte Gedankengebäude aus. Fundamente aus Tatsachen, Gerüste aus Spekulationen. Er tauschte Streben und Böden aus, setzte sein Wissen und seine Hypothesen nach unterschiedlichen Bauplänen zusammen. Als er mit dem Sandwich fertig war, warf er die Verpackung weg und ging zum Tisch. Er pflückte ein paar Blätter von der Tabakpflanze und zerfetzte sie, bis die Stückchen so klein waren, dass er sie kaum noch zu fassen bekam, warf sie in den Mörser und zerstieß sie eilig mit dem Stößel. Er wollte es hinter sich bringen. Während sein Hirn immer weiterarbeitete, kitzelten die Öle, die von den Blättern freigesetzt wurden, seine Nase. Doch der Geruch passte nicht. Er schubste die Brösel in die Aluschale, kippte die Schale leicht an, schnappte sich sein neues Feuerzeug und setzte das zermahlene Grünzeug in Brand. Nach einigem Fächern und Rumstochern stieg der erste Rauch auf.

Er trug die Schale zur Rekonstruktion und legte sie in die Mitte. Es qualmte weiter. Der Rauch wuchs in die Höhe und verzwirbelte sich zu einem dürren, dunklen Gebilde. Als die Schwaden auf Brusthöhe waren, scheuchte Tallow sie mit den Fingerspitzen Richtung Decke – und war sich sicher.

Tallow stand mitten im Rauch und atmete ein. Der Duft war nah dran, ganz nah an der vorherrschenden Note, die er im Apartment an der Pearl ausgemacht hatte. Langsam drehte er sich im Kreis und betrachtete die Waffen, die sich um den Raum legten und sich zu Formen und Aussparungen für künftige Formen anordneten, während sie sich um ihn legten, wickelten, rotierten und über Wände und Boden flossen …

Er hatte den Mann gesehen, der all diese Waffen abgefeuert hatte. Er war sich sicher.

»Was machen Sie da, John?«, fragte Scarly. Tallow hatte den Aufzug wieder nicht kommen hören, was er als Warnung begriff: Nicht abdriften. Lass dich nicht erwischen.

»Ich denke nach«, meinte er. »Was haben Sie für mich?«

»Die Farben. Mann, machen Sie uns einen Stress! Die weiße Farbe besteht offenbar aus zerdrückten Muschelschalen und Ei. Wo kriegt man heutzutage bitteschön Muschelschalen? Und warum rührt man sich solche Höhlenmenschfarbe an?«

»Aus jeder Mülltonne in der Mulberry Street. Außerdem ist das keine Höhlenmenschfarbe. Und sonst noch?«

»Ton. Brombeersaft als Violett. Und so weiter.«

»DNA?«

»Bis ich das weiß, vergehen noch mindestens vierundzwanzig Stunden. Und natürlich ist es Höhlenmenschfarbe.«

»Nein. Es handelt sich um Farben der amerikanischen Ureinwohner. Unser Mann hält sich für einen Ureinwohner. Oder er wäre gern einer.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Durch das ganze Zeug hier. Aber nicht nur. Ich habe ihn gesehen.«

Scarly trat in die Rekonstruktion. »Ich hab mich wohl verhört.«

»Nein. Ich glaube, ich habe ihn gesehen. Gestern. Er stand in der Pearl, gegenüber vom Mietshaus, als ich noch mal hingefahren bin, um mir den Tatort anzuschauen. Das eine ECT war gerade fertig, die nächste Schicht war spät dran. Der Typ hat mir eine Kippe abgeschnorrt und lauter Ureinwohnerzeug erzählt. Über Tabak, übers Rauchen. Er war’s, ganz sicher. Und vorhin hat sich Ihre Essenslieferung verspätet, weil ich eine Frau kennengelernt habe, die wahrscheinlich irgendwie peripher mit dem Fall zusammenhängt – als ein Penner mit Federn im Hut an ihr vorbeigelaufen ist, so ’ne Art Witzfigurindianer, ist sie ausgerastet. Und sie hat mindestens einmal gesagt: ›Ich dachte, er wär’s.‹«

»Mann, John, wenn das wirklich der Mörder war, hätte er Sie umbringen können. Scheiße, ich hab keine Ahnung, warum er Sie nicht umgebracht hat.«

»Ist das nicht offensichtlich? Er konnte mich nicht umbringen. Er hatte keine passende Waffe. Schauen Sie sich doch mal um. Das ist das Werk eines Mannes, der seine Waffen nach einer zwanghaften, wahnhaften Logik auf seine Opfer abstimmt. Für einen Typen aus Rochester, der eine Agentur für Möchtegernbullen hatte, hat er sich die Tatwaffe zum ersten Mord in Rochester ausgesucht. Wir haben sein Lager gefunden. Er hat nicht damit gerechnet, mir auf der Straße zu begegnen. Er hatte keine passende Waffe.«

»Eine verdammt gewagte Vermutung.«

»Die sich aber richtig anfühlt.«

»Ich meine das mit der Waffe.« Scarly runzelte die Stirn. »Er hätte Sie genauso gut als Tier betrachten können, das man einfach abstechen darf. Als Hindernis.«

Tallow saugte einen verirrten Zwiebelfaden aus seinen linken Backenzähnen. »Sie sind mir schon ein kleiner Sonnenschein, Scarly.«

»Wollen Sie’s mit einem Phantombildzeichner versuchen? Oder mit einem digitalen Phantombild?«

»Wie haben Sie ihn genannt? Ninja. Er ist wie ein Geist. Nein, wir müssen auf die DNA in der Farbe setzen.« Wieder tasteten Tallows Augen die Rekonstruktion ab. »Hier geht es um Geister. Und um Karten. Ich brauche eine Karte, eine Monsterkarte von Downtown. Und noch mehr Bücher.«

Scarly unternahm einen eigenen Rundgang durch die Whiteboards. »Bringt Ihnen das hier was?«

»Ja, es hilft weiter.«

»Schade, dass ich nie im echten Apartment war.«

»Stimmt. Keine Ahnung, was es gebracht hätte, aber vielleicht hätten Sie ein paar Gerüche identifizieren können. Und ich weiß immer noch nicht, wie die Apartmenttür funktioniert hat.«

Scarly stellte sich vor die Fotografien der Rückseite der Tür. »Ja. Bat hat sich das schon angeschaut. Wenn er es sich genauer angucken könnte, könnte er es wohl ausknobeln, aber die Fotos geben nicht genug her.« Sie drehte sich um. Ihre Augen verengten sich. »Und Sie glauben wirklich, Sie haben den Typen gesehen?«

»Ja. Wirklich.«

»Scheiße. Aber das behalten Sie für sich, okay? Oder wollen Sie als Vollidiot dastehen, der mit seinem Verdächtigen geplaudert und ihn danach einfach laufen gelassen hat?«

»Nein.« Mit einem Frösteln schlug Tallow auf dem Boden der Tatsachen auf. »Nein, eher nicht.«

Scarly lief zum Aufzug und boxte ihm unterm Gehen auf den Arm. »Sie sagen es.«

»Danke, dass Sie mir den Rücken freihalten.«

»Sie sind in Ordnung, John. Außerdem haben Sie gute Nahrung geliefert, wenn auch etwas verspätet. Und jetzt kommen Sie mit. Wir holen meinen Lieblingsspasti von seiner Roboterfummelsitzung ab, und Sie fahren uns zur Pearl Street. Wir müssen uns diese Tür anschauen. Keine Ahnung, was es bringt, aber mich würde schon interessieren, wie dieser ganze High-End-Hochsicherheitskram funktioniert.«

High-End-Hochsicherheitskram hallte in Tallows Kopf wider, und schon wirkte einer der unsichtbaren Stützbalken seines jüngsten Gedankenkonstrukts ein bisschen solider.

Aber erst mal mussten sie Bat einsammeln, der sich gerade über irgendeinen Papierkram auf dem Arbeitstisch beugte, die Arme fest um den Oberkörper geschlungen.

»Sind ein paar neue Ballistikergebnisse reingekommen«, meinte er. »John, sagt Ihnen der Name Delmore Tenn was?«

»Del Tenn?«, wiederholte Tallow. »Klar. Der war mal Assistant Chief Süd-Manhattans. Ist aber schon Jahre her. Gab’s da nicht einen Unfall, und danach ist er in Frührente … Wenn ich nicht irre, ist sein Kind umgekommen? Irgend so was. Hat das arme Schwein total fertiggemacht.«

»Ja.« Bat blickte nicht vom Tisch auf. »Eine verirrte Kugel bei einer Bandenschießerei. Hat den Kopf seiner Tochter durchschlagen. Die Waffe wurde nie gefunden.«

»Nein«, sagte Tallow. »Bitte nicht.«

»Doch. Die Tatwaffe war eine Kimber Aegis. Seltsame Drallspuren am Projektil, als hätte irgendwer im Lauf rumgestochert. Normalerweise wäre es eine Kleinigkeit gewesen, die Kugel zuzuordnen. Wenn sie die Waffe gefunden hätten.«

»Mein Gott.«

»Und wissen Sie, was am schlimmsten ist?« Bats Stimme klang immer gedämpfter, immer ausdrucksloser. »Die Kleine hieß Kimberly. Darüber hätte damals kein Mensch weiter nachgedacht. Da wäre höchstens ein übler Witz bei rausgesprungen – Kim wurde mit einer Kimber erschossen.«

Dazu wusste Tallow nichts mehr zu sagen.

Bat schlang die Arme noch enger um die Brust. »Scheiße, wo sind wir da nur reingeraten? Was zur Hölle ist das?«

Scarly umrundete ihren Kollegen, um sich einen dünnen Mantel zu schnappen, der neben dem Tisch rumgammelte. »Jetzt schauen wir uns erst mal das Apartment in der Pearl an.«

Bat wollte widersprechen oder vielleicht irgendetwas erklären, doch noch während er den Mund öffnete, ging ihm zusehends die Kraft aus. Er stand auf, trottete zu einem Schubladenkasten, auf dem ein wankender Berg aus Papier und Akten balancierte, öffnete die zweitoberste Schublade und nahm eine Pistole im Halfter heraus. Wortlos klemmte er sich das Halfter an den Gürtel, angelte eine schmuddelige Umhängetasche hinter dem Tisch hervor und drängelte sich vorbei an Scarly und Tallow zum Aufzug.

Als Scarly ihm hinterhersah, verzogen sich ihre Lippen zu einer schmalen Linie. Dann zog sie die oberste Schublade des Kastens auf, holte eine Pistole im Halfter heraus und klemmte sich das Halfter an den Gürtel, warf sich den dünnen Mantel über, ermahnte Tallow mit einer gehobenen Augenbraue, bloß die Klappe zu halten, und lief an ihm vorbei zum Aufzug.

Tallow hob seine eigene Pistole aus dem Halfter und schob sie wieder rein.

»Sie hätten mir ruhig sagen können, dass ich eine Schaufel mitbringen muss«, meckerte Bat.

»Setz dich verdammt noch mal hinten rein«, erwiderte Scarly.

»Würde ich ja gerne, aber leider habe ich keine Kletterseile dabei. Echt jetzt, John, können Sie mir erklären, warum Ihre hinteren Kotflügel nicht über die verdammte Straße kratzen?«

»Was weiß ich, Bat … Schieben Sie das Zeug halt beiseite.«

»Und wenn ich einen Erdrutsch verursache und lebendig begraben werde? Um Himmels willen, was ist das bloß für ein Kram?«

Tallow fuhr sich durchs Haar. »Selber arbeiten Sie auf dem Klo der Collyer-Brüder, und jetzt wollen Sie sich über meinen Wagen beschweren? Schieben Sie’s beiseite und steigen Sie ein.«

»Die Collyer wer?«

»Sie können auch im Kofferraum mitfahren, Bat.«

»Ja, ja, schon gut. Obwohl ich mir beinahe sicher bin, dass ich da unten die Schriftrollen vom Toten Meer erkennen kann. Ich mache nur mit, weil ich mich vor dem Inhalt des Kofferraums fürchte.«

Dass Scarly neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, kam Tallow fast so merkwürdig vor, wie selbst hinterm Steuer zu sitzen. Es war ein unwirkliches Gefühl, immer noch. »Wer waren die Collyer-Brüder?«, fragte sie.

»Langley und Homer Collyer, zwei Einsiedler im Harlem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Haben am hinterletzten Ende der Fifth Avenue gewohnt.« Tallow suchte sich einen Weg raus aus dem One PP. »Die ganze Familie war etwas schrullig. Der Vater paddelte immer im Kanu zur Arbeit, den East River runter nach Roosevelt Island. Um 1925 herum verschwand Daddy und Mommy starb, und so erbten die beiden Brüder das Haus. Die Nachbarn hielten sie für reiche Exzentriker und fingen an, sich im Haus umzugucken. Sie schnüffelten rum, vielleicht brachen sie auch mal ein Fenster auf. Aber in Wirklichkeit hatten die Collyers nicht mal einen Topf zum Reinpissen, und darüber hinaus waren sie von vornherein ein bisschen wahnsinnig. Deshalb nagelten sie die Fenster zu, legten Fußangeln aus und gingen nur noch nachts raus. Sie schlichen sich auf die Straße, schauten sich nach Sachen um, die nützlich oder interessant wirkten oder vielleicht zu einer Falle oder einer Waffe umgebaut werden könnten, und schleppten alles nach Hause. Daran hat mich Ihr Büro frappierend erinnert. Nur dass Sie sich das Zeug liefern lassen.«

»Damit hauen Sie sich also den Wagen voll?«, fragte Bat, der zusammengefaltet auf der Rückbank kauerte wie die hässlichste Origami-Skulptur der Welt. »Mit abseitiger Stadtgeschichte? Wobei, eigentlich klingt das doch ganz nett. Ist doch toll, den ganzen Tag irgendwelches Zeug zu sammeln.«

Tallow antwortete mit einem kurzen, trockenen Lachen. »Im Jahr 1947 wurde der gesamte Block plötzlich von einem widerlichen Gestank überflutet, und nur die Collyers standen nicht auf der Straße und jammerten. Irgendwann gingen die Leute rein – und stellten fest, dass die Collyers jedes bisschen Müll, das die letzten zwanzig Jahre über in dem Block abgeladen wurde, aufgeklaubt und eingelagert hatten. Hundertdreißig Tonnen Müll. Fünfundzwanzigtausend Bücher, vierzehn Klaviere, ein beinahe vollständiges Auto, ein paar Stückchen Mensch, unzählige Zeitungen und Schachteln. Man konnte sich nur noch durch Tunnel und Schächte durchs Haus bewegen. Homer Collyer war an einem Herzinfarkt gestorben, der durch Hunger ausgelöst wurde. Die Augen waren ihm schon vor fünfzehn Jahren rausgeblutet, und er war von Kopf bis Fuß gelähmt, weil sein Rheuma nie behandelt wurde. Langley Collyer fanden sie in einem Tunnel. Offenbar hatte er Homer etwas zu essen bringen wollen, als er in eine seiner eigenen Fallen getappt und von einem vollgepackten Koffer und drei riesigen Zeitungsballen erschlagen worden war. Er war schuld an dem Gestank. Der blinde alte Homer hatte eine Woche länger durchgehalten.«

»Und sich wahrscheinlich die ganze Zeit über gefragt, wo sein Bruder mit dem Mittagessen abgeblieben war«, fügte Scarly hinzu. »Deshalb sollte man immer kurz durchrufen, wenn man als Sandwichlieferant Umwege nimmt, John.«

»Ein paar Stückchen Mensch?«, fragte Bat.

»Eingeweckte menschliche Organe und so. Ihr Vater war Arzt, aber der hat sich mehr mit Geburtshilfe beschäftigt. Das waren also nicht nur Erbstücke. Ach ja, und dann war da noch das riesige Waffen- und Munitionslager. Am Schluss mussten sie das ganze Haus plattmachen.«

Bat versuchte, die Knie unter dem Kinn hervorzubugsieren. »So ähnlich dürfte es in der Zweitwohnung unseres Täters aussehen.«

»Was?«

»Na, in der 3A hat er doch nicht gepennt, oder? Und auf der Straße pennt der bestimmt nicht. Er muss ein zweites Apartment haben, und wenn wir es finden, ist es sicher voller Patronengürtel und Zeitungsausschnitte und so weiter. Der Typ hat Ahnung von Waffen und ist mindestens in der Lage, Recherchen anzustellen. Sonst hätte er das mit Rochester nie rausgefunden. Ach was, sonst hätte er noch nicht mal von Son of Sam gehört.«

»Und das Indianerding?«, warf Scarly ein.

»Tut nichts zur Sache«, erwiderte Bat. »Selbst wenn er sich für Geronimo persönlich hält, er verschließt die Augen nicht zu hundert Prozent vor der Realität. Dafür funktioniert das Arschloch viel zu gut. Sogar der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, wusste noch, wo oben und unten war. Kann sein, dass unser Täter haarscharf davor ist, richtig dysfunktional zu sein. Kann sein, dass er jeden Tag sechs Stunden lang kleine Federschmücke für seine eigenen Scheißwürste bastelt, um sie im Central Park auf Custer zu hetzen. Aber selbst dann ist ihm bewusst, dass er sich in der modernen Welt befindet. Selbst dann studiert er unsere Welt, um sie sich effektiv zunutze zu machen.«

Ein Fahrradkurier zischte neben dem Wagen her und versuchte, sich im richtigen Winkel für einen erfolgreichen Vorstoß zur Brooklyn Bridge zu positionieren. Tallow tippte auf die Bremse, um ihn vorzulassen. Der Kurier bedankte sich nicht, aber Tallow hatte auch nicht ihn persönlich gemeint.

»Er setzt sich mit moderner Geschichte auseinander«, sagte Tallow nach einer Denkpause. »Aber er lebt ganz woanders. Ich kenne mich mit der jüngeren Stadtgeschichte aus, aber er lebt in der tiefsten Vorgeschichte. Ich habe ihn nicht gesehen und er hat mich nicht gesehen, weil wir uns durch unterschiedliche Städte bewegen.«

»Wann sind Sie heute eigentlich dazu gekommen, so viel zu rauchen?«, fragte Scarly. »Und warum haben Sie uns nichts mitgebracht? Ich dachte, Sie hätten uns adoptiert. Arschloch.«

»Er hat Sie nicht gesehen?«, sagte Bat in argwöhnischem Tonfall. »Das heißt, er hat Sie gesehen, oder? Und Sie haben ihn gesehen?«

»Glaubt er«, meinte Scarly schnell. »Und das behalten wir lieber für uns.«

Um die weitere Erörterung dieses Themas ein wenig aufzuschieben, knipste Tallow den Polizeifunk an. Und sofort ergoss sich der Schrecken in den Wagen.

In der South Bronx war ein Zehnjähriger abgeknallt worden. Dem dazugehörigen Geplapper war zu entnehmen, dass die drei Angreifer es eigentlich auf seinen Vater abgesehen hatten. Der Vater hatte einen Kinderwagen geschoben, in dem ein totes, konserviertes und geschminktes Baby mit mehreren Päckchen Heroin im ausgeweideten Magen gelegen hatte.

In Queens wurde ein älteres Ehepaar tot im Bett aufgefunden. Eine Hinrichtung. Irgendwer hatte sich auf die Matratze gestellt und den beiden Schlafenden in den Kopf geschossen. Frische Spermaspritzer auf den Eintrittswunden. Der Sohn wurde vermisst.

In Brooklyn hatte ein Mann seinen Nachbarn mit einem scharfen Spaten totgehackt – der blutige Ausgang eines Streits um einen geliehenen Gasgrill. Zum Zeitpunkt der Attacke hatte das Opfer gerade seinen Wagen repariert.

In Hell’s Kitchen musste ein Bauarbeiter auf einer Kneipentoilette von einer Krankenschwester gezerrt werden. Letztere könnte durchkommen, berichtete der Kollege am Funk, doch der Partner des Kollegen hatte womöglich ein Auge verloren.

In Briarwood war ein toter Cop zu beklagen. Grund war eine explosive Entdeckung hinter den Kulissen eines kleinen Restaurants: Waffen und mindestens ein Kilo Koks. Der Stoff wurde direkt in der Küche verschnitten und briefchenweise mit den Essenslieferungen verschickt.

»Verdammte Scheiße«, sagte Scarly.

Park Slope war frühmorgens erneut von dem Serienvergewaltiger heimgesucht worden, den manche Spaßvögel nur Ein Mann, ein Glas nannten. Zum Abschluss seiner Übergriffe führte er stets ein Marmeladenglas oder eine Flasche in die Vagina des Opfers ein und zertrümmerte das Glas. Angespannte Polizistenstimmen: Keiner hatte was gesehen, keiner wusste was, keiner scherte sich um irgendwas …

Wo die Twelfth Avenue in den Joe DiMaggio Highway überging, hatte jemand einem Cop der Hafenbehörde ein Behältnis mit Batteriesäure und Ammoniak ins Gesicht geschmissen. Würgend erzählten die Beamten vor Ort, wie das Gesicht des Kollegen zu warmen Käsefäden zerlaufen war, die an Schultern und Brust kleben geblieben waren.

An der Kreuzung von Fifth Avenue und East Twenty-Seventh Street hatte ein Mann Augenzeugenberichten zufolge versucht, eine Chase Bank zu überfallen – nur um sich danach als »zerfallender Engel« zu bezeichnen, rauszugehen, einen unbeteiligten Postangestellten zu erschießen, sich die Waffe aufs Auge zu pressen und mit lauter Stimme zu verkünden: »Disneyland war auch scheiße.« Dann hatte er abgedrückt.

»Irgendwo hatte der Mann recht«, meinte Bat. »Ich hatte schon wegen der Sesamstraße Albträume. Wegen dem Viech, das in der Mülltonne lebt. Ob Sie’s glauben oder nicht, ich wollte nur wegen dem Viech zu den Cops.«

Tallow untersuchte Bats Gesicht im Rückspiegel auf weitere Anzeichen einer Geisteskrankheit. »Das ist ein Scherz.«

»Hey, das Viech lebt in einer Mülltonne, frisst Scheiße und ergeht sich in verbalen Beleidigungen. Wie viele Straftaten sollen’s denn noch sein? Und jetzt schalten Sie das verdammte Ding aus. Ist ja deprimierend.«

»Mir gefällt’s«, meinte Tallow. »Früher gab’s mal eine Website, die den LAPD-Polizeifunk mit Ambient-Musik hinterlegt hat. Das habe ich selbst mal versucht, hier im Wagen mit einem CD-Player. Hat wunderbar funktioniert.«

»Sind CD-Player in Streifenwagen denn überhaupt erlaubt?«, fragte Scarly.

»Nicht so richtig. Deshalb hat mein Partner das Ding ja wieder rausgerissen. Außerdem mochte er die Musik nicht. Und ich hab ihm nicht erlaubt, ein Satellitenradio für seine beknackten Talkshows einzubauen. Schließlich haben wir uns auf ein Unentschieden geeinigt und einfach den Funk mitlaufen lassen. Und ich muss sagen, man gewöhnt sich dran. An diese Form von Informationsfluss.«

»An diese Form von Scheißefluss«, murmelte Bat. »Wenn ich mir das den lieben langen Tag reinziehen würde, wäre ich längst wahnsinnig. Das ist ein ganzes Meer aus ›Hey, da ist grad was total Verrücktes und Widerliches passiert, und ach ja, da auch, und da auch und da auch, oder ist Ihr Hirn schon abgeraucht?‹ Der reinste Katastrophenporno.«

Im Stillen musste Tallow sich tatsächlich eingestehen, dass der Funk irgendwie schlimmer klang als noch gestern. Doch diesen Gedanken schüttelte er ab, als er die Pearl Street erreichte und hinter einem ECT-Truck parkte. Beim Aussteigen blickte er sich unwillkürlich um. Erst als er sich überzeugt hatte, dass kein Penner im schweren Wildledermantel in der Nähe herumlungerte, führte er die Forensiker zum Eingang.

Bevor Tallow die Tür öffnen konnte, flog sie mit einem Knall auf, und die beiden ECTs, die er schon von gestern kannte, polterten und schnauften und fluchten mit ihrer Sackkarre und einem Turm aus stapelbaren Plastikkisten auf den Gehsteig. »Arschloch«, begrüßte der eine Tallow.

»Freut mich auch, Sie wiederzusehen. Was steht an? Mittagspause oder Schichtwechsel?«

»Weder noch. Wir sind hier weg.«

»Das ist die letzte Ladung«, meinte der andere. »Unsere Fachkompetenz ist an einem anderen Scheißtatort erwünscht. Unsere Fachkompetenz in Sachen dem-CSU-den-Arsch-abwischen.«

Tallow warf einen extrascharfen Blick auf Bat und Scarly, ein klares Nicht jetzt. Daraufhin bleckten die beiden die Zähne wie schlecht dressierte Hunde, die das Nachbarsbaby nicht verspeisen durften. Schleunigst drehte Tallow sich wieder zu den beiden Männern, die ihre Kisten hinten in den Truck pressten. »Wir sind hier noch nicht fertig.«

»O doch«, entgegnete der Erste. »Wir sind hier so was von fertig. Wir haben unsere Befehle. Fragen Sie mich nicht, warum wir die Kackbefehle nicht vor zwei Tagen gekriegt haben, als wir angefangen haben, Ihre kleine Sammlung umzuziehen. Aber nun sind die da oben endlich zur Vernunft gekommen, und wir sind frei.«

Der andere kletterte bereits auf den Fahrersitz. »Und Sie sind am Arsch. Aber das ist uns egal, denn was für ein Arschloch halst dem NYPD schon so eine Scheiße auf?«

»Ein Arschloch wie Sie«, meinte sein Kollege, deutete mit dem Finger auf Tallow und stieg auf der Beifahrerseite ein. Und schon dampften sie ab.

»Was in aller Welt ist da los?«, fragte Scarly.

Tallow zückte sein Telefon. »Ich weiß es nicht. Aber meine Chefin kann es herausfinden.«

Noch als er wählte, parkte ein anderer Truck in der Lücke, die das ECT hinterlassen hatte. Tallow musterte ihn, begriff, was er da sah, und legte auf. An der Seite des Trucks prangte das Spearpoint-Logo.

»Ich übernehme das Reden«, zischte er mit angespannter Stimme. »Sie sagen kein Wort.« Scarly und Bat registrierten seinen Tonfall, nickten und traten in den Hintergrund.

Die Fahrerin stieg aus, eine durchtrainierte Frau mit Kurzhaarschnitt in Spearpoint-Uniform. Die geschwungene Narbe, die sich über eine Seite ihres Nackens zog, stellte sie offen zur Schau. Sie trug eine seltsame, brutal anzusehende Pistole in einem Halfter aus einem Metallrahmen mit Schiebemechanismus, der die Waffe trotz der merkwürdigen Vorrichtungen unter dem Lauf sauber herausgleiten lassen würde. Mit einem Blick auf Tallow steuerte sie die Hinterseite des Trucks an. »Bitte gehen Sie weiter, Sir«, sagte sie gar nicht mal unfreundlich.

Tallow zeigte ihr seine Marke. »Nicht so eilig. Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Oh!« Sie lächelte. »Ganz bestimmt! Wir sollen uns hier um einen Tatort kümmern?«

»Ach wirklich«, sagte Tallow.

»Ja, wirklich«, meinte der zweite Spearpoint-Angestellte, der auf der Beifahrerseite ausstieg, ein Mann unter eins achtzig, der mit ziemlicher Sicherheit die meisten Muskeln seines Körpers mit Namen kannte. Bei dem Typen wirkte schon ein simples Blinzeln, als würde er verhasste Fettzellen verbrennen. »Gibt’s ein Problem, Officer?«

Tallow entdeckte stoßfeste Touchscreen-Geräte an ihren Gürteln und Bluetooth-Stöpsel in ihren Ohren, und an der Brust, wo normalerweise Namensschildchen hingehört hätten, hatten die beiden sonderbare Touchscreen-Streifen. »Detective«, sagte er. »Und was das Problem angeht, bin ich mir noch nicht sicher. Soweit ich weiß, kümmern sich Crime Scene Unit und ECTs um Tatorte. Also warum erzählen Sie mir nicht, was Sie hierherführt, und dann sehen wir weiter?«

Der Typ öffnete die hintere Tür des Trucks. Es schien ihn tief in der Seele zu stören, dass es ihm nicht vergönnt war, die Tür einfach auszureißen und aufzufressen. »Unser Boss hat gesagt, wir sollen herkommen und den Müll in Apartment 3A einsammeln.«

Die Frau, die sich offenbar entschlossen hatte, die Defensive zu übernehmen, stellte sich buchstäblich zwischen ihren Partner und Tallow, obwohl Tallow sich nicht mal gerührt hatte. »Also ich schätze, unser Chef hat Ihren Chef angerufen. Ist doch kein Geheimnis, wie überlastet das CSU ist. Deshalb wurden ja die ECTs geschaffen, aber jetzt sind die auch überlastet. Und nun diese Wahnsinnsaufgabe, nach allem, was man so hört … Jedenfalls hat unser Chef Ihren Chef angerufen und angeboten, ein bisschen auszuhelfen. Mit uns.«

»So was«, meinte Tallow. »Wie nett. Aber bei der Sicherung von Spuren müssen Abläufe eingehalten werden, die etwas komplexer sind als ›den Müll einsammeln‹, und deshalb werden solche Aufträge nicht nach außen vergeben.«

»Wir sind ausgebildet«, sagte der Mann, während er einen schwarzen Seesack herauswuchtete. »Deshalb haben sie uns ja geschickt. Wir haben Kurse gemacht, wir haben Bescheinigungen. Junge, wahrscheinlich haben wir mehr auf dem Kasten als Ihre Forensiker. Weiß doch jeder, wie die drauf sind.«

Nun rührte Tallow sich doch, und zwar um sich zwischen die Spearpoint-Leute und seine Forensiker zu schieben. »Sagen Sie mir bitte, mit wem Ihr Chef gesprochen hat.«

Die Frau saugte an ihren Zähnen und sah ihren Partner an, bis dieser einen chromblitzenden Transportwagen abstellte, ihren Blick erwiderte und mit den Schultern zuckte.

»Na gut.« Sie tippte auf das rechte Ende des Glasstreifens auf ihrer Brust, neigte den Kopf, legte einen Finger an ihren Ohrstöpsel und sagte: »Zentrale, bitte.«

»Ich fass es nicht«, hauchte Bat. »Sie hat einen Kommunikator aus Star Trek.«

Tallow schüttelte den Kopf. »Hat sie nicht. Ähnliche Geräte wurden schon vor Jahren für den Einsatz in Krankenhäusern getestet, ebenfalls sprachgesteuert, aber technisch weniger weit entwickelt. Hab ich in einer Zeitschrift gelesen. Das hier ist bloß die aktuellere Version.«

»Haben wollen«, sagte Bat.

»Du kannst es ihrer Leiche abnehmen, wenn ich mit ihr fertig bin«, fauchte Scarly.

»Benehmt euch«, flüsterte Tallow.

Nach einer kurzen Unterredung nickte die Frau ihm zu. »Die Einsatzerlaubnis wurde uns durch einen Captain Waters aus dem 1st Precinct erteilt?«

Tallow unterdrückte ein Stöhnen, atmete tief ein und setzte eine lächelnde Maske auf. »Das ist der Chef meiner Chefin. Wir kommen mit rauf. Aber nicht …« Er hob beschwichtigend die Hände. »… um Sie zu überwachen, sondern um den Tatort noch einmal in Augenschein zu nehmen.«

Die Frau lächelte einigermaßen erleichtert und streckte die Hand aus, als hätte sie sich kurzerhand entschieden, Freundschaft zu schließen. »Cool. Ich bin Sophie.«

Tallow passte die Kraft seines Händedrucks exakt an ihren Händedruck an. »John. Das sind meine Kollegen Scarlatta und Bat.«

»Bat?« Sophie grinste den Forensiker an, der ihre Brust aus rein technologischem Interesse studierte. »Wofür steht das denn?«

»Batmobil«, erwiderte er.

»Benehmen Sie sich, verdammt noch mal«, zischte Tallow und ging Richtung offene Haustür.

Als Sophie nach dem Seesack griff, schnitt sie eine Grimasse. »Mann, Mike, hast du da dein Auto reingepackt?«

»Was kann ich dafür, wenn du nicht so hart trainierst wie ich?«

Sophie lud sich den Seesack auf. Tallow war sofort klar, dass er das Ding nicht mal hätte anheben können; für sie war es kein Problem. Nachdem Mike noch eine Menge gefaltete Plastikkisten auf den Wagen gestapelt hatte, hielt Tallow ihnen die Tür auf.

»Mike«, sagte Mike, ohne ihn anzusehen.

»John«, erwiderte Tallow. »Nette Kanone.«

Im Hausflur musterte Mike ihn, als wäre er in seiner Achtung gestiegen. »Die ist Ihnen aufgefallen, was?«

»Ja. Das Modell und die Vorrichtungen am Lauf kommen mir nicht bekannt vor.«

»Natürlich nicht, Kumpel. Die Dinger werden nur für Spearpoint hergestellt.«

»Sie haben maßgeschneiderte Waffen?«, zeigte Scarly sich wider Willen interessiert.

Mike freute sich sichtlich. »Klar. Wollen Sie mal sehen?«

»Mike«, ermahnte Sophie ihren Kollegen.

»Hey, wir sind doch alle Freunde.« Mike stellte den Wagen ab und zog seine merkwürdige Kanone.

»Eine SIG?«, fragte Scarly mit zweifelnder Stimme und hüpfte auf und ab, um sie aus verschiedenen Winkeln zu begutachten.

»Eine SIG Sauer X911. Exklusivanfertigung für Spearpoint. Sehen Sie das Abzeichen auf der Oberseite und hier am Griff? Und schauen Sie sich den Griff mal genauer an – das ist Grenadill-Holz. Das Zeug ist so hart, dass man es mit Wolframcarbid bearbeiten muss. Und wissen Sie, was man aus Wolframcarbid macht? Bohrer für den Bergbau!«

»Aber was ist das für ein Teil unter dem Lauf, auf der Schiene da?«

»Eine Kamera. Sobald die Waffe entsichert wird, schaltet sie sich ein und streamt ein Videosignal in die nächste Spearpoint-Zentrale. Und wenn ich das Teil hier hochklappe … sehen Sie? In der Vertikalen springt es an, und ich habe einen Nachtsichtschirm vor dem Zielfernrohr. Natürlich merkt die Kamera, wenn es dunkel ist, und aktiviert die Nachtsicht selbstständig. Und ganz vorne ist noch eine Laser-Zielvorrichtung, genau … hier.«

»Du meine Güte. Das ist ja krass. Aber ist das Ding durch den ganzen Kram nicht etwas vorderlastig?«

»Ist alles aus superleichten Materialien. Schadet der Präzision nicht, ganz im Gegenteil. Und wissen Sie was? Neulich wurde ein neues Modell getestet. Ein Prototyp, der Raketengeschosse abfeuert.«

»Das ist nicht Ihr Ernst. Wie die alte Gyrojet?«

»Nie gehört. Aber ich hab gesehen, wie sie das Baby abgefeuert haben. Kein Rückstoß. Und das bei Kaliber-.50-Raketengeschossen.«

»Bist du dann irgendwann fertig mit Spielzeugvorführen?«, fragte Sophie, die sich bemühte, Bat zu ignorieren, der sehr dicht vor ihr stand.

»Ich würde Ihrer Brust gerne einen Heiratsantrag machen«, sagte Bat.

»Bat! Bei Fuß! Sofort!«, keifte Tallow. Und an Sophie gewandt: »Er interessiert sich bloß für Ihre Kommunikationstechnik. Bat steht auf Elektronik.«

Sophie wich einen Schritt zurück. »Ich finde es trotzdem ziemlich unangemessen.«

»Was soll man machen?« Tallow lächelte ein Lächeln, das viel freundlicher wirkte als das bösartige Grinsen in seinem Inneren. »Er ist Forensiker. Weiß doch jeder, wie die drauf sind.« Als er Sophies gekränkten Blick sah, bereute er seine hämische Freude sofort. Sie hatte versucht, sich anständig zu verhalten, und er hatte sie behandelt wie Dreck. Nicht zum ersten Mal wünschte er, er hätte ein besseres Händchen für Menschen. Doch bevor er das Mietshaus zum ersten Mal betreten hatte, war er nie wirklich darauf angewiesen gewesen. Er begriff, dass er das Mietshaus hasste, diesen luftleeren Raum mit seiner dicken Schicht aus menschlichen Absonderungen.

»Wo ist der Lift?«, fragte Mike und steckte seine Kanone ins Halfter. Tallow ging es gleich etwas besser, als er ihn über den fehlenden Aufzug informieren und seinen Gesichtsausdruck beobachten konnte. Doch dann hob Mike den Wagen samt Plastikkisten mit einer Hand auf, nahm Sophie mit der anderen den Seesack ab und joggte die Treppe mit einem lockeren »Zweiter Stock, oder?« hinauf.

»So sind sie«, sagte Scarly, »die Männer, die alle ihre Muskeln mit Namen anreden.«

»Dachte ich mir vorhin auch«, meinte Tallow. »Ein echter Fitnessstudiofreak.«

»Nein, ich meine, dass er seinen Muskeln Namen gegeben hat. Wetten, dass er einen Muskel Steve nennt?«

Tallow ließ Sophie den Vortritt. »Nach Ihnen.« Als Bat ihr hinterhersteigen wollte, packte er ihn am Kragen. »Reißen Sie sich gefälligst zusammen, Bat.«

»Ich will sie nur mal am Unterleib berühren. An diesem Gürteldings.«

»Wenn Sie sich nicht schleunigst in den Griff kriegen, berühre ich Sie auch gleich am Unterleib«, sagte Tallow ganz leise. »Ich will, dass Sie die beiden genau beobachten. Als wären die beiden der Tatort.«

»Heißt das, wir dürfen uns endlich beschweren?«, fragte Scarly.

»Erst wenn wir oben sind. Aber Sie beschweren sich nicht, okay? Sie stellen Fragen, Sie vollziehen ihre Abläufe nach, Sie erkundigen sich nach den tollen Ideen ihrer schlauen Firma. Kapiert?«

»Kapiert, John.«

Das Spearpoint-Duo glotzte durch das Loch in der Wand ins Apartment 3A.

»Ach du Kacke«, sagte Mike, während er das frische Absperrband herunterriss. »Könnte sein, dass wir zweimal fahren müssen.«

»Okay«, meinte Scarly. »Wie stellen Sie sich das vor, Mike? Also wenn Sie die Waffen vor Ort aufgenommen und verladen haben – fahren Sie das Zeug dann direkt zu uns zum One Police Plaza? Wir haben guten Kaffee.«

»Nee.« Mike stand noch immer vornübergebeugt da, die Hände auf den Knien, und spähte ins Apartment. »Ist heute schon zu spät dafür. Wir lagern sie über Nacht ein und fahren sie morgen rüber.«

»Sie …«, fing Scarly an und schüttelte die Hand ab, die Tallow ihr auf die Schulter legte. Doch sie hatte verstanden. »… na schön. Aber Sie wissen schon, dass die Beweismittelkette dadurch ein paar Glieder länger wird und Sie mehr Papierkram zu erledigen haben, oder? Es wäre wirklich einfacher, das Zeug gleich zum One PP zu fahren.«

»Für den Papierkram haben wir eigenes Personal«, erwiderte Mike geistesabwesend.

Sophie entfaltete eine Plastikkiste. »Sie dürfen nicht vergessen, dass wir deutlich besser besetzt sind als Sie. Spearpoint ist so gut kapitalisiert, dass wir städtische Aufträge wie diesen kostenlos übernehmen können.«

Jetzt war Tallow richtig überrascht. »Sie stellen der Stadt keine Rechnung?«

»Warum sollten wir? Wäre schlecht fürs Geschäft.«

»Aber ist es nicht noch schlechter fürs Geschäft, nicht bezahlt zu werden?«, fragte Bat, der vergeblich versuchte, sich bei Sophie beliebt zu machen, indem er weitere Kisten entfaltete.

»So funktioniert das nicht. Durch überteuerte Preise erdrückt man die Konkurrenz nicht. Nein, man unterbietet die anderen, man macht sich nützlich und schließlich unentbehrlich, und dann bietet man gegen einen geringen Aufpreis einen kleinen Extra-Service an. Und dann noch einen. Und noch einen. Und ehe das Zielobjekt weiß, wie ihm geschieht, hat es einem sein ganzes Geld gegeben und die Konkurrenz ist tot.« Sophie schien sich selbst reden zu hören. Sie lächelte entschuldigend. »Tut mir leid. Ich weiß, wie das klingt. Aber den privaten Polizeidienstleistern gehört nun mal die Zukunft. Ein paar haben sich ja schon etabliert: Big Six Towers Public Safety in Queens, Co-Op City DPS in der Bronx …«

»Aer Keep«, meinte Tallow.

»Aer Keep! Das sind wir.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Ja. Spearpoint bildet uns aus – Beweismittelsicherung, Deeskalation bei Massenaufläufen und so weiter. Polizeiarbeit eben. Weil es nun mal viel sinnvoller ist, wenn wir so was übernehmen. Und im Gegensatz zu Ihnen können wir in vollem Umfang zur Verantwortung gezogen werden. Wenn wir die vereinbarten Leistungen nicht erbringen, kann man uns verklagen. Sie nicht.«

»So ist Spearpoint also groß geworden? Indem nacheinander alle Konkurrenten ausgeschaltet wurden?«

»Ich mein ja nur«, sagte Sophie. »So läuft es halt. Und so wird es auch in Zukunft laufen. Die öffentliche Hand hat einfach nicht das nötige Budget. Verstehen Sie? Und schauen Sie sich das mal an.« Sie deutete auf die Apparatur an ihrem Gürtel. »Sehen Sie das Ding da? Dadurch weiß die Zentrale jederzeit, wo ich mich befinde. Durch eine biometrische Sperre funktioniert es nur bei mir. Es ist mit Umweltsensoren ausgestattet, es liest meine Körperwerte aus, es lauscht auf Ausschläge im Geräuschpegel der weiteren Umgebung. Und es ist mit dem Spearpoint-Netz verschaltet, sodass ich auf der Spearpoint-Karte bin.«

»Auf der Spearpoint-Karte«, wiederholte Tallow.

»Genau. Wie soll ich das erklären … Ich bin einerseits hier in der Stadt. Aber andererseits bin ich ein Punkt auf einer Karte, die über die Stadt gelegt wird. Auf unserer Karte. Wir kriegen alle Verkehrsinformationen rein, alle unsere Leute und Einheiten sind bewegliche Punkte auf der Karte. Wir haben sichere Zonen in der ganzen Stadt, die natürlich nicht öffentlich ausgeschildert sind; man sieht sie nur, wenn sie auf der Spearpoint-Karte erscheinen. Außerdem ist die Karte mit dem Webcam-Ertrag verlinkt, über die … wie heißt das noch mal, Mike?«

»Ambient Security«, murmelte Mike im Inneren der 3A.

»Stimmt, Ambient Security. Gegen eine kleine Aufwandsentschädigung erhalten Ladenbesitzer einen Sticker fürs Schaufenster, auf dem ›Dieses Geschäft wird von Spearpoint Security überwacht‹ oder so steht, und eine Webcam mit einer WLAN-Speicherkarte. Was diese Kamera sieht, ist unser Ertrag. Der Ertrag wird an unsere Server gesandt und von einem Lesealgorithmus durchforstet, einer Software, die ungefähr so schlau ist wie ein Welpe, der aufspringt und bellt, wenn in seinem Blickfeld etwas sehr Ungewöhnliches passiert. Aber das Entscheidende ist, dass Spearpoint dadurch hinter Schaufenstern in ganz Manhattan Kameras hat, die live mitfilmen und alles weitergeben, was sie draufkriegen. Da kann die Polizei nicht mithalten.«

»Natürlich nicht«, meinte Bat. »Weil das richtige Big-Brother-Scheiße ist.«

»Ja, vielleicht – wenn es den Leuten vom Staat aufgezwungen wird. Aber in unserem Fall handelt es sich um eine Begleiterscheinung eines Geschäfts zur Gebäudesicherung. Einer Schutzmaßnahme.«

Bat schnaubte. »Wohl eher Schutzgelderpressung. Aber nein! Die Gebäudesicherung ist ja nur eine Begleiterscheinung des privaten Kameranetzes, das Sie über ganz New York legen.«

»Was zur Hölle?«, rief Mike im Inneren des Apartments.

Tallow trat vor den anderen ein und sah, wie Mike mit den Händen in den Hüften vor der Rückseite der Eingangstür stand. Inzwischen hatten die ECTs so viele Waffen entfernt, dass Tallow sich zu ihm gesellen konnte, ohne auf Zehenspitzen zu staksen und Riesenschritte zu machen. »Ja, das dachte ich mir auch«, sagte er. »Haben Sie vielleicht eine Idee, wie das Ding funktioniert? Ich bin völlig ratlos.«

»Na klar«, erwiderte Mike. »Das ist eins von unseren Modellen. Scheiße, wie kommt das Teil denn hierher?«

Seit er Sophie und Mike kennengelernt hatte, war Tallow übel. Jetzt bestand sein Magen nur noch aus Säure. »Moment. Soll das heißen, dass das ein Spearpoint-Sicherheitssystem ist?«

»Sieht mir jedenfalls sehr danach aus. Sophie?«

Sophie war bereits hinter ihnen aufgetaucht. »Hast recht. Vielleicht das Spartan Wave, Version sieben? Ist ein paar Jahre alt, aber absolut high-end.«

Tallow glaubte nicht, dass er Mike jemals nachdenklicher erleben würde als in diesem Moment. Für Mike war es echte Schwerstarbeit, sein Gedächtnis zu durchforsten. »Stimmt. Ich war mal dabei, als eins von den Dingern installiert wurde. Für irgendeinen Banker. Wir haben es hinten an der Tür seines Panikraums angebracht.«

»Sagen Sie mir, wie es funktioniert«, drang Bats tonlose Stimme von der anderen Seite herüber.

Mike wischte eine dünne Staubschicht von der Gerätschaft. Im Augenwinkel sah Tallow, wie Scarly zusammenzuckte. »Das ist ein Magic-Card-System«, erklärte Mike. »Um das Ding einzubauen, muss man die ursprüngliche Tür ausweiden und einen Stahlkern, einige Elektrobolzen …«

»Ich hab keine Ahnung, was das sein soll«, meinte Tallow.

»Stäbe, die sich aus dem Inneren der Tür in den Rahmen schieben und dort verankern. Und noch anderes Zeug, aber das Wichtigste ist der Energiesparsensor, der an einer langlebigen Batterie hängt. Wenn man sich genau da hinstellt, wo Ihr dürrer Kollege steht, und die Schlüsselkarte schwenkt wie einen Zauberstab, registriert der Sensor die Karte und weckt die Tür auf. Die Magneten und Motoren fahren hoch, die Tür entriegelt sich.«

»Die Karte verfügt also auch über eine Stromquelle?«

»Ja, aber … Sie kennen doch diese Sportschuhe mit den Blinklichtern an der Ferse, die die Kids heutzutage tragen? Die haben Batterien, die sich durchs Rumlaufen aufladen, und die Karte funktioniert genauso. Man muss sie nur ein bisschen schwenken, dann hat man genug Saft, um die Karte zu aktivieren und die Tür zu öffnen. Aber ohne Zauberstab kommt da keiner rein. Da könnte man mit einem Raketenwerfer auf die Tür feuern – wenn sich der Rauch verzieht, würde sie einem immer noch den Stinkefinger zeigen.«

»Magneten«, sagte Bat. Tallow ging zum Loch in der Wand, schaute raus und sah, wie Bat mit einer ramponierten Kreditkarte zwischen den Zähnen in der Umhängetasche grub und eine alte, runde, übel zugerichtete Tabakdose herauszog. Das Blech verschwand fast vollständig unter Metallstreifen und aufgewickeltem Draht. Er öffnete die Dose und zauberte einen schwarzen Metallpuck hervor, an dessen Unterseite okkultes Elektronikzeug klebte, legte einen kleinen, rot lackierten Schalter auf der Oberseite um und fuhr mit dem Puck vom linken Rand der Tür bis zur Mitte. Es klackerte. Bat machte weiter. Er fuhr beide Seiten sowie Ober- und Unterkante der Tür ab, bevor er den deaktivierten Puck in der Dose verstaute und die Kreditkarte neben dem ursprünglichen Schloss in den Türspalt schob. Zehn Sekunden später sprang die Tür auf.

»Was zur Hölle«, ächzte Mike.

Bat stellte sich in die offene Tür und sagte: »Ich bin ein Crime Scene Unit Detective des New York City Police Department, Sie sind ein abstoßender Scheißmongo, und ich kann alles.«

»Ich glaube, wir gehen jetzt lieber. Schön, Sie kennenzulernen«, meinte Tallow zu den Spearpoint-Menschen und sprintete die Treppe hinunter, ohne noch einen Blick auf die Stelle an der Wand zu werfen, wo der gesamte Kopfinhalt seines Freundes Jim Rosato zerplatzt und hinabgeglitten war.

Erst kurz vor dem Wagen ließ er sich wieder mehr Zeit. Die wutentbrannten Forensiker lagen nur zehn Sekunden hinter ihm. »Einsteigen«, sagte Tallow. »Ich fahr Sie zurück zum One PP. Und dann rede ich mit meiner Lieutenant.«

»Anscheinend sollten Sie lieber mit Ihrem Captain reden«, knurrte Scarly.

»Nein. Ich muss meine Lieutenant dazu bringen, sich um den Captain zu kümmern. Einsteigen.«

Sie stiegen ein. Als Tallow aufs Gas trat, tauschten Scarly und Bat einen nervösen Blick, doch keiner der beiden erkundigte sich, warum er es so eilig hatte. »Wie gearscht sind wir eigentlich?«, fragte Bat stattdessen. »Auf einer Skala von eins bis zehn?«

Tallow verkniff sich seine instinktive Antwort und wägte das Ganze noch ein wenig ab. »Eigentlich wollte ich dreizehn sagen. Aber ich fürchte, da waren wir schon, bevor unsere Beweismittel den Wölfen zum Fraß vorgeworfen wurden. Alles, was ich habe, sind Zusammenhänge, die ich nicht beweisen kann, weil es keine verdammten Beweise gibt. Wir wissen nicht mal, wen der Typ zuletzt umgebracht hat. Und wenn ich einem Profiler erzähle, was ich mir so denke, lacht der sich bloß tot.« Im Rückspiegel sah Tallow, wie Bat an seinem Tablet und seinem WLAN-Empfänger rumspielte. »Hey, Bat. Sie haben gefragt, also hören Sie auch zu!«

»Ich hör ja zu. Reden Sie nur weiter.«

Doch Tallow stellte fest, dass er bereits in einer Sackgasse gelandet war. »Falls Sie keine DNA aus der Farbe herauskitzeln können und falls die nächste Ladung Waffen keinen Mord von letzter Woche hergibt, werden uns die Beweismittel erst mal nirgendwohin führen. Das heißt, nein. Das würde gar nicht reichen. Die Waffen müssten uns schon ein paar Morde liefern, um das Bild ein bisschen weiter auszumalen.«

»Wollen Sie immer noch mit der Asservatenkammer reden?«, fragte Scarly.

»Das will meine Lieutenant über ihre Kontakte erledigen. Im Moment reicht es mir zu wissen, dass unser Mann einen Bekannten in der Asservatenkammer hatte. Sind Sie vorhin im Apartment eigentlich dazu gekommen, auf die Gerüche zu achten?«

»War ein bisschen viel los, John«, meinte Bat.

»Dachte ich mir schon. Verdammt.«

»Ich frage mich, ob irgendein Spearpoint-Mitarbeiter in den letzten Jahren einen bedauerlichen Unfall hatte«, meinte Scarly nachdenklich. »Vielleicht ein Installateur.«

»Scheiße«, knirschte Tallow gequält hervor. »Sie haben absolut recht.«

»Angenommen, unser Mann lernt in einer Bar einen Spearpoint-Techniker kennen und sagt: ›Hey, könntest du mir einen kleinen Gefallen tun? Die Bezahlung gibt’s bar auf die Kralle und ein sattes Trinkgeld obendrauf!‹ Und plötzlich fällt eine Sicherheitstür wundersamerweise aus dem Lager in den Laster des Technikers, und an einem ruhigen Nachmittag oder einem Sonntag baut er das Ding ein. Aber leider, leider hat unser Mann den Techniker gesehen. Genau wie den Cop aus der Asservatenkammer. Und der Cop ist tot.«

»Varangian Security«, sagte Bat hinten, »war ein privates Sicherheitsunternehmen, das vor zwanzigirgendwas Jahren in Rochester, New York, von Phil Lyman gegründet wurde und seine Dienste im gesamten Dreistaateneck anbot. Dem Expansionskurs der Firma wurde ein jähes Ende gesetzt, als der charismatische Lyman bei einem tragischen Vorfall im Jahr bla bla bla … zwei Jahre später von Spearpoint Security aufgekauft und darin aufgegangen.«

»Was?«, fragte Tallow.

»Was was? Ich lese nur aus Wikipedia vor. Aber der Bildschirm Ihres Tablets ist total im Arsch. Ich komme mir vor, als würde ich durch eine Schicht aus altem Sperma lesen. Aber egal. Ich gehe nur den Spuren nach, die wir haben. Ich sage Ja zum Wahnsinn.«

Tallow musste an einer Kreuzung halten. Ein Bus mit einer glitzernden Digitalanzeige an der Seite ratterte vorüber. Am Broadway hatte schon wieder ein Musical Premiere, für das man einen alten Disney-Streifen verwurstet hatte. Eine Animation rieselte über die Hexels – die hübscheste, weißeste »Indianerprinzessin« aller Zeiten richtete die Federn in ihrem Haar, blickte sich über die Schulter nach Tallow um und zwinkerte ihm lächelnd zu.

Er fuhr weiter. »Wo Sie das Tablet schon eingeschaltet haben … schlagen Sie doch mal Werpoes nach.«

Bat tippte vor sich hin und machte leise ts ts. »Diese blöde Autokorrektur. Wempus? Wie schreibt man das?«

»Woher soll ich das wissen? Sie hat Werpoes gesagt. W–e–r–«

»Moment«, sagte Bat. »Moment. Shit. Halten Sie an.«

»Was?«

»Halten Sie verdammt noch mal an!«

»Meine Güte, Bat …« Zwanzig lebensbedrohliche Sekunden später hatte Tallow einen Blick in die Rückspiegel geworfen und am Straßenrand gebremst.

Bat beugte sich vor und schob ihnen das Tablet unter die Nase. Er hatte das Foto einer Art Perlenstickerei aufgerufen – ein breiter Streifen kunstvoll verflochtener Muschelschalen, die seltsame Muster und Formen und vereinzelte gewellte Winkel bildeten.

»Das nennt man Wampum«, sagte Bat. »Wampum-Gürtel.«

Scarly erkannte die Ähnlichkeit sofort. »Fuck.«

»Hier steht, dass diese Muschelschalendinger von den Ureinwohnern gewoben wurden, um Geschichte und Gesetze zu verschriftlichen, gesellschaftliche Ereignisse zu würdigen und Informationen zu kommunizieren … auch hier in Manhattan, bevor die Europäer kamen. Und als sie dann kamen und sahen, wie wichtig den Eingeborenen ihr Wampum war, haben sie es selbst hergestellt. Als Währung.« Bats schartiger Fingernagel klopfte auf den Bildschirm. »Die Dinger waren Kunstwerk und Buch und Werkzeug in einem, John. Wampum-Gürtel waren ihr Gedächtnis.«

Tallow rieb sich die Augen. Studierte das Foto des Wampum-Gürtels noch einmal. Und konnte die Ähnlichkeit immer noch nicht leugnen. Der Muschelgürtel war feiner gearbeitet, Wirbel waren schwieriger zu bewerkstelligen … Aber diesen Gürtel hatte ja auch kein Verrückter gewoben. Die Ähnlichkeiten waren verblüffend. Der Mörder hatte das ganze Apartment in eine Gedächtnismaschinerie aus Waffen verwandelt.

Die beiden Forensiker sahen ihn an.

»Gut«, sagte Tallow. »Jetzt wissen wir, was ihn antreibt. Eine Motivation, die über die Totemphase hinausgeht. Ein weiteres Stückchen Information. Aber daraus können wir noch keinen Fall stricken. Sie müssen zurück zum One PP. Ich hab’s doch gleich gesagt – wenn der Fall gelöst wird, dann vom CSU. Und bisher fühle ich mich bestätigt.«

»Was sind Sie nur für ein fauler Drecksack«, sagte Scarly. Doch sie grinste.