Zweiundzwanzig
Der Jäger musste sich eine Waffe beschaffen.
Auf seiner kommenden Arbeit lasteten unangenehm viele Bedingungen. Er brauchte die Waffe bis zum morgigen Tag. Ihm war klar, dass ihm in seinem nahen Zufluchtsort im Süden der Insel nur eine begrenzte Geldsumme zur Verfügung stand. Er ertrug es nicht, mit der U-Bahn zu fahren. Und seine nächste Jagd würde eine rasche, herausfordernde Reaktion nach sich ziehen.
Als der Jäger seinen Weg nach Westen fortsetzte, war dem modernen Mann in ihm bewusst, dass er einen Teil Neu-Manhattans betrat, der meist Hell’s Kitchen genannt wurde; nur in den Schaufenstern der Immobilienmakler hieß er Clinton. Trotzdem ließ er vorübergehend das alte Manhattan vor seinen Augen aufbranden. Zufrieden folgte er dem Fluss, den die ersten Niederländer auf der Insel »Great Kill« getauft hatten.
Seine Hand tastete in der Tasche und zog als Erstes ein Paar dünner Lederhandschuhe, als Zweites einen Ring heraus. Der Jäger kannte weitaus schönere Handarbeiten als diesen Ring, ja, er hatte selbst schönere angefertigt. Es handelte sich um einen Kranz aus aufgewickeltem Draht, gerade weit genug für den Zeigefinger seiner rechten Hand im Handschuh. Eine grobe, aber feste Fassung umschloss ein Stück Kristall, das er an der Mündung des Harlem River Ship Canal gefunden und sorgfältig bearbeitet hatte. Die scharfe, geschliffene Spitze des Kristalls ragte einige exakt bemessene Millimeter aus den Drahtklauen der Fassung – eine zweckmäßige Schlagwaffe für absolute Notfälle. Bei einer Gelegenheit hatte der Jäger damit eine Halsschlagader aufgerissen, ein andermal einen Kehlkopf zerschmettert.
Der Jäger streifte die Handschuhe über und steckte den Ring an den Finger.
Zögerlich filterte er Mannahatta aus seinem Blickfeld und suchte sich einen Weg durch die Lagerhallen und Autowerkstätten und den grauen Schlamm der Parkplätze. Er spürte, dass er sich durch den trostlosesten Winkel dieses Zipfels der Insel bewegte.
Schließlich fand er sein Ziel: ein vierstöckiges Gebäude mit einer zugenagelten Pizzeria an der Vorderseite. Die Seitentür, hinter der eine Treppe zu den oberen Etagen führte, stand wie immer einen Spaltbreit offen. Vor dieser Tür musste man sich positionieren, woraufhin sie sich knarrend öffnen und den Blick auf einen fetten Mann freigeben würde, der mit einer schlecht verborgenen Waffe in ihrem Windschatten lauerte.
Auch diesmal schwang die Tür nach außen, und im dämmrigen Licht stand ein Scheusal in einem schmuddeligen orangefarbenen Trainingsanzug. Dunkles, spärliches Haar spross aus seinem Schädel, der offenbar vor einiger Zeit in eine landwirtschaftliche Apparatur geraten oder gehalten worden war. Als wäre sein Gesicht einst flüssig gewesen, mit einem Finger verwirbelt worden und getrocknet.
»Ich will Mr. Kutkha sprechen«, sagte der Jäger.
»Gibt’s hier nicht«, erwiderte das Scheusal erwartungsgemäß.
»Sag ihm, dass ein treuer Kunde und alter Stammesverwandter zu Besuch ist.«
»Hast du auch einen Namen?«
»Sag ihm, du hast nach meinem Namen gefragt, und ich habe gesagt: Ich bin ein menschliches Wesen.«
Das Scheusal zuckte mit den Schultern und schob sich rückwärts die kurze Treppe hinauf, die Hand stets an der Waffe in seinem hinteren Hosensaum. Auf dem Treppenabsatz gab es die Information weiter, ohne den Jäger aus den tiefliegenden Augen zu lassen.
Sekunden darauf hörte der Jäger ein Lachen wie klimpernde Knochen in einer Blechdose und ein scharfes Keifen: »Lass ihn rein, lass ihn rein!« Mit einer hässlichen, fetten Klaue winkte das Scheusal den Jäger nach oben. Auf dem Treppenabsatz angekommen, entdeckte der Jäger einen zweiten, kleineren Mann mit einem soldatischen Haarschnitt und dem übermäßig trainierten Körper der modernen Leibesnarzissten. Ein Mann, der den Großteil seiner Muskeln mit Namen kannte. Der Mann streckte die Hand aus. Widerspruchslos händigte der Jäger seine Tasche aus. Ohne ein Wort zu sagen, führten sie ihn zur Tür des größten Raums der Etage, der wie immer vom Summen der Maschinen erfüllt war. Doch nicht mal das Summen konnte die Geräuschkomposition, die plötzlich aus dem nächsten Stockwerk drang, vollständig übertönen: Schreie wie von einer Katze, die in Stücke gerissen wurde; ein tiefes Dröhnen, das die Decke beben ließ; das Wimmern einer Person, die weinen wollte, aber nicht zu Atem kam.
Der Jäger signalisierte seinen Begleitern nicht, dass er den Lärm gehört hatte. Er ließ sich von dem Mann mit dem soldatischen Haarschnitt abtasten.
Als der Jäger den Raum betrat, fiel ihm zuerst der Junge neben der Tür auf: ein etwa Sechzehnjähriger mit vorspringenden Augenbrauen, breiter Nase und dem Gesichtsausdruck eines gründlich geprügelten Welpen. Da der Jäger seine Hände nicht sehen konnte, ging er auf ihn zu, um ihn zu töten.
Doch Kutkhas Stimme ließ ihn innehalten. »Junge! Du kannst nicht so herumstehen, wenn ein wahrer Mann den Raum betritt! Willst du sterben?«
Kutkha war dünn wie Reisig und hatte ein Gesicht wie abgeblätterter Feuerstein. In der Haltung eines Königs saß er auf einem kleinen buttergelben Sofa, das von zwei großen, unermüdlich rotierenden Ventilatoren flankiert und zusätzlich von zwei kompakten Lüftern gekühlt wurde, die vor ihm auf dem Boden kauerten wie knieende Sklaven. Der Jäger kannte Kutkha seit Langem – der Mann beschwerte sich ohne Unterlass über die Hitze und war zugleich ganz versessen auf Kleidung. Diesmal trug er seltsame, lange Shorts aus feiner Baumwolle und weißer Seide, eine kunstvoll gemusterte Weste und sonst nichts, während er die peitschenden Tundrawinde der neuesten Klimatechnik genoss.
Unter hämischem Lachen über den zur Statue gefrorenen Jungen erhob Kutkha sich und schüttelte dem Jäger die Hand. »Das menschliche Wesen persönlich! Mein entfernter Verwandter!« Und an den Jungen gewandt: »Ein menschliches Wesen! Verstehst du? Das ist ein Angehöriger der Lenni Lenape! Weißt du, was das bedeutet? ›Die Menschlichen Wesen‹! Dieser Mann und ich, wir sind vom selben Blut. Deine Familie?« Er spuckte auf den Boden. »Deine Familie ist Dreck.« Kutkha widmete sich wieder dem Jäger. »Mein Bruder hat eine Moskowitin gevögelt. Was soll man machen? Es gibt Menschen, die würden sogar das Vieh vögeln, wenn es lange genug stillhalten würde. Meine Familie! Ständig setzen sie mir diese kleinen Spermien in die Subway, um sich bei mir einzuschleimen. Damit ich runter nach Brighton Beach komme, Krakauer Würste esse, die sie aus verdammten Hunden machen, und mir anhöre, wie ich ihnen mein ganzes verdammtes Geld schenken kann! Diese Leute haben mein Volk viel zu lange gefickt. Wenn man mit einem Mikroskop in meine verfickte DNA gucken würde, würde man einen Moskauer sehen, der auf meine Gene pinkelt und seinen Urin als Sommerregen ausgibt!« Wieder ging Kutkha auf den unglücklichen Jungen los. »Kapiert? Ich bin Itelmene! Mein Volk ist nach Alaska und runter nach Amerika gelaufen und zu seinem Volk geworden! Ich teile mehr Blut mit ihm als mit dir. Du bist wie das Zeug, das aus meinem Arsch fällt, wenn ich italienisch essen war!«
Kutkha kehrte zu seinem Sofa zurück – der einzigen Sitzgelegenheit im Raum. Der Jäger hatte nichts anderes erwartet. Er kannte Kutkha. Er musste zwischen den Lüftern stehen wie ein Bittsteller vor dem Thron. Angesichts der kommenden Entwicklungen hatte ihm bisher ein winziger Stein des Bedauerns auf dem Herzen gelegen. Doch als er wie ein Bauer zwischen den kleinen, brummenden Maschinen stand, zerfiel der Stein zu Staub.
Mit einem hochmütigen Wink deutete der Russe auf den Jungen. »Du kannst in seiner Gegenwart sprechen. Ich bin mir nicht mal sicher, dass er unsere Sprache versteht.«
Nach einem kurzen, abschätzigen Blick auf den Jungen beschloss der Jäger, der Aufforderung zu folgen. »Ich brauche eine Waffe. Vorzugsweise eine Waffe der Polizei.«
»Der Polizei?«
»Ja. Eine Waffe, die in Verbindung mit der Polizei steht. Die von der Polizei verwendet wird.«
Kutkhas Blick richtete sich auf den bockigen Jungen. »Verstehst du? Er ist ein Sammler. Ein Mann, der weiß, was er will und was ihm gefällt, der sich für Geschichte interessiert. Für solches Zeug könntest du dich auch mal interessieren. Wer weiß, woher er kommt, weiß, wohin er geht. Vielleicht wärst du doch zu gebrauchen, wenn du mir beweisen könntest, dass du denken kannst. Oder wenigstens zählen. Du musst nicht zurück nach Brighton Beach, wo du dich in vollgepissten Banjas von alten Männern ablutschen lässt. Hier in Manhattan kann ich dir Dinge beibringen, die in Brighton Beach längst vergessen sind. Das kannst du mir glauben.«
»Es muss keine neue Waffe sein«, sagte der Jäger. »Aber ich würde es vorziehen, wenn sie einsatzbereit wäre.«
»Weißt du«, sinnierte Kutkha, »Ich bin mir beinahe sicher, dass ich einen Colt Official Police dahabe. Aus den Fünfzigern.«
»Wie sieht der Griff aus?«
»Gemasertes Holz.«
»Und der Lauf?«
»Sechs Zoll, würde ich sagen. Ich erinnere mich so gut, weil sich mein Experte – ein Mann, der sich wie wir für Geschichte interessiert – vor und zurück gewiegt hat, als er die Waffe gesehen hat. Das macht er immer, wenn er glücklich ist. Er hatte viel über die Waffe zu erzählen. Ich musste ihm sagen, dass ich ihn erschießen würde, damit er endlich still ist.«
»Ich nehme sie«, meinte der Jäger.
»Eine weise Wahl. Eine solche Waffe ist wie eine gute Uhr aus einer Zeit, als Uhren noch eine Mechanik hatten, die dem Uhrmacher wichtig war. Vielleicht hätte ich dir auch eine SIG besorgen können, aber das wäre nicht dasselbe, oder? Der Colt wird mit dem Original-NYPD-Halfter geliefert, aber das verkaufe ich dir nicht. Wenn du es willst, bekommst du es umsonst. Dafür nehme ich kein Geld.«
»Warum nicht?«
»Es ist unbenutzt. Ein Ersatzhalfter. Ich will dir etwas erzählen, das mir mein Experte erzählt hat, weil es mich belustigt hat. Die Polizisten mussten die Halfter zunächst ausleiern. Sie sahen aus wie Leder, bestanden aber aus behandelter Pappe. Die Polizisten mussten eine Colaflasche hineinzwängen und eine Woche darin stecken lassen, bis das Halfter weit genug war, um es für eine Waffe zu benutzen. Hatten sie das Halfter nicht gelockert, mussten sie die Waffe später wieder herausschneiden. Oder sie wurden vorher erschossen. Doch das Ausleiern richtete so viel Schaden an, dass die Halfter nach sechs Monaten auseinanderfielen. In den Siebzigern, hat mein Experte mir erzählt, konnten Männer wie wir die Colts einfach aus den Halftern reißen – das Halfter zerfetzen, die Waffe herausziehen und den Polizisten erschießen. Schönere Zeiten, abgesehen von der Kleidung natürlich.«
Der Jäger zwang die Gedanken und Handlungsimpulse nieder, die in ihm hochkochten. »Wie viel?«
»Für diese Waffe kann ich nur einhundert Dollar annehmen«, sagte Kutkha mit stolzgeschwellter Brust, gerührt von seinem eigenen Großmut. »Sie wird mit vierundzwanzig Schuss Munition geliefert.«
»Sehr freundlich«, sagte der Jäger. »Danke.«
»Ich muss die Waffe aus New Jersey kommen lassen. Ich will gleich anrufen. Komm heute Abend um sieben zurück. Die Waffe wird mit der Abendlieferung eintreffen. Ich werde sie eigenhändig aus dem Fahrzeug holen und sicherstellen, dass alles seine Richtigkeit hat.«
»Ein sehr professionelles, zügiges Verfahren. Danke«, sagte der Jäger. »Ich werde das Geld mitbringen.«
Selbstverständlich hätte er es mitbringen können.
Statt aufzustehen, um dem Jäger nochmals die Hand zu schütteln, nahm Kutkha sein Mobiltelefon, wählte eine Nummer per Schnellwahl und sah den Jäger an, als müsste dieser geistesgegenwärtig genug sein, um zu erahnen, wann seine Audienz beendet war. Mit einem Nicken verließ der Jäger den kleinen Thronsaal des Russen. Im Flur händigte ihm der soldatische Mann seine Tasche aus und beobachtete ihn, wie er die Treppe hinunterlief, wo ihm das Scheusal die Tür öffnete und wartete, bis er gegangen war.
Was wusste der Jäger? Im Gebäude befanden sich das Scheusal, der soldatische Mann, Kutkha, der Junge und mindestens ein zusätzlicher Mann im Stockwerk darüber. Bis auf den zusätzlichen Mann oder die zusätzlichen Männer hatten ihn alle gesehen. Bei der Rückkehr des Jägers würde mindestens ein weiterer hinzukommen – der Angestellte, der mit der Waffe und allem anderen eintreffen würde, was Kutkha bezüglich seiner »Abendlieferung« vereinbart hatte. Vermutlich Menschen. In der Tasche des Jägers lagen das Messer und einige bescheidene Hilfsmittel für das Leben im Wald: ein Zunderbeutel, ein Stück Feuerstein, etwas Faden, ein paar andere Kleinigkeiten. Der Ring steckte an seinem Finger.
Der Jäger lief bis zum Ende der Straße, vergewisserte sich, dass er außer Sichtweite war, und suchte nach einem Zugang zur Rückseite des Gebäudes.
Auf der ost-westlichen Seite des Blocks, fünf oder sechs Türen vor einem kleinen Lebensmittelgeschäft, entdeckte er eine verlassene Eisenwarenhandlung mit schlampig weiß getünchten, in den oberen Stockwerken meist eingeschlagenen Fenstern. Ein Schild mit förmlichen Lettern klebte an der Tür, doch Wind und Wetter hatten viele Worte fortgespült. Niemand sah, wie der Jäger das Schloss mit dem Messer bearbeitete und die Tür aufzwängte. Drinnen drückte er die Tür sorgfältig zu und klemmte zusätzlich einen Spanplatten-Verkaufsaufsteller dagegen. Offenbar hatte der Besitzer den Laden in großer Eile aufgeben müssen – er hatte etwas Inventar und einen Großteil der Ausstattung zurückgelassen. Einen Augenblick kauerte sich der Jäger in die Dämmerung, um zu lauschen und tief einzuatmen. Er registrierte einen Anflug von menschlichen Fäkalien, doch diese waren alt. Im Moment hatte hier niemand sein Lager aufgeschlagen. Der Jäger durchsuchte, was vom gescheiterten Versuch des Besitzers, nach den unlauteren Regeln des Manhattaner Tauschhandels zu leben, geblieben war. Er durfte nehmen, was er wollte. Mannahatta war den Lenape durch arglistigen Betrug gestohlen worden. Der Jäger war kein Krimineller. Er hatte ein Recht auf jede Beute, die er in der Stadt auf der Insel machen konnte.
Unter anderem fand er noch mehr Faden sowie Schiebekassetten voller Schrauben und Muttern, die es dem Besitzer nicht wert gewesen waren, sie einzupacken und mitzuschleppen. Dem Jäger kam eine Idee. Er schnitt ein knapp zwei Meter langes Fadenstück ab und klaubte eine Handvoll Muttern und einige Schrauben zusammen, ehe er sich nach einer Treppe zu den oberen Stockwerken und weiter aufs Dach umschaute.
Vom Dach aus hatte er einen schrägwinkligen Blick auf die Rückseite von Kutkhas Gebäude und freie Sicht auf den unkrautüberwucherten Verladehof und die Gasse, durch die der Hof mit dem Auto zu erreichen war. Vor die Innenseiten der Fenster der drei oberen Stockwerke hatte man behelfsmäßige Gardinen getackert.
Der Jäger kauerte sich hinter den Belüftungskasten auf dem Dach, wo er von Kutkhas Gebäude aus nicht unmittelbar zu sehen war, und knotete die Muttern in den Faden. Die schwereren Schrauben band er an die Enden. Als er ein dreißig Zentimeter langes Fadenstück versuchsweise in der Hand kreisen ließ, peitschte die Schraube am Ende des Fadens in einem engen Bogen herum. Ein akzeptables Ergebnis.
Er stand auf und spähte auf Kutkhas Gebäude hinab, wirbelte den beschwerten Faden, bis er in der Luft sang, und schleuderte ihn auf die oberste Etage des Gebäudes. Kurz verfolgte er die Flugbahn, dann duckte er sich hinter den Kasten und beobachtete alles Weitere aus einem möglichst geschützten Blickwinkel.
Der Metallfaden traf eines der obersten Fenster. Nicht so fest, dass es gleich zu Bruch gegangen wäre, aber mit genügend Kraft, um ein scharfes Knallen widerhallen zu lassen, während er klappernd auf einen Fenstersims im dritten Stock und weiter in den zweiten Stock fiel, bevor er abstürzte und im dichten Unkraut des Hofs landete.
In der vierten Etage wurde eine Gardine zurückgestrichen, in der dritten ebenfalls. In der zweiten waren es zwei Gardinen. Kleine, wackelnde Köpfe kamen zum Vorschein und versuchten auszumachen, woher der Lärm gekommen war.
Vier zusätzliche Menschen. Und darüber hinaus weitere Personen, die dort oben festgehalten wurden – mindestens eine Frau. Mit einem Seufzen rollte der Jäger sich in einen verborgenen Winkel. Die Situation stellte sich unnötig kompliziert dar.
Der Jäger fragte sich, ob das Scheusal seinen Posten jemals aufgab. Etwa zum Mittagessen. Seiner Körperform nach zu urteilen, war er kein Mensch, der Mahlzeiten ausließ.
Die Lieferung aus New Jersey würde zweifellos über die schmale Zufahrt zum Hof eintreffen. Das Abendlicht würde bereits schwinden, doch der Hof war gut abgeschirmt. Außer man befand sich auf einem angrenzenden Dach, dachte der Jäger mit einem stillen Lachen.
Sein ursprünglicher Plan hatte ganz anders ausgesehen: die Waffe bezahlen, gehen, kurz darauf zurückkehren und alle umbringen. Aber mit so vielen, so weit verstreuten Mitspielern konnte dieser Plan nicht funktionieren. Der Jäger musste sein Vorhaben verkleinern, er musste Kutkha isolieren. Und er wollte nicht, dass alles von Kutkhas großspurigem Versprechen abhing, die Waffe eigenhändig aus dem Wagen zu holen und zu überprüfen.
Andererseits musste er sich eingestehen, dass dies durchaus Kutkhas Art wäre, dass er schon oft ähnlich gehandelt hatte. Der Mann gab sich tatsächlich Mühe – wenn auch keine allzu große –, sich wie ein aristokratischer Krimineller zu präsentieren und zu benehmen, der in Übereinstimmung mit einer wohlgesitteten Tradition agierte, die im Wesentlichen nur in seinem eigenen Hirn existierte.
Mit einem Blick auf die Sonne berechnete der Jäger die Stufe des Tageslaufs. Er spähte über die aufgereihten Dächer und hielt kurz inne, um seinen Puls mitzuzählen und seinen inneren Trommelschlag an den Rhythmus in seinem Kopf anzupassen. Dann lief er los. So geduckt wie möglich, rannte und sprang und rannte er über die Dächer bis zu der Ecke, um die er vorhin gebogen war. Nachdem er die Zeit, die er benötigt hatte, in sein Gedächtnis eingeschrieben hatte, robbte er zum Rand des neuen Dachs. Von hier aus war nur ein schiefer Splitter der Vordertür von Kutkhas Gebäude zu erkennen. Genug, um zu sehen, wenn jemand ging.
Der Jäger war ein Meister im Warten. Das Dach wurde zum sanft geschwungenen Haupt eines Gebirgsausläufers mit Blick auf einen Pfad durch Waldwiesen. Der fleckige Asphalt verwandelte sich mit einer solchen Leichtigkeit in ein Geflecht aus Licht und Schatten, dass sich die Lippen des Jägers unwillkürlich zu einem breiten Lächeln krümmten. So viel Schönheit. Hier und da flitzten Weißfußmäuse durchs Gras, und für eine kurze, herrliche Minute kreiste der Schatten eines Eckschwanzsperbers um seinen Kopf. Weiter unten entdeckte er kleine Ansammlungen von Blasenschötchen, ein blasses Violett wie ein Abendhimmel im Sommer. Ihre Samen waren heilig. Alles war heilig, in dieser Zeit des Wartens. Das Leben war vollkommen.
Die Sonne hatte noch kaum den Mittagsgipfel erklommen, als der Jäger zusammenzuckte – eine Erscheinung aus einer anderen Zeitlinie, ein Scheusal aus dem 21. Jahrhundert in einem essensverschmierten, orangefarbenen Jogginganzug lief den Pfad entlang, mitten durch den Wald Mannahattas vor Einbruch des 17. Jahrhunderts. Der Wahrnehmungsschock ließ dem Jäger die Galle hochkommen.
Das Scheusal folgte dem Weg, den auch der Jäger gegangen war, und näherte sich der Ecke. Er konnte nur ein Ziel haben: das Lebensmittelgeschäft. Mit einem Zwinkern schüttelte der Jäger die vergangenen Zeitalter ab und studierte die Geschwindigkeit des Scheusals. Als es um die Ecke bog, rannte er zu dem Dach, von dem er gekommen war, und klopfte im Kopf die Sekunden mit.
Binnen vier Minuten war der Jäger auf dem Boden und bereit. Er betete, dass er schnell genug gewesen war, während er den Sperrholz-Aufsteller beiseiteschob und die Ladentür öffnete. Auf der Straße war noch immer niemand zu sehen. Kein Wunder. In diesen Teil der Stadt verirrte man sich nur, wenn es keine Alternative gab. Der Jäger stand hinter der angelehnten Tür und wartete. Seine Anspannung wuchs. Das Scheusal hatte es doch nie im Leben in unter vier Minuten zum Lebensmittelgeschäft und zurück um die Ecke geschafft? Nein, so schnell bewegte sich die Kreatur nicht. Hoffentlich blieb die Straße leer. Diese Jagd war ohnehin riskant.
Das Scheusal schlurfte an der Tür vorbei.
Der Jäger zählte zwei weitere Schritte ab, um sich etwas Platz zum Manövrieren zu lassen, öffnete die Tür und machte sich ans Werk.
Eine doppelte Fadenschlinge legte sich um den Hals des Scheusals, ein scharfes Reißen zog den komplexen Knoten im Handumdrehen zusammen. Der Jäger wickelte den Faden um die linke Hand und zerrte die Kreatur zurück. Zu ihrer Ehrenrettung musste man sagen, dass sie schon mit der rechten Hand nach der Pistole griff, während sie noch versuchte, die linke unter die Schlinge zu zwängen. Der Jäger holte die Beute noch näher heran und schmetterte ihr die rechte Hand auf die Schläfe. Er spürte, wie der Knochen nachgab. Wie eine Eierschale unter einem Kristallpickel.
Als die Beine der Beute nachgaben, sammelte der Jäger seine ganze Kraft, um sie rückwärts in die Dunkelheit des Ladens zu ziehen, presste ihr Gesicht gegen die Wand und schloss die Tür so leise wie möglich.
Die Beute trat mit den Füßen aus.
Im Moment hatte der Jäger keinen festen Stand, und das Messer lag noch immer, wo er es platziert hatte – auf dem Aufsteller. Er kippte nach hinten. Die Beute landete auf seiner Brust und bockte wie ein verwundeter Bulle. Vor Jahren hätte der Jäger sie noch mit roher Gewalt erwürgen können. Doch er war nicht so eitel, sich sein Alter nicht einzugestehen, und fand es nicht ehrenrührig, der Beute ein Knie in den Rücken zu rammen, um seinen Händen die Arbeit zu erleichtern. In dieser Position erdrosselte sich die Beute umso schneller selbst, je heftiger sie sich wehrte.
Die Fersen der Beute schlitterten über den Boden und gruben sich ins Linoleum. Dafür bezahlte sie. Doch der Jäger sah, dass sie sich Platz verschaffte, um – womöglich erfolgreich – nach der Waffe zu greifen, die hinten in ihrem Hosensaum steckte. Nach der Waffe, die der Jäger noch nicht an sich nehmen konnte.
Mit einem Aufbäumen warf der Jäger die Beute auf den Bauch und versetzte ihr vier oder fünf weitere Hiebe auf die Schläfe, selbst immer noch auf dem Rücken. Aus einem gezackten Riss in der Stirn der Beute pulsierte träges Blut, sie begann zu wimmern und zu zucken. Der Jäger sicherte die Waffe. Da er noch Pläne für die Waffe hatte, widerstand er der Versuchung, die Beute damit totzuprügeln. Er wollte sein Werkzeug nicht beschädigen.
Stattdessen stand er auf und legte die Waffe auf den Aufsteller, griff sich das Messer und drehte sich wieder zu der Beute auf dem Boden.
Doch die Beute lag nicht mehr auf dem Boden, sondern war auf den Beinen und stürmte auf ihn zu. Eines ihrer Augen schwamm in Blut. Ihr Mund, der sich mit rötlichem Schaum gefüllt hatte, brachte nichts als Ächzen und Krächzen heraus, und noch dazu hatte sie in die Hose uriniert. Eine spastisch zuckende Riesenhand langte nach dem Gesicht des Jägers und krallte sich fest.
Als der Jäger ihr das Messer von unten in die Rippen stieß, ertönte eine Mischung aus einem erstickten Schrei und einem Pfeifen. Er stieß noch einmal zu. Der Verdauungstrakt der Beute entleerte sich gewaltsam. Er stieß ein drittes Mal zu, diesmal höher und kräftiger, und spürte, wie der Widerstand des dichten, festen Fleischs die Klinge beben ließ.
Er drehte das Messer herum.
Der geöffnete Mund der Beute erstarrte zu einem ruhigen Blutring.
Die Beute starb, fiel, lief aus und war nicht mehr von Interesse.