Sechzehn

Irgendwann zwischen elf und Mitternacht torkelten Tallow, Scarly und Bat aus dem Fetch. Tallow war nicht betrunken und hatte sich mit voller Absicht nie ganz entspannt, doch die Welt gefiel ihm deutlich besser als zu Beginn des Abends. Bat und Scarly befanden sich in einem Zustand verwirrter Heiterkeit.

Scarly stopfte die Hände in die Taschen und lächelte Tallow von unten herauf an. »Wir fahren jetzt nach Hause. Ich zu meiner Frau und Bat zu seiner Was-auch-immer-Bat-macht-wenn-keiner-hinschaut.«

»Aber die Telefonnummer hebst du dir für den Abend vor deinem nächsten freien Tag auf, ja?«, gluckste Bat.

»Es reicht, du widerwärtiges Schwanzgesicht. Du zahlst das Taxi. Und ich werde als Erstes zu Hause abgeliefert.«

»Meinetwegen.« Ununterbrochen kichernd wankte Bat die Straße hinunter. »Dann suchen wir uns mal ein Scheißtaxi. Nacht, John.«

»Nacht«, sagte Tallow und sah lächelnd zu, wie sich die beiden davonmachten. Ein Stück vor ihnen entdeckte er einen Mann, der eine pinke Jeans, einen Strickumhang und einen Hut trug, sich den beiden halb hinkend, halb hopsend näherte und dabei etwas sang, das Tallow nicht verstand. Noch ein Straßenbewohner. Nicht mal seine Sportschuhe passten zusammen. Ein Geisteskranker, der vermutlich auch körperlich krank war, sofern seine Arme und Beine nicht zum Spaß derart zuckten. Scarly strafte ihn wohl mit ihrem bösen Blick ab, denn nun tanzte der arme Kerl um sie und Bat herum, als stünden sie in Flammen.

Tallow lachte in sich hinein, blieb noch einen Moment vor der Gasse stehen und betrachtete den Himmel. Ein paar Sterne lugten durch die versprengten Wolken und den leichten Smog. Für einen Augenblick geriet er ins Grübeln. Er hatte mal von Orten gehört, wo man nachts sämtliche Sterne sehen konnte. Angeblich sogar die Milchstraße. Er konnte sich nicht mal vorstellen, wie das gehen sollte.

Die Sterne über ihm waren alle Sterne, die er brauchte.

Da zerrte eine Hand an der Laptoptasche in seiner Faust.

Neben ihm stand der Mann in der pinken Hose und dem Strickumhang und versuchte, die Tasche mit einer Hand an sich zu reißen. Sein Mund war zu einem Fauchen versteinert. Keuchender Atem, der nach Ethanol und Eukalyptus stank, zischte durch seine Zahnlücken. Der Typ war erschreckend stark. Als er den nächsten Anlauf nahm, spürte Tallow, wie seine Finger vom Griff der Tasche abrutschten.

In der sich nach wie vor seine Dienstwaffe befand.

Im selben Moment entdeckte Tallow das kurze grüne Kinderlineal in der anderen Hand des Penners. Am einen Ende fehlte ein keilförmiges Stück, sodass das Plastik spitz zulief; offenbar war es zusätzlich an einer Gehsteigkante oder auf dem Asphalt gewetzt worden. Eine Millisekunde lang sah und registrierte Tallow das lächelnde Cartoongesicht eines Indianerhäuptlings, das knapp oberhalb der Faust des Penners aufs Plastik gedruckt war. Der Häuptling hielt die rechte Hand hoch, Zeige- und Mittelfinger zum Peace-Zeichen ausgestreckt.

An diesem Punkt hörte Tallow auf zu denken. Er hakte die andere Hand um den Nacken des Gegners und nutzte den Schwung, den der Mann durch sein entschlossenes Zerren entwickelte, um ihn herumzuschleudern und mit dem Gesicht voraus in die Mauer der Gasse zu donnern. Ein Krachen, als seine Zähne splitterten, ein Knirschen, als seine Nase eingedrückt wurde. Der Penner schnappte nach Luft – es klang, als würde er in einem Teersee schnorcheln – und brach zusammen.

»John?« Bats Stimme – und zwar näher, als Tallow gedacht hatte. Als er sich umdrehte, standen Bat und Scarly bereits hinter ihm.

»Meine Kanone ist in der Tasche da«, hechelte Tallow. »Ich hab sie abgenommen, als ich in die Bar gegangen bin.«

»Scheiße«, sagte Scarly und starrte auf das Häuflein Mensch am Eingang der Gasse. Tallow fragte sich, warum sie so beeindruckt klang.

Endlich schaltete sich sein Hirn wieder ein. »Sind hier irgendwo Überwachungskameras? Wäre blöd, wenn das irgendwer mitbekommen hätte.«

Bat hatte den Plastikkeil bereits gefunden, hob ihn aber nicht auf, sondern stupste ihn bloß mit dem Schuh an. »Mann, was ist das denn? Der Arsch hätte Sie umbringen können! Ist doch egal, ob es irgendwer mitbekommen hat.«

»Ist es nicht. Weil ich meine Waffe nicht gesichert hatte, weil der Arsch kein Gesicht mehr hat und weil die mich auf den Pearl-Street-Fall angesetzt haben, damit ich daran scheitere. Das ist eine Falle. Die wollen mich raushaben wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung.« Auf einmal war Tallow kalt. Sein Herz schlug wie nach einem Marathon, und er redete sich um Kopf und Kragen. Er vermasselte es. Die Augen auf den bewusstlosen Angreifer gerichtet, hielt er die Luft an, schottete sich von allem ab und dachte: Das war ein verdammter Jim-Rosato-Move.

Scarly blickte sich in der Umgebung um. »Keine Kameras. Aber wenn wir hier noch länger rumplappern wie die letzten Idioten, kommt garantiert irgendwer aus der Bar oder die Straße langgelaufen.«

»Geben Sie mir mal Ihr Feuerzeug«, sagte Bat im scharfen, abgehackten Ton eines Profis im Einsatz.

Tallow gehorchte, ohne weiter nachzufragen. »Ist nur so ein Wegwerfding.«

»Umso besser.« Mit überraschend kräftigen Fingern fummelte Bat das Metallteil herunter. »Sie haben ihn nur hinten am Nacken angefasst, oder?«

Als Tallow nickte, kippte Bat dem Bewusstlosen das Feuerzeugbenzin auf den Nacken. Danach wischte er das Kinderlineal mit dem Fuß in Reichweite des Mannes.

»Wollen Sie ihm etwa den Hals abfackeln?« Tallow war sich nicht sicher, ob man einem Forensiker eine solche Frage stellen sollte, und auf die Antwort war er erst recht nicht scharf.

Bat schleuderte beide Feuerzeugteile so weit wie möglich in die Gasse. »Nein. Das Butan frisst alle Epithelzellen weg, die Sie womöglich auf seinem Nacken hinterlassen haben. Nur für den Fall, dass sich doch jemand die Mühe macht, den Typen zu untersuchen.«

»Gehen Sie nach Hause, John«, sagte Scarly. »Jetzt.«

Tallow wäre ihrer Aufforderung gern gefolgt, hätte ihn die abrupte Verwandlung seiner Gefährten nicht so sehr fasziniert.

»Was meinst du?«, fragte Bat, während er einen Schritt zurücktrat, um das Gesamtbild zu betrachten.

Scarly lehnte sich mit zusammengekniffenen Augen zur Seite. »Ich würde den Kopf herumdrehen, damit er von der Straße wegschaut. Dann denkt man eher, dass er sich zum Pennen hingelegt hat.«

Bat versuchte, den Kopf mit der Schuhspitze auf die andere Seite zu bugsieren. Der Mann gluckerte. »Scheiß drauf«, sagte Bat und trat ihm in die Schläfe. Jetzt lag der Kopf auf der anderen Seite.

»Sieht doch gut aus«, meinte Scarly. »Sie gehen jetzt, John. Und wenn Sie Ihre Waffe noch einmal ablegen, egal warum, erschieße ich Sie höchstpersönlich, und dann lassen wir es nach einem Selbstmord aussehen. Ist das bei Ihnen angekommen?«

Er nickte. »Ja.«

Scarly schubste ihn an der Schulter Richtung andere Straßenseite. »Dann bis morgen, John. Komm, Bat, das Taxi wartet.«

Tallow blieb stehen und drehte sich um. Leider hatte er nichts Sinnigeres beizutragen als ein simples »Danke«.

Bat schenkte ihm sein sonderbares Grinsen. »Hey. Wir sind doch jetzt Partner.«

Als Tallow zu seinem Auto ging und nach Hause fuhr, war er sich endgültig sicher, dass alle Forensiker durch und durch wahnsinnig waren.