Fünf

Tallows Schlaf war gespickt mit unspektakulären, kupferfarben glänzenden Albträumen. Bis ihn das Handy auf dem Bücherstapel neben dem Bett weckte.

Die Frauen in seinem Leben hatten ihn ausnahmslos darüber informiert, dass er regelmäßig mit einer Art Tourette erwachte. In der ersten Morgenstunde war es ihm unmöglich, auf Zurückhaltung, Geduld oder Sozialkompetenz zurückzugreifen.

»Scheiße was?«, fiel er über das Telefon her.

»Kommen Sie ins Büro.«

»Verfickte Auszeit von achtundvierzig Stunden scheiße noch mal verordnet! Warum verdammt noch mal werd ich geweckt?«

»Das CSU ist gerade mit einer Stichprobe Ihrer Waffen fertig geworden. Tut mir leid, John, ich weiß, achtundvierzig Stunden. Aber ich brauche Sie jetzt.«

»Fuck. Aber okay. Okay. Scheiße! Bin in einer Stunde da.«

»In dreißig Minuten. Und bitte tauchen Sie in halbwegs menschlicher Verfassung auf. Ich lasse Ihnen im Moment einiges durchgehen, aber wenn Sie sich noch mal dermaßen im Ton vergreifen, setze ich Ihnen einen dicken, dampfenden Scheißhaufen auf die Personalakte.«

»Ja. Okay. Die Lieutenant hat zu tun. Und ich wache auf. Alles klar.«

»Dreißig Minuten.«

Fünfunddreißig Minuten später absolvierte Tallow den unvermeidlichen Spießrutenlauf durch die Reihen der Kondolierenden am Eingang der Mordkommission im 1st-Precinct-Revier am Ericsson Place. Zehn Minuten peinliche Handschläge und peinliches Gerede, nur um zum Büro der Lieutenant vorzudringen. Jim war der Beliebte gewesen. Keiner wusste so recht, was er zu Tallow sagen sollte, aber die meisten versuchten es trotzdem. Es war eine Tortur.

Die Lieutenant begutachtete ihn mit säuerlicher Miene. »Dreißig Minuten, hatte ich gesagt.« Sie trug ein Kostüm aus kühlem bleigrauem Kammgarn, das er noch nie gesehen hatte.

»Ich wurde aufgehalten. Was ist los?«

»Ich könnte Ihnen jetzt erzählen, dass Sie ein paar Forensiker derart verärgert haben, dass ich ihnen Gefälligkeiten versprechen musste, damit die Waffen noch an die Nachtschicht weitergegeben wurden und ich leise hoffen durfte, die Ballistik heute zu bekommen. Aber das erspare ich Ihnen.«

Ohne Aufforderung sackte Tallow auf die einzige Sitzgelegenheit auf seiner Seite des Schreibtischs, einen Hartplastikstuhl, der sich nicht für ein längeres Verweilen im Büro der Lieutenant anbot. Genau deshalb hatte sie ihn ausgesucht. »Bin ich froh, dass ich deswegen gerade keinen Anschiss bekommen habe.«

»Falsche Antwort. Ich bin sehr unzufrieden, John. Das müssten Sie als Detective doch bemerkt haben.«

»Tut mir leid«, log er.

»Also. Das CSU hat eine Stichprobe der Waffen aus dem Apartment in der Pearl Street untersucht, das Sie durchgelüftet haben. Vier Waffen. Sind vor zwei Stunden zurückgekommen.«

Sie nahm einen dünnen, zusammengeklammerten Papierstapel vom Tisch, überflog das oberste Blatt und warf ihn wieder zurück. »Ich kann kaum glauben, was für eine Palette voll Scheiße Sie da vor meiner Tür abgeladen haben!«

»Was stimmt denn nicht mit den Waffen?«

»Was damit nicht stimmt? Mit den Waffen wurden Menschen umgebracht. Mit jeder einzelnen.«

Tallow meinte zu spüren, wie die Vorboten brutaler Kopfschmerzen in seinem Schädel anlandeten. »Geht’s auch etwas genauer, Lieutenant?«

Sie griff sich den Papierstapel. »Waffe eins: eine Bryco Model 38, Kaliber .32. Ungewöhnliche Riefenmuster infolge vorsätzlicher Manipulation des Innenlaufs. Tatwaffe im Mord an Matteo Nardini, Lower East Side, 2002. Das ist übrigens ein ungelöster Fall. Waffe zwei: eine .380er Lorcin Halbautomatik, stark modifiziert. Testschüsse ergeben eine Übereinstimmung mit dem Projektil, das aus Daniel Garvie, Avenue A, 1999, gepult wurde. Ungelöst. Waffe drei: ein Ruger Neun Millimeter, verschrammter Schlagbolzen, Marc Arias, Williamsburg, 2007, ungelöst. Nummer vier überlasse ich Ihrer Vorstellungskraft.«

»Das war eine Zufallsprobe der Waffen aus dem Apartment? Das CSU hat nicht nur Waffen von einer Stelle mitgehen lassen?«

»Reiner Zufall.«

Tallow stand abrupt auf. Mit vernebeltem Blick trat er hinter den Stuhl, stützte sich auf die Lehne und stellte wieder auf die Lieutenant scharf. »Das ist unmöglich.«

»Nein, John. Unmöglich finde ich, dass Sie gestern etwas sehr Seltsames entdeckt haben, das ein anderes Department im Precinct monatelang bei Laune hätte halten sollen. Gestern war das Ganze noch eine Kuriosität und nicht mein Problem.«

»Jede einzelne Waffe …«

»Exakt. Alles deutet darauf hin, dass Sie mehrere Hundert Mordfälle wiedereröffnet und vor meiner Tür abgeliefert haben.«

»Ich?«

»O ja, Sie. Das geht auf Ihre Kappe, Detective Tallow. Sie haben das Loch in die Wand kloppen lassen. Und Sie mussten ja unbedingt den Kopf reinstecken.«

»Ach, kommen Sie …«

»Wenn Sie’s kaputt machen, müssen Sie’s auch bezahlen. So läuft das in der ganzen Stadt.«

»Das können Sie nicht machen.«

»Abwarten. Sie haben ein Apartment voller Waffen gefunden, und bald werden wir wissen, dass jede dieser Waffen benutzt wurde, um genau eine Person zu töten. Sie haben den Auftrag, den Ergebnissen der Ballistik nachzugehen, herauszufinden, wie die Waffen ins Apartment gelangt sind, den oder die Besitzer aufzuspüren und ihm oder ihnen jeden einzelnen Fall anzuhängen. Denn ich schwöre Ihnen, ich lasse mir den Scheiß nicht ans Bein binden.«

Tallow riss den Stuhl nicht hoch und warf ihn nicht auf den Schreibtisch.

Doch die Lieutenant sah, wie seine Finger zuckten. »Darüber hinaus ist die Truppe sowieso zu dünn besetzt, und eine idiotische Schießerei, zu der es niemals hätte kommen dürfen, hat mich soeben meinen besten Mann gekostet. Deshalb arbeiten Sie bis auf Weiteres allein. Noch Fragen?«

Tallow glotzte sie nur an.

»Gut.« Die Lieutenant hielt ihm den Papierstapel zwischen Daumen und Zeigefinger hin und zappelte dabei so nervös herum, dass es raschelte, als Tallow danach griff. »Jetzt gehen Sie heim, ziehen sich um und machen sich verdammt noch mal an die Arbeit. Sie haben Blut am Sakko.«

Er zuckte zusammen, blickte an sich hinab wie ein Aussätziger und entdeckte einige dunkle Kleckse auf seinem linken Ärmel. Ein paar Partikel Jim Rosato zu seiner Linken. Jim Rosato war immer zu seiner Linken gewesen. Er hatte ihn nie hinters Steuer gelassen.

Obwohl Tallow noch keine volle Stunde wach war, fand er die Kraft, gewisse Worte herunterzuschlucken und das Büro umgehend zu verlassen.