Fünfundzwanzig

Der NYPD-Informationsstrom auf der Fahrt vom One Police Plaza zum Ericsson Place.

Ein Toter in einem leer stehenden Gebäude in Williamsbridge. Irgendwer hatte den Mann in einen Koffer gestopft und im Hinterzimmer abgestellt. Nach ersten Prognosen hatte er dort ganze drei Monate verbracht.

Eine Tote vor der Kirche St. Brigid’s im East Village. Die Cops vor Ort hatten keine Ahnung, was sie genau getrunken hatte, aber offenbar hatte sie keinen Magen mehr.

Ein Toter in einem Apartment in der Bronx, irgendwann innerhalb der letzten Woche abgestochen; die Gerichtsmedizin stand vor einer größeren Aufgabe, da die Leiche in Teilen von Ratten und vom Nachbarshündchen verspeist worden war.

Ein unbekannter Toter am Bushwick Inlet. Er oder sie hatte sich in die Luft gesprengt. Und noch ein Opfer: Ein Arm des oder der Toten, den es weggeschleudert hatte wie eine Boden-Boden-Rakete, hatte das Fenster eines geparkten Sattelschleppers durchschlagen und dem Fahrer das Genick gebrochen.

Tallow brachte das Radio zum Schweigen. Auf dem Weg zum Ericsson Place hatte er einen kleinen Umweg über die Fulton Street eingeschlagen, und jetzt musste er sich konzentrieren. Langsam rollte er am Fetch vorbei und studierte die Fassaden auf der anderen Straßenseite.

Angst fuhr ihm in die Brust wie ein Messerstich, als er einen Sticker mit der Aufschrift UNTER DEM SCHUTZ VON SPEARPOINT SECURITY entdeckte – im Schaufenster eines Billigschuhladens, der etwa, aber nicht exakt auf Höhe des Fetch lag.

Tallow peilte die Kneipe mit zusammengekniffenen Augen an. Das Schaufenster des Schuhladens ging nicht auf die Seite des Fetch raus, die an die Gasse grenzte. Wahrscheinlich hatte die hellwache Kamera, die sich vermutlich hinter der Scheibe befand, nicht das Geringste gesehen.

Außerdem fiel ihm auf, dass die Gasse nicht von polizeilichem Absperrband abgeriegelt wurde und dass keine Zeugenaufrufe an den Häuserwänden klebten.

Tallow fuhr weiter. Ihm war bewusst, dass sein Glück mal wieder auf eine harte Probe gestellt worden war.

Als Tallow am Ericsson Place parkte, klingelte sein Handy. Mit den Händen halb am Steuer fummelte er es aus der Tasche. Er versuchte, zwei Sachen auf einmal zu machen, während sein Hirn bereits auf sieben Hochzeiten tanzte. Beim dritten Anlauf gelang es ihm, das Telefon ans Ohr zu halten. »Hallo?«

»Detective?«

»Mrs. Westover?«

»Ja.« Emily Westover stieß ein kleines, beunruhigendes Lachen aus. »Ich wollte mich nur noch mal bei Ihnen bedanken. Weil Sie sich so gut um mich gekümmert haben.«

Tallow horchte auf den Hintergrund. Emily befand sich in ihrem Apartment. Ihre Stimme klang stumpf, typisch für Räume mit dicken Fenstern, die die Außenwelt verstummen ließen und Geräusche aus dem Inneren absorbierten. Aus einem Nachbarzimmer drang gewöhnungsbedürftige Musik, die Tallow kurz darauf als Gesänge amerikanischer Ureinwohner identifizierte. Doch sie wirkten nicht sehr authentisch – eine Platte aus den Neunzigern, die Ethno-Klänge mit gedämpften Beats und elektronischen Chill-Out-Strömungen kombinierte.

»Es war mir eine Freude, Mrs. Westover. Was kann ich für Sie tun?«

»Gehen Sie nicht nach Werpoes«, sagte sie schnell.

»Was? Warum sollte ich?«, fragte Tallow, während er dachte: Interessant.

»Es«, stotterte sie, »es ist einfach nicht sicher. Und ich habe Angst, dass ich Sie darauf gebracht haben könnte.«

»Ist Ihr Mann wieder in der Arbeit?«

»Ja. Er weiß nicht, dass ich Sie anrufe. Wahrscheinlich findet er es heraus, wenn er die Telefonrechnung bekommt, den Einzelverbindungsnachweis, Sie wissen schon. Aber ich wollte mich trotzdem bei Ihnen bedanken.«

»Was ich vorhin schon fragen wollte, Mrs. Westover … die Brosche an Ihrem Jackett. Was ist das?«

»Das ist ein Rothirschamulett. Es … Versprechen Sie mir, dass Sie mich nicht auslachen?«

»Versprochen«, sagte Tallow und ließ ein Lächeln in seiner Stimme anklingen.

»Es soll mich beschützen. Ein Schutzzauber. Im Glaube der Ureinwohner schützt der Rothirsch vor dem Unbekannten.«

Tallow wurde von einer Welle tiefen Mitleids erfasst. Für diese Brosche hatte Emily wahrscheinlich locker fünfhundert Dollar hingeblättert, und vermutlich besaß sie einen Stapel CDs und eine Festplatte voller MP3s, die genauso wenig mit amerikanischen Ureinwohnern zu tun hatten wie der Rotz, den sie im Moment hörte. Unwillkürlich dachte er an Vivicy – an die mysteriösen Zauberer, die Machen beschäftigte, ohne sie auch nur annähernd zu verstehen; an das Büro, das von Geldmassen zeugte, aber auch vom Fehlen jeglichen Gespürs für Ästhetik und Gestaltung, wie es die Natur selbst der gewöhnlichsten Ratte verlieh; und an die Musik, die einen Fertigbau-Himmel heraufbeschwor, dessen Einrichter abseitige Billigmarken bevorzugten.

Und Emily? Emily lebte in einer Lüge. Mit ihrem Reichtum konnte sie sich nichts als hübsche Fälschungen kaufen. Sie war eingesperrt in einem Glasschloss, bewacht von Männern, die allesamt für ihren Gatten arbeiteten.

»Verstehe«, meinte Tallow. »Mrs. Westover, warum sagen Sie mir nicht, was Ihnen wirklich Sorgen macht?«

Doch auf ihre kaputte Art hatte sie bereits versucht, ihm zu sagen, dass sie es wusste. Irgendwie hatte sie von Westovers Verbindung mit dem Killer erfahren, doch was sollte sie mit diesem Wissen anfangen? Das Wissen hatte sie gebrochen. Sie konnte höchstens versuchen, über das bisschen, das sie herausgefunden hatte, möglichst viel zu lernen, und so hatte sie sich über amerikanische Ureinwohner informiert. Und was hatte sie erreicht? Nun fürchtete sie sich vor allem und jedem.

Wieder lachte sie, ein Lachen wie splitterndes Glas. »Was mir wirklich Sorgen macht? Ach Detective, dann würden wir ja nie zum Ende kommen! Und manchmal frage ich mich, warum ich mir überhaupt Sorgen mache? Ich habe nur Menschen um mich, die ich kenne. Und dann denke ich mir wieder, o Gott, ich habe nur Menschen um mich, die ich kenne! Falls Sie verstehen, was ich meine. Ich weiß, das sage ich andauernd. Ich frage mich in letzter Zeit oft, ob die Leute mich überhaupt verstehen. Ich glaube, ich drücke mich nicht mehr so klar aus wie früher. Oder ich denke nicht mehr so klar. Es fällt mir schwer. Früher war das Leben viel einfacher, früher musste ich nicht über so viele Sachen nachdenken. Wissen Sie, wenn man durch die Stadt läuft, auf den Gehsteigen, muss man immer nur über eine Sache nachdenken. Aber wenn man einen Pfad im tiefsten Wald entlangläuft, muss man über drei oder vier Sachen auf einmal nachdenken …«

»Ich bin noch nie durch tiefsten Wald gelaufen«, meinte Tallow. »Fahren Sie öfter aufs Land?«

»Wenn die Leute doch nur wüssten, was ich meine«, sagte Emily wehmütig.

Ihre Stimmung wechselte von Sekunde zu Sekunde, ihre Stimme wanderte fast die gesamte Tonleiter rauf und runter. Tallow dachte an Bobby Tagg und presste die Lippen aufeinander, als ihm die Galle hochkam.

»Das sagt man doch ständig, oder?«, fuhr Emily fort. »›Ich weiß, was du meinst.‹ Aber manchmal denke ich mir, dass wissen nicht reicht. Man muss es sehen. Manchmal wünschte ich, die Leute könnten die Bilder in meinem Kopf sehen. Dann müsste ich sie nicht mit Worten beschreiben. Worte sind so schwerfällig. Wenn ich doch nur in Bildern kommunizieren könnte …«

»Wie mit Wampum-Gürteln«, warf Tallow auf gut Glück ein.

»Ich wollte nur einen Freund, der nicht für meinen verdammten Mann spioniert!«, schrie sie und legte auf.

Einen Moment lang betrachtete Tallow das Handy und fragte sich, ob er zurückrufen sollte, um sich für was auch immer zu entschuldigen. Doch Emily könnte aus tausend Gründen in die Luft gegangen sein, und darüber konnte er später immer noch nachdenken. Ihre Nummer stand ja auf dem Display. Er erstellte einen neuen Kontakt und speicherte sie.

Die Mordkommission war voller Menschen, die Tallow nicht in die Augen sehen wollten, als er eintrat. Im Büro der Lieutenant waren sämtliche Jalousien heruntergelassen. Er stellte sich vor die Tür und klopfte.

»Ich hab doch gesagt, dass wir nicht gestört werden wollen!«

»Wollte ich auch nicht, Ma’am. Sorry.«

»Tallow? Sind Sie das?«

»Ja, Ma’am.«

»Kommen Sie bitte rein.«

Als Tallow die Tür öffnete, spürte er die Augen der Kollegen im vorderen Büro auf seinem Rücken ruhen. Jetzt, wo er ihre Blicke nicht mehr erwidern konnte, konnte man ihn offenbar gefahrlos anstarren.

»Für einen einsamen Wolf am Rande des Wahnsinns sind Sie aber außerordentlich höflich, Detective«, meinte der Captain mit einem Lächeln und streckte ihm eine zerbrechliche Hand entgegen.

»Keine Sorge, ich befinde mich höchstens am Rande der Mittagspause. Hallo, Sir.«

»Ja, John ist keine große Leuchte, wenn es darum geht, den tollwütigen Psychopathen zu spielen, der auf alle Regeln pfeift«, sagte die Lieutenant, ohne sich zu erheben. »Wenn Sie mich fragen, ist er einfach zu faul.«

»Sie können von Glück sagen, dass ich weiß, dass sie nur Witze macht«, meinte der andere Mann, der nicht die Hand ausstreckte, sondern auf irgendetwas wartete.

Tallow hielt ihm die Hand hin. »Assistant Chief.«

Assistant Chief Allen Turkel war befehlshabender Offizier von Süd-Manhattan. Er hatte zehn Precincts unter sich, darunter auch den 1st, und zwei sehr schön polierte Sterne am Sakko. So schön, dass das Gold beinahe retuschiert wirkte.

»Detective«, sagte er mit einem kaum angedeuteten Nicken und einem schwachen, flüchtigen Händedruck. Erwartete der Typ etwa, dass Tallow vor ihm salutierte? Er hatte die Haltung eines Mannes, der regelmäßig den Bauch einzog. »Irre ich mich, oder sind Sie hier, um über Ihr bezauberndes Apartment in der Pearl Street zu sprechen?«

»Ja, Sir. Unter anderem.«

Vor dem Schreibtisch standen genau zwei Plastikstühle, einer für den Captain und einer für den Chief. Als die beiden zu ihren Plätzen zurückkehrten, beschloss Tallow, sich vor der geschlossenen Tür zu postieren. Von hier aus sah er die beiden Herren im Profil. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und versuchte, die Stimmung im Zimmer zu erspüren.

Der Assistant Chief entschied sich, erst mal über die Lieutenant zu reden. »Wissen Sie eigentlich, was für eine intelligente Vorgesetzte Sie haben, Detective? Ich habe im ganzen Bezirk keinen intelligenteren Detective Lieutenant als sie. Manchmal wünschte ich, sie würde eines Tages unter mir im One PP arbeiten. Aber dann sage ich mir, warum sollte ich meine intelligenteste Lieutenant aus dem Feld abziehen, wo sie der Stadt am besten dienen kann?«

Er lachte. Die Lieutenant stimmte leise ein. Aus dem Mund des Captains drang ein raspelndes Geräusch. Niemandem war entgangen, wie die Worte des Assistant Chief gemeint waren, doch alle zeigten sich pflichtgemäß amüsiert. Als der Chief auf die Uhr schaute, folgte Tallow seinem Blick. Sah nach einer Hublot aus, einem Schweizer Produkt aus gebürstetem Roségold mit einer Einfassung und einem Ziffernblatt aus schwarzer Keramik, verziert mit Schräubchen, Gittern und Kolben, die an die konstruktivistische Science-Fiction-Ästhetik des Zwanziger-Jahre-Streifens Metropolis gemahnten. Das Armband bestand aus schwarzem Gummi. Das war keine Uhr für Polizisten. Das war ein Fetisch. Tallow hatte mal gelesen, dass Hublots neuerdings mit Chipkarten ausgeliefert wurden, mit denen man sich im Internet als stolzer Besitzer ausweisen konnte.

»Sehr freundlich, Sir«, meinte die Lieutenant. »Auch, dass Sie extra persönlich gekommen sind. Das wäre doch nicht nötig gewesen.«

Über diesen gut platzierten Gegenschlag konnte Tallow leider nur innerlich lächeln.

»O doch, o doch«, erwiderte der Chief mit übertriebener Pseudoempörung. »Immerhin geht es hier um meinen Bezirk, um meine Zuständigkeit! Und ich finde, Sie haben eine persönliche Erklärung der Zusammenhänge verdient.«

»Vielen Dank, Sir.«

»Ach, machen Sie sich keine Gedanken. Der gute Charlie« – er deutete auf den Captain – »weiß doch, dass Sie von mir alles kriegen, was Sie brauchen, um Ihre Arbeit zu machen. Aber wir dürfen uns auch nicht vor der Zukunft verschließen. Und insbesondere in einem Fall wie diesem – ich weiß, Charlie, ich weiß, es ist ein Albtraum – müssen wir an unsere Ressourcen denken. Die Evidence Collection Teams waren eine gute Idee, um die Last besser zu verteilen. Aber dann kommt ein solcher Fall daher und zack, ist das ganze Konstrukt aus dem Gleichgewicht.«

Tallow betrachtete den Captain. Der Mann wirkte schlicht zu schwach zum Sprechen. Er war nur zehn Jahre älter als Turkel, doch damit hatte er nicht fünfundzwanzig, sondern fünfunddreißig Jahre Polizeidienst auf dem Buckel, und die letzten zehn hatten offensichtlich Wunden gerissen, von denen Tallow keine Vorstellung hatte. Die Lieutenant musste allein durch die Landminen navigieren, die Turkel ausgelegt hatte.

»Natürlich konnte niemand vorhersehen, dass die ECTs so stark beansprucht werden würden«, sagte sie. »Und im Prinzip bin ich der Idee, Unterstützung aus der Privatwirtschaft zu erhalten, gar nicht abgeneigt. Aber mich würde interessieren, was für Folgen das für die Beweismittelkette hat.«

»Ach, machen Sie sich keine Gedanken. Das sind bloß ein, zwei weitere Glieder in der Kette. Ich kenne Jason Westover seit vielen, vielen Jahren. Er weiß sehr genau, woran es bei uns fehlt.«

Tallow konnte sich gerade noch zusammenreißen.

»Und wer ist Jason Westover?«, fragte die Lieutenant.

»Mr. Westover ist Gründer und CEO von Spearpoint Security. Ein alter Bekannter«, sagte der Chief in einem betont belanglosen Ist-nicht-der-Rede-wert-Tonfall, der allen Anwesenden vermittelte, dass es sehr wohl der Rede wert war und dass keiner vergessen sollte, was für reiche und beeindruckende Freunde er hatte.

»Ich habe Jason Westover heute Mittag kennengelernt«, meinte Tallow.

In diesem Augenblick fühlte Tallow sich, als hätte ihn eine ausgesprochen unglückliche Verkettung von Umständen in die Falle gelockt, während er geglaubt hatte, er würde sich langsam zum Licht vorkämpfen. Als wäre das hoffnungsfrohe Leuchten am Ende des Tunnels nur das Flackern der nahenden Katastrophe gewesen.

»Ach ja?«, fragte der Assistant Chief wenig interessiert und mit leicht gehobener Augenbraue. Aber Tallow durchschaute ihn. Der Mann war äußerst interessiert.

»Ja. Ihn und seine Frau.«

»Ja, natürlich. Emily. Leider geht es ihr in letzter Zeit nicht so gut. Ich hoffe, Sie waren nicht, äh, dienstlich bei Mr. und Mrs. …?«

»Das Thema passt nicht hierher.«

Turkel schien zu verstehen. »Natürlich. In Ordnung. Danke.«

»Also«, sagte Tallow. »Im Moment sind zwei Spearpoint-Mitarbeiter dabei, meine Beweismittel wortwörtlich in Kisten zu verladen und in zwei Fuhren in ein Zwischenlager zu karren.«

Die Lieutenant zuckte leicht zusammen. »Das haben sie Ihnen gesagt?«

»Ja, Ma’am. Nachdem sie mich darüber informiert hatten, dass das überaus ausgeklügelte Sicherheitsschloss an der Tür des Apartments von Spearpoint Security stammt.«

»Wie bitte?«

»Sie haben schon richtig verstanden. In einer perfekten Welt würde diese Erkenntnis zu Verkaufs- und Installationsprotokollen der Firma Spearpoint führen, in denen der Name des Täters stünde. Aber wir leben in der echten Welt, und deshalb gehe ich fest davon aus, dass das CSU bald eine Waffe aus dem Apartment einem toten Spearpoint-Angestellten zuordnen wird, der gegen Bares Nebenaufträge erledigt hat. Wie neulich, als wir auf einen toten Mitarbeiter der Asservatenkammer gestoßen sind, als wir uns gefragt haben, wie die Kanone von Son of Sam in die Sammlung geraten ist.«

Tallow stellte fest, dass er vom Captain beobachtet wurde. »Wie war noch mal der Name, Detective?«, fragte der Captain mit einem Gesichtsausdruck, der nur schwer zu entschlüsseln war.

»Tallow, Sir.«

»Nein, der volle Name.«

»John Tallow, Sir.«

»John Tallow. Gut. Weitermachen.«

Tallow hatte keine Ahnung, was das nun wieder sollte. »Für den Moment war’s das eigentlich schon. Natürlich konnte der Assistant Chief nicht wissen, dass das nette Freundschaftsangebot seines Bekannten von der Firma kam, die das Sicherheitsschloss an der Tür des Täters angebracht hat, und vielleicht ist das völlig nebensächlich. Aber Tatsache ist, dass dem Unternehmen ein Schließmechanismus aus dem Lager entwischt ist, der sich prompt an der Tür eines mutmaßlichen Serienmörders installiert hat, und dass dasselbe Unternehmen nun beabsichtigt, einen Großteil unserer Beweismittel über Nacht aufzubewahren.«

»Detective«, warnte ihn die Lieutenant.

Der Captain regte sich. »Ich denke, John spricht nur die offenkundige Problematik an, Lieutenant.«

»Ja«, sagte Turkel. »Nun ja. Ein Unternehmen, das dieser Stadt und ihrer bereits vom üblichen Fallaufkommen überlasteten Polizei behilflich sein will, hat mir ein freundliches Angebot gemacht. Ein Angebot, das man meiner Meinung nach nicht auf der Grundlage von Hätte-könnte-wäre in den Wind schlagen sollte.« Er stand auf. »Diesen Fall weiterzuverfolgen grenzt ohnehin an Donquichotterie.«

Das war doch mal eine klare Ansage.

Tallow beschloss, eine Stolperfalle zu platzieren. Vielleicht würde ja jemand hineintappen? »Übrigens, Lieutenant«, sagte er ganz nebenbei. »Die Ballistik hat ein neues Ergebnis geliefert. Unter den Opfern ist auch die Tochter von Assistant Chief Tenn.«

Der aktuelle Assistant Chief erstarrte.

Und der Captain blinzelte ganz langsam, wie eine Eidechse in der Sonne. Zwei gelbliche Augen nahmen Tallow ins Visier. »Die Kleine von Del Tenn?«

»Genau die, Sir.«

»Das war ein Querschläger bei einer Bandenschießerei.«

»Nein, Sir.« Nach außen hin sprach Tallow mit dem Captain, doch er riskierte es, den Chief dabei direkt anzusehen. »Die Waffe befand sich in der Sammlung in der Pearl Street. Unser Mann hat einfach den günstigsten Zeitpunkt abgewartet. Ein Schusswechsel, Chaos. Er hat den Mord zwischen den anderen versteckt. Genau wie seine ganzen anderen Morde.«

»Verdammt.« Nachdenklich sackte der Captain in sich zusammen. »Wissen Sie, was ich an Del Tenn besonders mochte? ›Die anderen meinen immer, ich soll mich befördern lassen‹, hat er mal zu mir gesagt, ›immer weiter, bis ich irgendwann gar nichts mehr zu tun habe. Aber ich wache über den Süden Manhattans, wo ich geboren wurde, wo mein Vater geboren wurde. Also warum sollte ich mir einen anderen Job suchen?‹«

»Ich habe ihn nie kennengelernt«, meinte die Lieutenant.

»War ein wunderbarer Kerl«, erwiderte der Captain. »Aber am Tod seiner Kleinen ist er zerbrochen. Bei der Beisetzung hat er zu mir gesagt, dass er sich von Manhattan verraten fühlt. Ich habe ihn nie wiedergesehen.«

»Ja«, sagte der Assistant Chief. »Nun ja.«

Tallow schenkte Turkel sein reizendstes Lächeln, ohne ihn aus der Schraubzwinge seines Blicks entkommen zu lassen. »Eine Donquichotterie, Sir? Ich weiß. Aber wie Sie sehen, entwickelt sich allmählich ein Bild des Täters. Ein Bild seiner Arbeitsweise.«

»Ja«, sagte der Assistant Chief. »Nun ja.«

»Und der Menschen, mit denen er zu tun hat.«

»Ja«, sagte der Assistant Chief.

»Kannten Sie Assistant Chief Tenn, Sir?«

»Nein, Detective. Das heißt, nun ja. Nicht besonders gut. Tenn wurde von Marcus Casson abgelöst, Casson von mir.«

»Stimmt, stimmt«, flüsterte der Captain wie aus einer fernen Höhle. »Casson ist dann als Büroleiter zum Verkehr gegangen. Als Beverly Garza umgekommen ist.«

Das Netz, dachte Tallow, ist so feinmaschig, dass es nur im richtigen Licht zu sehen ist.

»Wie ist sie umgekommen, Captain?«

»Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …«, sagte der Assistant Chief.

»Wie bitte, Sir?«, fragte Tallow, der immer noch vor der Tür stand.

»Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden? Ich muss zurück ins Büro.«

»Oh«, erwiderte Tallow. »Selbstverständlich, Sir. Sie müssen wieder an die Arbeit.« Er trat einen Schritt zur Seite und öffnete ihm die Tür. »Danke, dass Sie extra vorbeigekommen sind, um uns die Zusammenhänge zu erklären. Sehr freundlich von Ihnen. Ich denke, jetzt wissen wir alle, wo wir stehen.«

Assistant Chief Turkel bedachte Tallow mit einem harten Blick – mit dem Blick eines Mannes ohne Einfühlungsvermögen. Turkel hatte zwar mal davon gehört, und wenn nötig, konnte er es vortäuschen, aber in Wirklichkeit spürte er nichts. Er betrachtete Tallow wie ein totes Tier am Straßenrand. »Sie bearbeiten den Fall doch allein?«

»Ja«, sagte Tallow.

»Sollten Sie nicht Zwangsurlaub machen?«

»Mir wurde gesagt, dass uns dafür leider die Ressourcen fehlen. Das ganze Konstrukt ist aus dem Gleichgewicht. Deshalb werde ich dort eingesetzt, wo ich der Stadt am besten dienen kann, Sir.«

»Ja, vielleicht«, meinte der Assistant Chief und ging. Tallow schloss die Tür.

»John Tallow«, sagte der Captain. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so ein kluger Kopf sind.«

Die Lieutenant schüttelte den Kopf. »Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«

Mit einem dünnen, pfeifenden Lachen stemmte sich der Captain hoch. »Wissen Sie was? Wären Sie immer schon so klug gewesen, hätte ich von Ihnen gehört. Aber ich sag Ihnen was. Als Detective hat man mir eine kluge Partnerin zur Seite gestellt. Sie war sehr klug. So klug, dass sie befördert wurde, die Karriereleiter hinauf, und ich stand allein da. Mein nächster Partner … war ein netter Kerl, aber leider so dumm, dass der Mannschaftsraum sich neue Worte ausdenken musste, um ihm gerecht zu werden. Im Grunde hatte ich gar keinen Partner. Und erst ab diesem Zeitpunkt, John Tallow, habe ich gelernt, wie man ein echter Cop ist. Sie waren wahrscheinlich schon ein kluger Junge, als Sie hier angefangen haben. Aber ich habe das Gefühl, dass Sie erst jetzt zu einem klugen Mann werden.« Unter offenkundigen Schmerzen setzte er sich in Bewegung. Als Tallow ihm die Tür öffnete, sah der Captain ihm mit aufrichtigem Blick in die Augen. »Ich kann Ihnen nicht den Hintern freihalten, John. Ich werde diesen Raum jetzt verlassen, um mich wieder um die Genehmigung von Büroklammerbestellungen und sonstigem Schwachsinn zu kümmern. Als Captain des 1st bin ich nicht mal der wichtigste Büroartikeleinkäufer der Gegend. Das wäre wohl irgendein Master of the Universe unten an der Wall Street. Ich habe kein Vitamin B, das mir irgendwas bringen würde, sondern nur einen Haufen Führungskräfte, die alle darauf warten, dass mein Herz beim morgendlichen Klogang Schluss macht. Ich weiß, wo Sie mit diesem Fall hinwollen. Und ich kann Ihnen nur sagen – sehen Sie zu, dass Sie auch ankommen.«

»Captain«, meinte Tallow. »Wie ist Beverly Garza umgekommen?«

Der Captain lächelte ein hauchdünnes Lächeln. »Sie wurde überfahren. Bitter, wenn einem der gesamte New Yorker Verkehr untersteht, nicht wahr? Aber ich sag Ihnen was. Der Gerichtsmediziner hat damals Stein und Bein geschworen, dass er in den Resten ihres Schädels Schwarzpulverrückstände festgestellt hätte. Demnach wäre sie zuerst erschossen und dann überfahren worden, und das CSU hat am Tatort tatsächlich ein zerquetschtes Projektil aufgestöbert. Aber natürlich ist das Ganze im Sand verlaufen.«

»Kannten Sie Beverly gut?«

»Sie meinen, weil ich mich so gut daran erinnere? Nein. Ich erinnere mich wegen des Projektils. Kaliber .357, abgefeuert mit einem restaurierten Single-Action-Revolver. Der alte Chef der Nachtschicht beim CSU hat das Ding sechs Monate lang zu seinem Spezialprojekt gemacht. Und mir ist es im Gedächtnis geblieben, weil er eine verdammt abwegige Übereinstimmung gefunden hat – mit einem Pinkerton, wie er im 19. Jahrhundert von der Bahnpolizei verwendet wurde. Aber der alte Chef des CSU wollte auch auf Teufel komm raus zu einem Ergebnis kommen. Der stand Beverly wirklich nahe. Ich nicht. Ich stehe niemandem nahe. Habe ich noch nie.«

Damit ging der Captain. Er hatte nicht mal mehr die Kraft, der Lieutenant zuzunicken.

»Schließen Sie die Tür, John«, sagte sie.

Er gehorchte.

»Setzen Sie sich, John.«

»Ich bleibe lieber stehen.«

»Setzen Sie sich.«

»Sie haben beschissene Stühle, Lieutenant.«

Sie lachte los. »Was haben Sie da gesagt?«

»Im Ernst. Die Dinger verursachen Arschschmerzen. Aber deswegen haben Sie sie ja angeschafft. Damit man nicht zu lange bleibt.«

»Sie Arschloch.« Sie lachte immer noch. »Sie unfassbares … Wie kommen Sie überhaupt …«

»Nachdem ich zum ersten Mal fünf Minuten lang auf einem dieser Teile sitzen musste, hat meine Wirbelsäule einen halben Tag gebraucht, um sich zu regenerieren.«

»Soll ich Ihnen jetzt ein schönes, weiches Kissen holen, oder was?«

Tallow setzte sich.

»Wo genau wollen Sie mit dem Fall hin, Detective? Und wie viele Probleme haben Sie mir heute noch aufgehalst?«

»Bestimmt nicht so viele, wie ich mir soeben selbst aufgehalst habe.«

»Ja, der Assistant Chief hat es sich zur Aufgabe gemacht, Sie fertigzumachen. Das war nicht zu überhören.«

»Das ist noch meine geringste Sorge.« Tallow hielt inne, betrachtete sich seinen Fall, nahm gedanklich Maß und schnitt das Stück herunter, das er der Lieutenant zeigen wollte. Noch musste sie nicht das große Ganze sehen. Es könnte sogar nachteilig sein, zu viel durchblicken zu lassen. »Okay.« Er atmete tief ein. »Mit etwas Glück kann ich die Hypothese, dass Spearpoint Security in die Morde verwickelt ist, heute Abend mit zusätzlichem Beweismaterial untermauern.«

»Haben Sie nicht selbst gesagt, dass das Sicherheitsschloss an der Apartmenttür reiner Zufall sein könnte?«

»Kann sein. Andererseits hat der Täter einen Konkurrenten von Spearpoint umgebracht. Könnte natürlich auch reiner Zufall sein. Aber ich bin mir sicher, dass der Assistant Chief bereits am Handy hängt und mit seinem alten Freund Jason Westover redet. Und der herzensgute Mr. Westover fragt sich bestimmt schon, wie er den Mörder schnellstmöglich kontaktieren kann. Wetten? Ich wette um eine gemütliche Arschunterlage für diesen Stuhl.«

Die Lieutenant verschränkte die Arme. »Können Sie beweisen, dass Westover den Mörder kennt?«

»Nein«, räumte Tallow ein. »Aber ich weiß, dass Spearpoint viel zu oft auftaucht, wenn es um diesen Fall geht. Ich weiß, dass es zu viele offene Fragen gibt. Warum kauft Vivicy das Mietshaus? Westover hat seine Frau über Vivicy kennengelernt. Seine Frau ist besessen von der Kultur der amerikanischen Ureinwohner, und zwar so sehr, dass sie mitten auf der Straße durchdreht, wenn ein Obdachloser vorbeiläuft, der wie der unglaubwürdigste Indianer-Fährtenleser im billigsten Western in der Geschichte des Nachtprogramms aussieht. Auch der Täter ist besessen von der Kultur der amerikanischen Ureinwohner. Ich …« Er verstummte und suchte unter dem scharfen Blick der Lieutenant nach Worten. »Die Dinge verbergen sich im Regen.«

»Ich kann nicht folgen.«

»Manchmal regnet es so stark, dass wir nur noch die prasselnden Tropfen sehen, obwohl wir uns eigentlich den Umriss der Pfütze anschauen sollten, in der sie sich sammeln. Bisher war der ganze Fall nichts als Regen. Zwanzig Jahre Regen, und alle haben nur die prasselnden Tropfen gesehen, während sich die Beteiligten im Verborgenen bewegt haben. Durch Straßen, die wir nicht mal wiedererkennen würden. Es hat so stark geregnet, in der ganzen Stadt, dass niemand zu Boden geblickt und gesehen hat, wie sich die Fußabdrücke mit Wasser gefüllt haben. Aber langsam sehe ich die Abdrücke. Jetzt müsste ich nur noch die Karten erkennen.«

»Kommen Sie mal wieder runter, John. Mir zuliebe.«

Tallow fuhr sich durchs Haar. »Es gibt keine Zufälle. Wir sind in ein Netz geraten, in eine Fußangel im Wald. Hätte der Täter die Waffen nach jedem Mord im Fluss versenkt, hätten wir nie von ihm erfahren. Ich glaube, er ist ein gesteuerter Mörder. Auftragsmörder wäre wohl der falsche Begriff. Und er ist so gut, so verdammt gut, dass sich mindestens eine der Personen, die ihn steuern, sicher sein konnte, dass seine Morde schlussendlich in der jährlichen Aufstellung ungelöster Mordfälle landen würden, die eine extrem dicht besiedelte Metropole mit hoher Kriminalitätsrate nun mal hervorbringt. Die wussten, dass die ganze Operation unbemerkt bleiben würde, solange niemand in ihr unsichtbares Netz stolpert. Und währenddessen hat nur ein Aspekt für uns gearbeitet – dass der Mörder ein Irrer ist, der alle seine Waffen aufbewahrt hat.«

»Aber warum? Ich will wissen, warum er sie aufbewahrt hat. Ist das bloß irgend so ein Serienmörder-Trophäen-Tick?«

»Das würde er sicher anders sehen. Das Apartment ist ein visueller Ausdruck von Sprache, eine Aussage, die in Bildern kodifiziert wird. Was für eine Aussage? Ich weiß es nicht. Sie existiert nur in seinem Kopf. Aber als wir einige der Waffen aus dem Apartment entfernt und sie untersucht haben, haben wir sein Lebenswerk aufgedröselt. Als hätten wir ein Gemälde ausradiert oder einen Teppich aufgeknüpft.«

»Jetzt mal im Ernst, John. Sind wir schon näher an dem Typen dran, und wenn ja, wie viel näher? Der Captain hat Ihnen gerade gesagt, dass er Ihnen nicht den Rücken freihalten kann, ich kann es erst recht nicht, und der Assistant Chief hat Mittel und Wege, Sie von dem Fall abzuziehen und für den Rest Ihres Lebens in Ihrem Apartment einzupferchen. Wenn ich ehrlich bin, war ich selbst mehr als einmal kurz davor. Sollte der Chief zu dem Schluss kommen, dass er den Fall in der Versenkung verschwinden lassen kann – und Sie können mir glauben, dass er bereits ganz fest darüber nachdenkt –, wird er nicht lange zögern. Deshalb brauche ich jetzt eine Antwort. Sie haben keine DNA. Sie haben gar nichts außer einem Indizienwirrwarr, einer Handvoll zugeordneter Tatwaffen und einem Haufen brillanter, faszinierender und großteils völlig irrsinniger Mutmaßungen. Also raus mit der Sprache – wie viel näher sind wir dem Typen schon?«

John Tallow schloss die Augen und atmete durch. »Wahrscheinlich nicht so nah, wie er mir ist, Lieutenant.«