Elf

Tallow wusste, dass er noch vor dem Abend mit einem Anruf der Lieutenant zu rechnen hatte; dann musste er zumindest vorweisen können, dass die grundlegenden Voraussetzungen für die Ermittlungen geschaffen waren. Immerhin hatte er bereits sichergestellt, dass der Tatort morgen nicht abgerissen und durch ein schimmernd-unwirkliches Zauberschloss ersetzt wurde, träumte er säuerlich vor sich hin.

Zu den ermittlungstechnischen Grundlagen gehörte auch, zum One Police Plaza zu fahren. Tallow musste wieder raus aus dem 1st.

Gegen alle Regeln der Logik hauste das Crime Scene Unit noch immer im One PP, obwohl es für ganz Manhattan zuständig war. Manche Aufgaben waren an Evidence Collection Teams delegiert worden, und eines dieser ECTs war heute in der Pearl Street angerollt. Doch die forensische Schwerstarbeit wurde weiterhin im One PP geleistet – von einem Department, das chronisch überlastet und unterfinanziert war und das man Tallows Meinung nach (früher hatte er sich noch die Mühe gemacht, Meinungen zu äußern) mal gründlich ausmisten müsste. Außerdem fragte er sich, wie man auf die Idee verfallen konnte, Probleme mit Spurensicherung und Beweismittelkette durch ECTs zu lösen. Das waren nur weitere Glieder in der Kette, die zudem schlecht ausgebildet waren und eine ansteckende Abscheu vor dem eigenen Leben mit sich herumtrugen.

Die Leute vom CSU waren dagegen in der Regel schlicht wahnsinnig. Unter Cops erzählte man sich immer noch von dem Supervisor, der während einer Vorführung mehr oder weniger versehentlich auf seine Mitarbeiter gefeuert hatte. Und vor zwanzig Jahren hatte es mal einen legendären Forensiker gegeben, der jedem Interessierten bereitwillig erklärte, wie man eine Leiche effektiv und nachhaltig verschwinden lässt, und dafür nur genügend Geld für eine Flasche Smirnoff und/oder eine Runde mit der Gattin verlangte. Die Leute beim CSU waren verhasst, und sie vergolten Hass mit Hass – mit ätzendem, schamlosem Hass. Als vor ein paar Jahren vier Cops erschossen worden waren, waren ihnen die Beweismittel »abhandengekommen«, und damit sollten sich die Bullen gefälligst abfinden. In der Folge war es zu viel politischem Getöse, Verleumdungen und öffentlichen Entschuldigungen gekommen. Doch letztlich hatte jeder Forensiker, der vor dem Skandal im One PP gearbeitet hatte, danach immer noch im One PP gearbeitet.

Tallow war nervös. Er wusste, dass sein Name auf der schlimmsten Müllhalde nie abgeschlossener Fälle stand, die dem CSU je untergekommen war. Und er freute sich nicht gerade auf die abschätzigen Blicke, mit denen die Kollegen den exakten Schwarzmarktwert seiner Organe ausrechnen würden.

Irgendwann fiel ihm auf, dass er neben dem Wagen stand, ins Leere starrte und pausenlos seine Glock aus dem Halfter zog und wieder reinschob. Er runzelte die Stirn über sich selbst und stieg ein. Dann stieg er wieder aus, noch wütender auf sich, und setzte sich hinters Steuer.

Der One Police Plaza befand sich in der Umlaufbahn der Pearl Street. Die Pearl Street verließ den 1st Precinct, wand sich um den One PP und zog sich weiter zur Brooklyn Bridge und zur Spitze der Insel. Der One PP war ein brauner Klotz, ein Auswuchs des Brutalismus, der an die Basis einer provisorischen Militärregierung denken ließ, die von irgendeiner Besatzungsmacht per Helikopter eingeflogen worden war – ein Eindruck, den das Labyrinth aus Zäunen, Checkpoints, Rampen und Schranken noch verstärkte.

Hinter turmhohen Mauern hausten die lange verschollenen Cousins in Blau, die einmarschiert waren, um ihren Verwandten, den barbarischen Inselbewohnern, die Zivilisation aufzuzwingen. Doch sie waren schon zu lange hier, und so hatten die Invasoren im ursprünglichen Brutalistenschiff mitansehen müssen, wie sich einige der Ihren unter die Eingeborenen gemischt hatten.

Immer wenn er zum One PP musste, kam es Tallow so vor, als ob jeder riechen konnte, dass er bloß ein stinknormaler Cop aus dem 1st war. Nach einem einzigen Kennerblick wussten sie, dass er kein Mann für die ganz großen Fälle war, über den Fernsehserien gedreht wurden. Noch so ein Ort, wo Tallow nicht dazugehörte.

Er suchte sich einen Lift und fuhr hinab in die Katakomben der Festung seiner entfernten Stammesbrüder.

Als sich die Aufzugtüren öffneten, hielt ihm ein sehr dicker Mann einen antiken, blutverschmierten Telefonhörer in einer Plastiktüte hin. »Das habe ich in ihm drin gefunden!«

»Ganz ehrlich«, meinte Tallow, »ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

Der sehr dicke Mann schaute betrübt drein. »’tschuldigung. Hab Sie mit jemandem verwechselt.«

»Dachte ich mir schon. Wo ist Ihre Chefin?«

»Ich dachte, Sie wären meine Chefin.«

Tallow konnte sich die Frage nicht verkneifen. »Das Ding da haben Sie also bei irgendjemandem im …?«

»Ein spindeldürrer Achtundsiebzigjähriger. Hätte nie gedacht, dass das Teil da reinpasst, ohne sein Herz umzuquartieren.« Der sehr dicke Mann betrachtete den Hörer, als wäre ihm ein Licht aufgegangen. »Wobei er dann wohl daran gestorben wäre …«

»Hören Sie, ich muss Ihre Chefin sprechen.«

»Ist einen Kaffee trinken gegangen. Vor einiger Zeit.«

»Wie lange stehen Sie denn schon vor dem Aufzug rum?«

»Jetzt seien Sie mal nicht so streng.«

»Ich muss wirklich Ihre Chefin sprechen.«

»Warum?« Er wedelte mit dem Hörer. »Was kann denn noch wichtiger sein als das hier?«

»Dann eben anders. Wer ist für den Fund in der Pearl Street zuständig?«

»Ach, das.« Tallow war sich ziemlich sicher, dass er keine sexuellen Fehltritte mit Katzenjungen eingeräumt hatte. Doch als er den Blick des dicken Forensikers sah, kamen ihm erste Zweifel. »Sie sind dieser Typ.«

»Ich bin es tatsächlich.«

»An Ihrer Stelle würde ich ins Hotel ziehen, Typ. Und niemandem sagen in welches Hotel. Und ich würde mir sicherheitshalber was anderes anziehen.«

»Was denn? Eine schutzsichere Weste?«

»Eher eine Ritterrüstung. Ein menschliches Schutzschild wäre auch nicht falsch. Sie stehen auf Scarlys Abschussliste, bis Sie versteinert sind und die Sonne sich in einen Roten Riesen verwandelt. Kein Scherz.«

»O Gott. Okay. Und wo finde ich Scarly?«

Einen dreckverkrusteten Korridor hinunter. Holztüren führten zu Büros, die kaum groß genug waren, um die Bezeichnung Büro zu verdienen. An jeder senkrechten Fläche blätterte Dispersionsfarbe ab, ein trauriges Verwaltungsgrün. Er folgte den erhobenen Stimmen zu einer offenen Tür ganz am Ende.

Scarly war eine vogelartige Frau Mitte zwanzig, die gerade mit Herumschreien beschäftigt war. »Natürlich ist es mir egal, ob du blutest! Ich bin doch eine verfickte Autistin!« Opfer ihrer fortgesetzten Tiraden war ein kränklicher, etwa fünf Jahre älterer Mann, der umso bemitleidenswerter wirkte, da ihm ein Teil des linken Ohrs fehlte. Scarly trug ein T-Shirt, das sie sich vermutlich gekauft hatte, als sie noch etwas mehr Fleisch auf den Knochen gehabt hatte, und kratzte sich gedankenverloren an einem Unterarm, der in Plastikfolie eingewickelt und mit Tesa verklebt war.

»Weißt du was, Scarly?«, fragte der blutende Mann und ruderte mit den Armen. »In meinem Apartment liegt ein Brief, in dem steht, dass es deine Schuld war, wenn ich in der Arbeit tot aufgefunden werde, und dass du es bestimmt vorsätzlich getan hast.« Er trug einen schwarz gefärbten Laborkittel, in dem er einem leidenden, ölverschmierten Seevogel ähnelte, der verzweifelt versuchte loszufliegen.

Tallow klopfte auf den Türpfosten und ließ den Blick kurz durch das übelriechende Büro schweifen, in dem offenbar ein durchgedrehter Messie mit einer Vorliebe für den Gestank monatealter Burger-Schachteln hauste.

Mit einem giftigen »Was wollen Sie denn?« fuhr Scarly herum.

»Das ist die Polizei, Scarly«, sagte der andere Mann und drückte sich ein verdrecktes Handtuch ans Ohr. Selbst von der Tür aus konnte Tallow die Chemikalien auf dem Tuch riechen. Als er sich vorstellte, wie der Rückständecocktail in die Blutbahn des Mannes sickerte, erschauderte er. »Sie wollen dich endlich mitnehmen.«

»Natürlich ist das die Polizei, du Idiot. Wir sind hier alle bei der Polizei. Wir arbeiten in der Bullenhöhle.«

»Detective John Tallow, 1st Precinct.«

»Sie!«, rief Scarly. »Ich hasse Sie so sehr, dass ich vor Wut gleich einen Steifen kriege.«

Auch der andere ging auf Tallow los. »Sie! Das ist Ihre Schuld.« Er nahm das Handtuch vom Ohr, präsentierte Tallow seine Wunde und sprang auf und ab. »Das haben Sie mir angetan!«

Tallow sank im Türrahmen in sich zusammen. »Und wie?«

»Wegen Ihnen musste ich einen Testschuss mit einer verdammten Antiquität abgeben, die selbst dem verfickten Wilkes Booth zu alt und verrostet für sein Attentat auf Lincoln gewesen wäre! Das Patronenlager hat geklemmt, sodass es den Schlagbolzen hinten aus der Scheißpistole rausgehauen hat, und das Ding hat mir dann ein verdammtes Stück Ohr abgerissen! Und wer hat das Teil gefunden? Sie. Scheiße, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«

Tallow sah ihn nur an – bis der andere irritiert verstummte. Obwohl er Scarlys Blick spürte, fixierte er weiterhin den Mann mit dem kaputten Ohr. Und sagte ganz leise: »Ich weiß es nicht. Ich war so gut wie taub, weil ich gerade ein Feuergefecht hinter mir hatte. Außerdem hatte ich das Hirn meines Partners im Gesicht. Tut mir wirklich leid, dass ich da nicht an Sie gedacht habe. Heute sollte ich mir eigentlich eine Auszeit nehmen, weil ich zusehen musste, wie meinem Partner der Schädel weggeballert wurde, und danach den Mörder erschossen habe. Sie sollten wahrscheinlich wissen, dass mir klar war, dass der Mann schon tot war, bevor ich noch einmal exakt gezielt und sein Hirn durchlöchert habe. Und nun wurde ich beauftragt, diese Ermittlungen durchzuführen. Ohne Partner. Ich hatte keinen sehr entspannten Tag, und ich habe wirklich keine Lust mehr, Leuten zu drohen und Angst einzujagen, nur damit sie sich wie halbwegs nützliche Menschen benehmen. Was ich damit sagen will – sollte ich die Beherrschung verlieren, was ich natürlich vermeiden will, aber in Anbetracht der letzten Tage nicht ausschließen kann, würde man meine Handlungen ausnahmslos als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung abhaken. Für den üblichen CSU-Scheiß stehe ich daher nicht zur Verfügung. Soweit ich weiß, hat meine Lieutenant Ihnen bereits Zugeständnisse gemacht, um etwas Wiedergutmachung zu leisten. Um Ihr Ohr tut es mir zwar sehr leid, aber sollte man mir das Leben noch schwerer machen, kann ich für nichts …« Tallow atmete tief ein und lächelte. »Aber warum lernen wir uns nicht erst mal kennen?« Er wandte sich an die Frau. »Sie heißen also Scarly?«

»Scarlatta.«

»Hallo. Ich bin John. Und wie heißen Sie?«

»Bat.« Und auf Tallows frostigen Blick: »Hey, meine Eltern haben mich in den Achtzigern gekriegt. Was soll man machen?«

»In der Zeit zurückreisen und die beiden abmurksen, bevor sie sich vermehren«, schlug Scarly vor.

»Ach ja, sie ist gar keine Autistin«, meinte Bat. »Das sagt sie nur, damit die Leute ihr weniger auf die Nerven gehen. Und, äh, unser Beileid wegen Ihrem Partner.«

Scarly nickte. »Ja, das ist wirklich scheiße.«

Tallow lehnte sich an den Türpfosten und nahm sich einen Moment Zeit, um das Büro zu überblicken. Ein Arbeitstisch mit je einem Stuhl zu beiden Seiten. Zwei Laptops, einer in Hartschale, der andere mit ein paar Kerben im gebürsteten Aluminium. Plastikregale an sämtlichen Wänden. Im Raum verteilt hingen einige aufblasbare Lautsprecher, deren Kabel hinter bergeweise Akten und Kisten, Gefäßen mit seltsamen Pulvern und Behältnissen mit alchemischem und vermutlich illegalem Inhalt verschwanden, den Tallow lieber nicht näher identifizierte. Jeder Fleck Wand, der nicht als Lagerfläche benötigt wurde, war zugekleistert mit Ausdrucken und Zeitungsausschnitten, ein Schwarz-Weiß-Chaos, das sich wahrscheinlich nur den beiden Bewohnern erschloss. Unter dem Tisch erhob sich ein kleines Gebirge aus Sandwichverpackungen, Wegwerf-Kaffeebechern und Pillenschachteln, und hinten in der Ecke entdeckte Tallow einen alten schwarzen Plastikeimer mit abgenutzter Paintball-Ausrüstung. Er fragte sich, ob das Rot am Kolben der einen Kanone Farbe oder getrocknetes Blut war.

»Sie beide waren aber nicht am Tatort, oder?«, meinte Tallow.

»Stimmt«, keifte Scarly. »Der Fall wurde auf uns abgeschoben. Was ja auch total sinnvoll ist, denn eine möglichst konfuse Beweismittelkette ist bei so einem Fall natürlich optimal. Und ich und Bat hatten dieses Jahr wohl noch nicht genug Scheiße abbekommen. Deshalb sitze ich jetzt mit einem Fall fest, der mich die Karriere kosten wird, und einem Kollegen, der die magische Fähigkeit besitzt, sich mit einer Waffe ins Gesicht zu scheißen.«

»Also«, sagte Tallow. »Wie kann ich Ihnen das Leben leichter machen?«

»Im Ernst?«

»Im Ernst. Wie gesagt, ich weiß, dass meine Chefin bereits gewisse Zugeständnisse …«

Bat kicherte. »Ja. Ihre Chefin hat eine Abmahnung für unsere Chefin in einem schwarzen Loch verschwinden lassen.«

»Aber Ihre Chefin hat trotzdem keinen Grund gesehen, Sie beide von der schwarzen Liste zu streichen, auf die Sie ihrer Meinung nach gehören?«

»Scheint so«, antwortete Bat mit einem bösen Blick auf Scarly.

Tallow deutete auf Scarlys Unterarm. »Sie haben sich ein Tattoo stechen lassen, als Sie eigentlich die Morde in der Pearl hätten aufnehmen sollen?«

Bat schnitt eine Grimasse. »Ihre Frau hat drauf bestanden. Sie hatte sogar das Handy ausgeschaltet.«

»Wissen Sie was?«, fragte Scarly. »Wenn ich gewusst hätte, dass Verheiratetsein so ein Stress ist, wäre ich nie für die Homoehe auf die Straße gegangen. Den Scheiß könnt ihr Heteros behalten.«

Eine große Müdigkeit legte ihre Schwingen um Tallows Schultern. »Könnten wir das Gespräch vielleicht in der Nähe einer Tasse Kaffee fortsetzen?«

Die beiden führten Tallow in ein kleines Besprechungszimmer ein paar Flure weiter. Während sie eine Kaffeemaschine überredeten, einen Pappbecher voll Teersoße auszuspucken, ließ er sich auf einen abgenutzten, löffelförmigen Plastikstuhl sinken und sammelte seine Kräfte. Scarly und Bat nahmen gegenüber Platz. Scarly warf eine Mappe mit Fotos auf den Tisch und schob ihm seinen Kaffee hin, Bat tupfte sich noch einmal das Ohr ab und feuerte das stinkende Handtuch ebenfalls auf den Tisch.

»Okay. Ganz im Ernst. Wo stehen wir?«, fragte Tallow. Dabei wollte er es gar nicht wissen. Seine Finger schlossen sich um den kostbaren Kaffee – und zuckten so heftig zurück, dass sein Handgelenk schmerzhaft knackte. Die Brühe war höllisch heiß.

»Die ECTs holen die Waffen in kleinen Portionen aus dem Apartment«, meinte Bat. »Und wir zwingen sie, so viele Fotos zu machen, dass sich eine schon erkundigt hat, ob sie jetzt zur Pornofilmerin ausgebildet werden soll.« Er schlug die Mappe auf und breitete die gesammelten Fotos aus Apartment 3A aus. »Die Waffen landen hier, wir registrieren sie und gleichen ihren Fundort im Apartment mit dem Grundriss und der ursprünglichen Tatortdokumentation der Kollegen ab. Im Moment greifen wir stichprobenartig Waffen heraus, geben Testschüsse ab und untersuchen die Ballistik. Sofern die Scheißteile dabei nicht explodieren.«

»Und das war noch nicht mal die älteste Waffe«, warf Scarly ein.

»Ich konnte mich nicht überwinden, die älteste abzufeuern, die wir bisher dahaben. Wo der verdammte Bulldog schon so einen Schaden angerichtet hat.«

»Wie alt ist die älteste?«, fragte Tallow.

»Interessiert Sie das?« Bat beugte sich vor und riss die Augen beunruhigend weit auf. Noch weiter und sie würden aus seinem Kopf in den Kaffee fallen. Und in der kochenden Flüssigkeit vermutlich explodieren.

Behutsam schob Tallow den Becher beiseite. »Ich interessiere mich für Geschichte.«

»Dann bleiben Sie mal sitzen. Ich hab was für Sie.« Damit flatterte Bat hinaus.

»Was für eine Waffe ist Ihnen denn explodiert?«, fragte Tallow Scarly.

»Explodiert? Ich glaube, sie ist eher zerbröselt wie ein durchgefaulter Käse. Wenn unser Täter mit einer Waffe fertig war, hat er sie anscheinend in sein Kämmerchen gehängt und nie wieder angerührt. Die haben alle an der Wand vor sich hin gerostet. Und in ein paar ist Farbe.«

»Aber es hat den Schlagbolzen rausgehauen?«

»Behauptet Bat. Ich hab mir die Waffe seitdem noch nicht angeschaut. War ein alter Charter Arms Bulldog .44. Ein Billigteil, aber aufgemotzt, sodass er nach einer ernst zu nehmenden Kanone aussah. Wenn Sie mich fragen, ist ein Stück vom Hahn abgeplatzt und nach hinten geschossen.«

Tallow versuchte es noch einmal mit dem Kaffee. Diesmal verbrannte er sich nicht. Er nahm einen Schluck. Leichenschlamm und ätzender Süßstoff. Er nahm noch einen Schluck. »Bulldog … kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber ich weiß nicht, woher.« Seine Stirn legte sich in Falten.

»Son of Sam.« Scarly lächelte, vielleicht zum ersten Mal in Tallows Gegenwart. »Der hat seine Opfer mit einem .44er Bulldog umgelegt.«

»Warum wissen Sie so was? Stehen Sie auf Waffen?«

»Ich bin beim CSU. Wir stehen hier alle auf Waffen. Und die Akte zu Son of Sam ist noch immer nicht geschlossen. Woran uns irgendein abstoßendes Arschloch alle sechs Monate erinnert, als wäre das alles unsere Schuld. Ich war noch nicht mal geboren, als der Typ verhaftet wurde.«

»Das ist doch ein Scherz. Ich dachte, der neue Staatsanwalt hätte den Fall geschlossen?«

Ein bitteres Lachen. »Warum sollte er eine Peitsche herschenken, mit der er das NYPD durchprügeln kann? Sie, ich, jeder Mensch ohne Hirntumor weiß, dass Son of Sam ein Einzeltäter war. Aber wenn man so richtig verrückt ist und ganz fest hinschaut und am besten noch ein golfballgroßes Dings auf demjenigen Hirnteil sitzen hat, der einem sagt, wie man sich morgens die Unterhose richtig herum anzieht … ja, dann könnte man schon Hinweise auf einen magischen Teufelskult entdecken, der dem Typen geholfen hat, wahllos Menschen abzuknallen. Und dann sind die Freaks nach Hause gegangen und haben Rosemary’s Baby gerammelt, oder was man als Satanist in den Siebzigern so in seiner Freizeit gemacht hat.«

Bat segelte herein, eine durchsichtige Plastiktüte mit einer Waffe im Arm. »Sie werden Augen machen!«, rief er und legte die Tüte grinsend auf den Tisch.

»Scheiße, was ist das denn?«, fragte Tallow.

»Ich weiß, ich weiß!« Bat war ganz aus dem Häuschen.

»Das ist eine Steinschlosspistole.«

»Ja. Genauer gesagt handelt es sich um eine Asa Waters Model 1836, die einst für stattliche neun Dollar über die Ladentheke ging. Die letzte Steinschlosspistole, die noch an die US-Regierung verkauft wurde, ein Vorderlader mit Kaliber .45, der auf Pistolen zum Kapern von Schiffen basierte. Auf Dingern, die man mit Schrapnell und Nägeln laden konnte, und was sonst noch so rumlag.«

Tallow hob die Pistole auf und drehte sie in den Händen. »Ist ziemlich mitgenommen.«

»Sie kapieren’s nicht«, meinte Bat mit einem Stirnrunzeln. »Bislang deutet alles darauf hin, dass jede Waffe in diesem Apartment für einen Mord verwendet wurde. Das heißt, dass Sie da eine fast zweihundert Jahre alte Pistole in der Hand halten, die unser Mann so weit instand gesetzt hat, dass sie eine zuverlässige Mordwaffe abgab, nur um sie hinterher an der Wand vergammeln zu lassen. Er hat sie sonst wo aufgetrieben, wahrscheinlich völlig durchgerostet in der Nähe eines Gewässers, und wieder funktionstüchtig gemacht. Ich würde sogar darauf wetten, dass die Schäden und Kratzer am Lauf nicht auf sein Konto gehen.«

Die Pistole war unbestreitbar schön. Sinnlich geschwungenes tiefbraunes Holz, das offensichtlich noch in der jüngeren Vergangenheit liebevoll poliert worden war. Metallpartien, die ihren Glanz eingebüßt und kleinere Dellen eingesteckt hatten, aber erkennbar geschliffen und tiefengereinigt worden waren. Die Pistole sah jünger aus, als sie war. Auf einem Plättchen war eine Art Abzeichen auszumachen, das mit den Jahren jedoch stark verschwommen war, und darüber ein Wort, das vielleicht Rooster lautete. Nein, nicht Rooster. Ein längeres Wort, doch die Gravur war mittlerweile zu unscharf.

»Und die wollen Sie nicht abfeuern?«

»Nie im Leben. Hätte eh keinen Sinn. Der Täter musste sich höchstwahrscheinlich ein eigenes Projektil schnitzen. Nein, es wäre viel sinnvoller, den Computer zu fragen, ob in den letzten zwanzig Jahren eine Leiche mit einem Loch vom Kaliber .45 und einer weichen Bleikugel als Füllung gefunden wurde. Ich meine, wer weiß? Aber am allerliebsten würde ich den Lauf aufschneiden und einen Blick ins Innere werfen.«

»Erstaunlich.« Tallow legte die Waffe ehrfürchtiger weg, als er sie in die Hand genommen hatte. »Danke für die Geschichtsstunde. Okay. Sie lichten den Tatort ab, ordnen die Fotos dem Grundriss zu, bringen die Waffen her …«

»Ja.« Bat zog die Pistole wieder zu sich und verschlang sie mit seinen großen Augen. »Sie haben ja gesehen, dass manche Waffen Farbspuren aufweisen. Das gucken wir uns auch an. Vielleicht gibt das ja was her.«

»Vergiss es«, sagte Scarly.

»Eine Frage«, meinte Tallow. »Gibt es hier vielleicht einen großen, leerstehenden Raum, den wir besiedeln könnten? Sozusagen als Einsatzzentrale für uns alle. Nur anders.«

»Wenn ich wüsste, was das heißen soll …« Bat runzelte die Stirn. »Aber, äh, ich glaube, ein Stockwerk weiter unten ist Platz. Wir haben neulich erst eine Riesenladung Beweismitteltonnen in die Bronx verfrachtet. Aber da müsste wahrscheinlich unsere Chefin einwill…«

»Meine Chefin hat Ihre Chefin gestern erst rausgehauen. Das kann sie bei Bedarf auch ganz schnell wieder rückgängig machen. Ich will mein Zimmer.«

»Nichts für ungut, Kumpel«, meinte Scarly langsam, »aber habt ihr am Ericsson Place nicht scheißviele Zimmer?«

»Klar. Aber dieser Fall wird nicht am Ericsson Place gelöst. Sondern hier.«

Scarly verschränkte die Arme und lehnte sich weit zurück, weg von Tallow. Sie machte völlig dicht. »Der Fall wird nirgendwo gelöst, Detective.«

»Ach nein?«

»Nein. Wenn man den Typen erwischen könnte, hätten wir ihn längst erwischt. Wissen Sie, was Sie mit dem Loch in der Wand angerichtet haben? Sie haben die Laufbahn des Leibhaftigen unterbrochen. Das ist ein komplett abgedrehter Ghost-Dog-Serienmörder, der sich ein ganzes Apartment mit Trophäen vollgehängt hat, um sich einen drauf runterzuholen. Aber er kann nicht mehr dorthin zurück. Und was bedeutet das? Dass er wieder morden wird, wahrscheinlich noch mehr und in noch kürzeren Abständen, um sich eine neue Trophäenkammer-Schrägstrich-Wichshöhle aufzubauen. Deshalb wird der Fall nicht nur nicht gelöst, nein, noch mehr Menschen werden umkommen, und wir werden ihn auch diesmal nicht fassen, weil der Kerl einfach viel zu gut ist. Sie, Detective, haben die New Yorker Postadresse des Teufels aufgestöbert, und jetzt ist er umgezogen. Glückwunsch.« Sie holte Luft. »Schauen Sie sich doch mal die Fotos an. Er hat den ganzen Mist exakt angeordnet. Das sind Muster, die bedeuten was. Und gucken Sie sich mal diesen Pistolenkringel an. Die drum herum sind alle fertig, aber hier ist der Kreis nicht geschlossen. Da sind noch Plätze frei, da und da. Er war noch nicht fertig. Oder hier, das sieht nach Zahnrädern aus, die ineinandergreifen sollen. Das ganze Apartment ist eine Trophäe, eine Kreuzung aus Kirche und Motor. Und jetzt muss er von vorne anfangen. Er kann nicht anders. Das ist sein Lebenswerk.« Eine Pause. »Wollen Sie wissen, was ich in Ihnen sehe, Tallow? Ich sehe einen Cop, der bereits zu neun Zehnteln tot ist. Typen wie Sie schlurfen hier ständig durch. Sie haben schon vor Jahren aufgehört, sich noch um Ihren Job oder um sich selbst zu scheißen. Schauen Sie sich doch mal an – nicht mal Ihr verdammter Anzug sitzt! Und egal wie viel Sie über Ihre beschissenen letzten Tage jammern, Sie sind ja nicht mal wütend. Sie sind bloß müde. Ich wette fünf Dollar, dass Ihr Partner Sie bloß mitgeschleppt hat, und zehn Dollar, dass Ihre Chefin Ihnen den Fall aufgedrückt hat, weil sie keine echten Detectives an den Müll verschwenden will. Sie werden den Fall nicht lösen. Und ich und die Fledermaus? Wir sind der verfickte Kollateralschaden. Sie sind schon tot, aber der Typ aus der 3A, der wurde soeben wiedergeboren. Super. Vielen Dank auch. Sie machen uns das Leben nicht leichter. Und wenn Sie unbedingt Polizist spielen wollen, nisten Sie sich woanders ein. Klar?«

Eine unangenehme, eisige Stille entstand. Bat studierte die Decke. Tallow sah Scarly an, sie starrte zurück. Eine komplette Minute wich keiner dem Blick des anderen aus.

Bis Tallow sein Handy rausholte und auf die Uhr schaute. »Erstens«, sagte er dann. »Ich will, dass jedes Foto aus dem Apartment im Maßstab eins zu eins vergrößert und dem Grundriss entsprechend angeordnet wird. Wäre toll, wenn Sie ein paar herrenlose Whiteboards, Gipsplatten oder so auftreiben und nach unten in ein großes, leeres Zimmer Ihrer Wahl schaffen lassen könnten. Ich fahre noch mal zum Apartment, und um acht Uhr treffen wir uns im Fetch an der Fulton. Sie werden sich auf meine Kosten satt essen und betrinken und mit mir reden.«

»Warum?« Scarly schüttelte den Kopf, als hätte sie die Orientierung verloren.

»Ich habe mich wohl unklar ausgedrückt. Sie beide sind meine neuen Partner. Und wir lösen diesen Fall. Sie wollen wissen warum? Weil es für mich momentan nur noch einen Krümel Trost gibt – als meine Chefin der Frau meines Partners gesagt hat, dass er tot ist, hat sie ihr auch gesagt, dass ich den Typen erschossen habe, der ihn umgebracht hat. Da draußen sind Hunderte Leute, denen auch gesagt wurde, dass ihre Liebsten tot sind, und die nie zu hören bekommen haben, dass wir deswegen auch nur einen Finger gerührt hätten. Deshalb löse ich diesen Fall. Ist das jetzt klar?«

Scarly musterte ihn. »Das glauben Sie doch selbst nicht.«

»Tut das noch was zur Sache?«, sagte Tallow und ging.

Eine kurze Fahrt zog sich in die Länge. Tallow musste eine Lücke im Verkehrswirrwarr abpassen, um zur Brooklyn Bridge durchzustoßen.

Der Funk lief mit. Die Stadt leistete ihm Gesellschaft, solange er es aushielt. Ein Typ aus Stuyvesant Heights war nach Hause gekommen, hatte festgestellt, dass seine Reifen aufgeschlitzt waren, war zur Bodega um die Ecke gegangen, um sich nach Zeugen zu erkundigen, und hatte eine Kugel ins linke Auge bekommen. Keiner hatte was gesehen. Der »Seriengrapscher« der Upper East Side hatte erneut zugeschlagen – er hatte eine Zwanzigjährige zu Boden gestiefelt und im Schritt befummelt, bis sie so laut »Vergewaltigung!« geschrien hatte, dass er eine Scheißangst bekommen hatte. Alles an der Ecke Lexington/East Seventy-Seventh, aber irgendwie hatte keiner was gesehen. Plötzlich aufgeregtes Geplapper über einen Streifenbullen aus der Bronx, den die interne Ermittlung eben aufgegriffen hatte, da ans Licht gekommen war, dass er angeblich einem Kind eins mit der Dienstmarke übergezogen hatte. Das Geplapper stammte von Cops, die alle dabei gewesen waren und nichts gesehen haben wollten.

Als Tallow den Funk ausknipste, wanderten seine Gedanken zurück zu der Waffe. 1836. Er interessierte sich schon immer für Geschichte, doch seine Kenntnisse waren lückenhaft. Irgendwie hatte er nie die Muße, sich in ein bestimmtes Thema zu vertiefen, und so kratzte er immer nur an der Oberfläche und zog weiter. Aber 1836 … was war das für eine Zeit? Die Pearl Street hieß Pearl Street, weil sie früher mit Austernschalensplittern gepflastert war. Perlmutt. Existierte das Perlenpflaster auch noch 1836? Nicht auszuschließen, dass er auf derselben Route unterwegs war wie derjenige, der die Waffe im Jahr 1836 nach Manhattan gebracht hatte. Tallow wusste, dass die Pearl Street mal am Flussufer gelegen hatte.

In seiner Vorstellung schimmerten die Scheinwerfer der vorbeirauschenden Autos in der zunehmenden Dunkelheit wie verlangsamte, verschwommene, der Zeit entrissene Irrlichter. Er schüttelte den Gedanken ab.

Tallow hielt am gegenüberliegenden Straßenrand der Pearl, ein Stück hinter dem Mietshaus – gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie ein ECT-Truck mit der neuesten Beute aus der waffenstarrenden Schatzkammer des Apartments 3A abdampfte.

Er stieg aus, stellte sich auf den Gehsteig und betrachtete das Haus ein Weilchen. Lange genug, um irgendwann zu bemerken, dass er Gesellschaft hatte. Etwas spezielle Gesellschaft: Neben ihm lehnte ein älterer Mann an einem Schild. Er trug einen schweren Mantel aus Wildleder oder irgendeiner anderen Tierhaut, der mit groben, unpassenden Lederfetzen geflickt war. Von seiner Schulter hing eine Felltasche. Weiche Schuhe, fast schon Mokassins, bereits voller Straßenruß, aber noch so fest, dass sie wohl relativ neu sein mussten. Haar und Bart wie Rost und Schnee. Für einen unverkennbaren Penner roch der Typ gar nicht mal so schlimm. Was soll’s, dachte Tallow, die Vielfalt des Wahnsinns ist grenzenlos.

Und sofort sah er wieder den brüllenden, nackten Bobby Tagg mit seiner Schrotflinte vor sich.

Dass er eine Zigarette rausgefischt und angezündet hatte, fiel Tallow erst auf, als er zum zweiten Mal dran zog. Genervt von sich selbst, betrachtete er die Kippe. Hatte er die Schachtel nicht längst wegwerfen wollen?

»Tabak?«, fragte der Penner.

»Äh … ja.«

»Hast du eine übrig?«

»Klar.« Als Tallow die Schachtel aus der Tasche kramte und eine Zigarette herausdrückte, streckte der Penner eine schwielige, von winzigen Narben gegerbte Hand aus. Der Typ hatte mal mit den Händen gearbeitet, vielleicht als Tischler, ehe was auch immer passiert war. Tallow war lange genug auf der Straße unterwegs – er wusste, dass es nichts Weltbewegendes brauchte, damit jemand plötzlich keine bessere Möglichkeit mehr sah, als im Freien zu leben und sich aus Müllsäcken zu ernähren.

Mit einem schnellen, entschlossenen Handgriff zwickte der Penner den Filter von der Zigarette, schob ihn in die Tasche und bat mit einer Geste um Feuer. Tallow knipste das Feuerzeug an und sah, wie ein Mittelding aus Enttäuschung und Verachtung über sein Gesicht huschte, bevor er sich doch dazu herabließ, seine Kippe an dem Flämmchen anzustecken.

»Danke.«

»Kein Problem.«

Der Penner sog den Rauch ein und hielt ihn in der Lunge. Als der Rauch schließlich aus Mund und Nase kroch, fuhr der Mann mit den Fingern durch die aufsteigenden Schwaden, fing sie in der hohlen Hand, ließ die Finger durch die Rauchwölkchen flattern.

Er leckte sich die Lippen. »Es ist nicht mehr wie früher. Zu viele … wie sagt man? Zusatzstoffe?« Seine Zungenspitze glitt über die Lippen, als wollte sie Rückstände erschmecken. »Honig. Benzol. Ammoniak. Schmeckst du das nicht? Sogar Kupfer.«

»Bald hör ich wieder auf«, meinte Tallow.

»Gut. Tabak sollte nur zu besonderen Anlässen genutzt werden. Tagein, tagaus zu rauchen, setzt seinen Wert herab und mindert die Wirkung.« Beim nächsten Ausatmen stieß der Penner die Finger in den Rauch, als wollte er den silbernen Kringeln in den Himmel hinaufhelfen.

Tallow fragte sich sofort, was für einen besonderen Anlass der Typ heute zu feiern hatte. Doch er sparte sich die Frage. Er hatte keine Kraft für Diskussionen mit verrückten Straßenbewohnern. Deshalb trat er bloß seine Kippe aus, sagte »Viel Glück« und ging über die Straße zum Mietshaus.

»Ja, dafür bete ich«, antwortete der Penner seinem Rücken. »Für ein bisschen Glück.«