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Solveig Wettergren setzte sich in ihr kleines rotes Auto. Sie schaute kurz zu Tullas Wohnungsfenstern hoch. Eigentlich ärgerte sie sich ein wenig. Die Hochzeit des Kronprinzen rückte näher. Es blieben nur noch wenige Tage, und sie musste sich um alles kümmern. Tulla war nur hektisch und plapperte und plapperte und plapperte. Alf Boris hatte versprochen, ihnen das große Portrait von Königin Maud zu leihen. Eine Zeitung hatte nämlich von dem Klub der alten Damen erfahren. Nun sollte eine Reportage aus dem Hotelzimmer gemacht werden, sie sollten interviewt und fotografiert werden, während das Kronprinzenpaar vorüberfuhr. Solveig Wettergren freute sich eigentlich sehr darauf. Und da würde sie Tullas Passivität ertragen müssen. Beide wollten in ihrem feinsten Putz auftreten. Sie selbst hatte sich schon ein fantastisches frühlingsgrünes Seidenkleid gekauft. Und schönen Schmuck hatte sie ja vorher schon besessen.

Solveig Wettergren trat vorsichtig auf die Bremse. Ihr wurde kalt. Sie erkannte den zivilen Streifenwagen. Cato Isaksens Wagen stand vor ihrem Haus. Plötzlich sah sie ihn auf der Treppe. Die alte Dame hielt und schaltete den Rückwärtsgang ein. Dann setzte sie rasch zurück und bog in eine Auffahrt ab. Sie konnte den Polizisten im Moment einfach nicht ertragen. War nicht in der Stimmung. Warum schlich er die ganze Zeit um sie herum?

Nachdem Cato Isaksen eine Stunde lang auf Solveig Wettergren gewartet hatte, setzte er sich in den Wagen und fuhr zur Waldemar-Thranes-Gate weiter.

Tulla Henriksen war ebenfalls nicht zu Hause. Sie machte jedenfalls nicht auf. Cato Isaksen kaufte sich eine Zeitung, setzte sich vor dem Eingang zu dem alten Mietshaus in sein Auto und wartete. Er hatte sich überlegt, dass er vielleicht ein bisschen mehr über Brenda Moens Vergangenheit in Erfahrung bringen sollte. Das war vielleicht ein bisschen spät, aber er wollte sich eben ein Bild über frühere Zeiten verschaffen. Über die Jahre, in denen Kathrines Großmutter in der Kantine des Krankenhauses Ullevål gearbeitet hatte. Bisher hatten sie bei den Ermittlungen darauf keinen großen Wert gelegt. Nichts wies darauf hin, dass ihre Vergangenheit etwas mit dem Fall zu tun haben könnte. Vielleicht hatten sie aber trotz allem etwas übersehen.

Nach zehn Minuten kam Tulla Henriksen mit offenem Mantel über die Straße gelaufen.

Sie blieb stehen, als sie ihn im Auto entdeckte. Cato Isaksen war hinter der Zeitung versteckt. Sie klopfte leise ans Fenster.

«Ach was», sagte sie, als er das Fenster geöffnet hatte. «Was ist denn los?»

«Ich komme mit Ihnen nach oben, wenn Sie nichts dagegen haben», sagte der Ermittler und stieg aus dem Wagen. Er faltete die Zeitung zusammen, warf sie auf den Fahrersitz und schloss die Tür ab.

«Wir freuen uns ja so auf den großen Tag», plapperte sie, als sie die Treppen hochgingen. «Solveig ist vor einer halben Stunde von hier losgefahren. Und in der Zwischenzeit hab ich schnell etwas zu essen gekauft. Jetzt sind es nur noch ein paar Tage.» Sie plapperte und plapperte, über Gott und die Welt. Cato Isaksen nahm ihr die Plastiktüten ab und trug sie für sie nach oben. Er ließ sie noch zehn Minuten weiterplappern, bis er sich einschaltete und auf den Grund seines Kommens zu sprechen kam. Er bat sie, von damals zu erzählen, als Brenda, Solveig und Tulla im Krankenhaus gearbeitet hatten. «Sie waren doch viele Jahre lang miteinander befreundet», sagte er.

«Herrgott, viele Jahre», wiederholte sie. «Dreißig Jahre müssen das sein, seit wir uns kennengelernt haben. Ja, damals waren wir wohl alle um die vierzig.»

«Und wie haben Sie sich kennengelernt?»

«Im Krankenhaus. Es war der pure Zufall. Brenda und ich arbeiteten in der Kantine. Ich war am längsten dort. Ich war wohl schon fünfzehn Jahre da, als Brenda anfing. Aber jetzt bin ich ja schon seit acht Jahren in Rente. Und Brenda hatte zwei Jahre vor mir aufgehört.»

«Und Solveig Wettergren?»

«Ach, Solveig war Krankenschwester.»

«Wann hat sie aufgehört?»

Tulla Henriksen rutschte nervös hin und her. «Ich weiß nicht mehr genau in welchem Jahr, aber es war lange vor uns.»

«Warum hat sie aufgehört?» Cato Isaksen hielt ihren Blick fest.

Tulla Henriksen stand auf, ging in die Küche und holte eine orangenfarbene Thermoskanne, die mit braunen Blumen bedruckt war. Sie füllte die Tasse des Ermittlers und drehte energisch den Deckel wieder fest. Ihm fielen ihre langen feuerroten Fingernägel auf.

«Dieser Kaffee stammt von heute morgen», sagte sie. «Aber Sie müssen sich eben damit zufrieden geben.» Sie holte auch für sich eine Tasse.

«Solveig ist kein schlechter Mensch», sagte sie dann abrupt. «Aber damals ist einfach alles zusammengekommen.» Sie verstummte kurz und musterte ihn abweisend. «Sie hat genug gelitten für das, was damals passiert ist.»

Cato Isaksen nickte langsam und trank einen kleinen Schluck Kaffee. Tulla Henriksen ging offenbar davon aus, dass er wusste, wovon sie hier redete.

«Aber was hat das mit Ihrem Fall zu tun?», fragte sie plötzlich.

Cato Isaksen würde hier vorsichtig vorgehen müssen. Vielleicht würde er jetzt etwas Wichtiges erfahren. Ihn überkam ein Gefühl von Ekel. Er verfluchte das Telefon, das plötzlich losklingelte. Er wusste sofort, dass Solveig Wettergren anrief.

«Die Polizei ist hier», sagte Tulla Henriksen und kehrte ihm den Rücken zu. «Nein, ich glaube nicht, dass es etwas Neues gibt», fügte sie hinzu. «Aber er fragt nach dieser Sache mit dir. Nach der Sache, wegen der du damals gehen musstest.»   

Cato Isaksen hätte ihr den Hals umdrehen können. Er erhob sich halbwegs und versuchte, sie zum Auflegen zu bewegen.

«Bitte», sagte er, aber Tulla Henriksen winkte ab. «Ja», sagte sie, «das ist in Ordnung», sagte sie dann endlich. Dann legte sie auf und drehte sich zu ihm um. Ihr dünnes, runzliges Gesicht sah jetzt abweisend aus. Ihre blauen Augen wirkten trübe. Er kannte diesen Blick von seiner eigenen Mutter.

«Solveig war wütend», sagte Tulla Henriksen und schaute ihn vorwurfsvoll an.

«Ach?»

«Können Sie mir verraten, was das mit Ihrem Fall zu tun hat?»

Cato Isaksen beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen. «Eigentlich nicht. Ich habe nämlich keine Ahnung, wovon Sie reden», antwortete er. «Und Sie haben jetzt die Wahl. Entweder erzählen Sie mir hier und jetzt alles oder wir fahren zusammen auf die Wache und setzen die Vernehmung dort fort.»

Tulla Henriksen holte tief Atem. Sie hob zitternd die Tasse mit dem lauwarmen Kaffee zum Mund.

«Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll», begann sie dann. «Solveig hatte sehr strenge Eltern. Der Vater war Geistlicher. Sie hat einmal erwähnt, dass sie als Kind geschlagen wurde, aber genau weiß ich das nicht. Und ihr Mann war immer viel krank. Er hatte Angstzustände und brauchte viel Zuwendung. Sie müssen sich doch an den Fall erinnern? Es war schrecklich für Solveig. Es kam doch in den Nachrichten und in den Zeitungen und überhaupt.»

Cato Isaksen wartete gespannt. Er versuchte ganz ruhig zu atmen.

«Es war natürlich nicht richtig von ihr. Das finden wir doch alle», erzählte Tulla Henriksen weiter. «Aber die Arbeitsbelastung war so hoch. Krankenschwestern hatten immer schon viel zuviel zu tun.»

Sie stand auf und schlug mit einer rosa Spitzenserviette nach einer Fliege, die im Fensterrahmen herumsummte.

«Es wird schön, dieses Ungeziefer loszusein», sagte sie. «Jetzt, wo der Herbst kommt, sterben sie glücklicherweise.» Wieder klingelte das Telefon. «Das ist sicher Solveig», sagte sie und wollte den Hörer abnehmen.   

«Gehen Sie nicht ran», sagte Cato Isaksen spontan. «Jetzt setzen Sie sich und erzählen mir alles.» Er machte eine ungeduldige Handbewegung, und Tulla Henriksen blieb mitten im Zimmer stehen und starrte noch einen Moment lang das Telefon an, dann gehorchte sie und setzte sich brav.

«Darf die Polizei wirklich alles fragen, was sie will?»

«Ja», sagte Cato Isaksen. «Wirklich alles.»

Nach dem achten Klingeln verstummte das Telefon und die alte Dame erzählte weiter. «Solveig hat einige Male die Kranken zu hart angefasst», sagte sie. «Ich glaube aber eigentlich nicht, dass es so schlimm war, wie die Zeitungen es seinerzeit berichtet haben.»

Langsam ging Cato Isaksen ein Licht auf. Er konnte sich an so einen Fall erinnern, wenn er genauer nachdachte. Und was hatte Solveig Wettergren noch gesagt, als er sie damals zu Hause besucht hatte: «Obwohl ich Krankenschwester von Beruf bin und zehn Jahre im Krankenhaus Ullevål gearbeitet habe. Aber eigentlich hat diese Arbeit mir nie gelegen.»

Tulla Henriksen erzählt weiter: «Der Sohn einer Patientin, einer Neunzigjährigen, hatte in ihrer Nachttischschublade ein Tonbandgerät versteckt. Solveig wusste nicht, dass alles, was sie sagte, aufgenommen wurde. Und als der Sohn am folgenden Tag mit dem Tonband anrückte, enthielt das allerlei Beschimpfungen. Er ging mit der Sache an die Zeitungen. Die arme Solveig hat die Arbeitsbelastung einfach nicht ertragen. Es liegt am System, wissen Sie. Und ich glaube nicht, dass es sich inzwischen gebessert hat.»

Cato Isaksen mußte diese Informationen erst verdauen. Für einen Moment war er unsicher. Sollte er Tulla Henriksen mit auf die Wache nehmen und die Vernehmung dort fortsetzen?

«Wann war das?», fragte er.

«Ich glaube, 1975.»

«Und Brenda», fragte er. «Warum hat sie aufgehört?»

«Sie war ganz einfach erschöpft», sagte Tulla Henriksen. «Sie und ich hatten nichts mit Solveigs Geschichte zu tun. Aber natürlich haben wir zu ihr gehalten. Dafür sind Freundinnen doch da. Und die arme Solveig war wirklich unglücklich. Brenda und ich sind erst vor acht oder zehn Jahren in Rente gegangen. Wir haben in der Kantine gearbeitet. Wissen Sie, wie anstrengend diese Arbeit ist? Wir fingen um sechs Uhr morgens an und hatten zwischen drei und vier Uhr Feierabend. Eigentlich hätten wir schon um zwei Uhr fertig sein sollen, aber meistens schafften wir das erst so gegen drei oder vier Uhr. Aber meinen Sie, wir wären für diese Überstunden bezahlt worden? Aber nicht doch. Da mussten riesige Kessel gesäubert werden, Kartoffeln waren zu schälen, Brote zu schmieren. Wir mussten den Abwasch erledigen und die Böden putzen. Sie haben ja keine Ahnung. Eigentlich wäre das Männerarbeit gewesen. Aber glauben Sie, irgendein Mann hätte da arbeiten wollen? Aber nicht doch.»

Cato Isaksen empfand ein starkes Unbehagen beim Gedanken daran, was er hier über Solveig Wettergren erfahren hatte. Er wollte jetzt ganz schnell fort. Rasch schaute er auf die Uhr. Er hatte genügend Zeit, um noch am selben Tag diese neuen Informationen zu überprüfen. Er bedauerte, ein wenig schroff gewirkt zu haben, sagte aber, in einem dermaßen schwerwiegenden Fall müssten einfach alle Karten auf den Tisch. Tulla Henriksen murmelte vage, das könne sie ja verstehen. Er wusste, dass sie ihre Freundin sofort anrufen würde, sowie er aus der Tür war.