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Obwohl er die Antwort schon kannte, wollte Cato Isaksen Nils Bergman mit dem Fund des toten Huhns konfrontieren. Solvi Steen schien sich köstlich zu amüsieren, als ihr aufging, was die Polizei gedacht hatte. Cato Isaksen fuhr sie nach Hause und steuerte dann die Innenstadt an. Nils Bergman war nicht zu Hause, und deshalb fuhr Cato Isaksen weiter zur Mautstation, wo er ihn auch tatsächlich in einer der kleinen Glasbuden fand. Der Ermittler ging um die Bude herum und klopfte an die Tür. Widerwillig öffnete Nils Bergman. Der Anblick des Polizisten war ihm sichtlich unangenehm. Er hoffte, dass Stein Ove sein Versprechen gehalten und nicht verraten hatte, dass Nils die zweite Glock für ihn aufbewahrt hatte.

Das Reden war nicht leicht. Immer wieder wurden sie von Autos unterbrochen, die ihren Obolus entrichten mussten.

«Ich war heute mit Solvi Steen im Wald», sagte Cato Isaksen als erstes. «Sie hat erzählt, dass ihr euch mit echtem Blut einschmiert, stimmt das?»

Nils Bergman gab einem Autofahrer fünfzig Kronen heraus und drückte auf den Knopf, der die Schranke öffnete. Dann wandte er sich wieder Cato Isaksen zu.   

«Das ist Hühnerblut», sagte er kurz. «Das ist ja wohl nicht verboten.»

«Woher nehmen Sie die Hühner?»

«Von so einem komischen Knaben, der gleich hinter dem Sportplatz wohnt.»

«Alexander Stenberg?»

«Ja, kann schon sein, dass er so heißt. Ich zahle ihm fünfzig Kronen pro Huhn.»

«Damit müssen Sie aufhören», sagte Cato Isaksen hart und dachte an das Geld, das Maiken erwähnt hatte und das in einer Dose in Alexanders Zimmer gefunden worden war. Nils Bergman seinerseits hatte diesen übereifrigen Polizisten, der immer wieder seine Kreise störte, deutlich satt. Er verkniff sich einen säuerlichen Kommentar und ließ einen großen LKW passieren.

Erst später, auf der Rückfahrt nach Oslo, ging Cato Isaksen auf, dass er Solvi Steen nicht gefragt hatte, woher sie von der SMS wusste, die zwei Tage zuvor bei Helena Bjerke eingetroffen war.

Einen Tag, ehe sie in Urlaub fahren wollten, erfuhr Cato Isaksen, dass die SMS-Meldung tatsächlich von Kathrines Telefon stammte und irgendwo in Ostfold abgeschickt worden war. Jetzt sollte festgestellt werden, wo genau Kathrine sich währenddessen aufgehalten hatte. Er rief Solvi Steen an und fragte, woher sie von der Mitteilung an Kathrines Mutter gewusst hatte. Solvi sagte, eine Nachbarin, die zusammen mit Helena Bjerke in der Wäscherei arbeitete, habe es Solvis Mutter erzählt, und von der wisse sie es eben auch. Mit dieser Erklärung gab Cato Isaksen sich zufrieden.

Er schaffte es nicht mehr, Brenda Moens Busenfreundinnen zu besuchen, ehe sie losfuhren. Die Tage waren ihm einfach davongelaufen. Er würde das nach seiner Rückkehr erledigen.

Bente und er hatten wieder dasselbe Ferienhaus an der Südküste gemietet wie schon im Vorjahr. Es lag nur einige Gehminuten vom Strand entfernt. Cato Isaksen konnte nur eine Woche bleiben, mehr Urlaub war im Moment nicht möglich. Bente erwartete danach noch den Besuch einer Freundin. Vetle und Georg waren auch dabei. Gard und seine Freundin würden sich ebenfalls für einige Tage einfinden. Cato Isaksen war erschöpft von der ergebnislosen Ermittlungsarbeit. Viel zu tun zu haben, war nicht das Schlimmste. Schlimmer war es, wenn nichts passierte, wenn die Ergebnisse ausblieben und man auf der Stelle trat.   

An den ersten Tagen las er nur und sonnte sich. Er versuchte alles auszuschalten, was mit Ermittlungsarbeit zu tun hatte. Jetzt, wo er endlich ausspannen konnte, merkte er erst, wie müde er war und wie satt er alles hatte. Am dritten Abend tranken sie auf der Terrasse eine Flasche Wein, ehe sie schlafen gingen. Die Tage vergingen so schnell. Nach einigen Gläsern merkte er, wie er sich entspannte.

«Findest du diesen Urlaub langweilig?», fragte er und sah Bente an, die in einem Korbsessel saß und aufs Meer hinausblickte.

«Ja», sagte sie gelassen. «Aber mit dir zusammen langweile ich mich gern. Das ist witziger, als sich mit anderen zu amüsieren.»

Er musterte sie, lächelte zaghaft. «Das war eigentlich sehr schön gesagt», meinte er.

«Manchmal frage ich mich, was du da eigentlich treibst.»

«Wirklich?»

«Ich bin nicht dumm», sagte sie und nippte am Wein.

Er wandte sich ab und schaute ebenfalls aufs Meer hinaus. Die letzten Sonnenstrahlen tanzten auf den Wellen, die gegen einen Felsen schlugen. «Ich treibe im Grunde gar nichts», sagte er.

«Mir kommt das anders vor», sagte sie.

Er seufzte. «Eigentlich habe ich es ziemlich satt, immer so ernst zu sein. Meine Arbeit ruiniert mir fast die ganze Laune.»

«Das verstehe ich nun wieder sehr gut», sagte sie. «Ich bin auch oft müde. Und meine Arbeit ist auch ziemlich deprimierend.»

«Das weiß ich», sagte er. «Du beschäftigst dich mit alten, kranken Menschen, und ich mich mit toten.»

Bente prustete los. Sie schlug die Hand vor den Mund, damit der Wein nicht herausströmte. Dann stellte sie das Glas energisch auf den Tisch.

«Pst», mahnte er. «Du weckst Georg. Und wir wollen doch wohl nicht, dass er wieder aufsteht, oder?»

«Nein», kicherte sie. «Das wollen wir nun wirklich nicht.»

Am siebten Tag fuhr Cato Isaksen nach Oslo zurück. Auf der Rückbank saß Georg, sommerbraun und fröhlich. Am Vortag hatte Roger Høibakk angerufen und mitgeteilt, dass Kathrines SMS über einen Mobilfunksender in der Nähe von Rakkestad gelaufen sei. Das war nicht weit von der schwedischen Grenze, es war also klar, dass Kathrine Bjerke sich dort in der Gegend aufgehalten hatte. Sie hatten die Lokalzeitung dort unten informiert, aber das hatte noch nichts gebracht. Als er bei Sigrid und Hamza klingelte, um den Jungen abzuliefern, war es schon nach sieben. Sigrid bot ihm ein alkoholfreies Bier an. Er nahm dankend an. Georg lief glücklich ins Kinderzimmer, das er mit seinem Schwesterchen teilte, und freute sich offensichtlich über das Wiedersehen mit seinem Spielzeug.

«Man könnte glauben, er sei einen Monat fort gewesen», lachte Sigrid. Sie war schön, mit ihren blonden Haaren, die ihr offen auf die Schultern hingen, und den kleinen Sommersprossen auf der Nase und den bloßen Armen. Georgs Schwesterchen war auch glücklich darüber, dass der große Bruder wieder zu Hause war. Sie war ein süßes kleines Mädchen. Die braunen Augen und die schwarzen Haare hatte sie von ihrem Vater.

Als Cato Isaksen danach losfuhr, war er ziemlich zufrieden. Diese Urlaubstage hatten ihn gestärkt. Und das konnte er auch brauchen, denn in seinem Haus in Asker erwartete ihn ein Schock. Als er gerade die Tür öffnen wollte, jagte ein roter Schatten wie ein Blitz in den dunklen Flur. Es war der Kater. Cato Isaksen traute seinen Augen nicht. Er spürte, wie sein Puls loshämmerte. Konnte das denn möglich sein? Der Kater lief in die Küche, als sei er niemals fort gewesen. Ungeduldig lief er an der Stelle hin und her, wo Futter- und Trinknapf immer gestanden hatten, und miaute energisch drauflos. Um den Hals trug er ein rotes Halsband mit einem Glöckchen. 

Plötzlich hörte sie das Geräusch des Röntgenapparates. Das Klicken und das plötzliche scharfe Licht, wenn die Bilder gemacht wurden. Sie nahm die sanfte warme Luft des Krankenzimmers wahr. Sie merkte, dass ihr Knöchel wehtat. Sie träumte von dem Arzt, der sagte, dass alles wieder in Ordnung kommen werde. Er beugte sich über sie. Kathrine glaubte, in einer Ecke einen Schatten zu sehen. Aber es gab keinen Schatten, denn die Glühbirne hing bewegungslos unter der Decke und es gab nichts, was einen Schatten werfen könnte. Es gab nur schwarze Flecken, die sich auf ihrer Netzhaut bildeten. Sie wanderten über die grauen Mauern und den Boden.

Sie fuhr aus dem Schlaf hoch. Kein Arzt beugte sich über sie. Und das Geräusch, das sie gehört hatte, stammte nicht vom Röntgenapparat, sondern von der schweren Tür.

Die Stimme war plötzlich da, zerschnitt wie ein harter Draht den Raum. «Du übst schon das Sterben, wie ich sehe. So, wie du schläfst.»

Sie hatte ihn schon oft gefragt, wo sie war, aber die Antwort war immer anders ausgefallen. «Du bist auf Hvaler. Du bist in der Nähe von Baerum. Du bist in Schweden. Aber nein. Du bist nicht weit von zu Hause. Das ist ja gerade so jämmerlich.»

Sie hasste diese helle Stimme, und die Verkleidung löste in ihr Übelkeit aus. Einmal hatte sie gebissen und gekratzt und war einfach hysterisch geworden. Aber danach war sie gefesselt worden, für viele Tage. Das wollte sie nicht noch einmal über sich ergehen lassen.

Sie lag noch immer unten auf der Matratze.

«Ist noch immer Sommer?», fragte sie.

«Ja.»

«Warum darf ich nicht nach draußen? Du kannst mich doch fesseln, aber ich brauche ein bisschen Licht, ein bisschen Luft.»

«Nein.»

«Ich laufe nicht weg. Das verspreche ich dir.» Sie sah die Waffe an, die aus der braunen Tasche herauslugte.

«Nein, habe ich gesagt. Du bist nur eine kleine, verängstigte Prinzessin. Ich will nicht, dass du weißt, wo du bist.»

«Kann ich nicht mein Handy zurückhaben, dann kann ich ein Spiel spielen. Du hast doch ohnehin gesagt, dass ich hier in einem Funkloch sitze.»

«Nein. Dein Handy hat eine kleine Reise gemacht.»

Langsam setzte Kathrine sich auf und lehnte den Rücken an die kühle Mauer. Sie durfte nicht aufspringen, durfte sich nicht provozierend verhalten. Dann würde sie bestraft werden. Die Glühbirne könnte herausgedreht werden. Oder sie bekäme nichts zu essen. Sie musste brav da sitzen und die Arme herunterhängen lassen. Ganz gelassen bleiben.

Einige Tage zuvor hatte sie Fieber gehabt. Und dabei war alles anders geworden. Die Luft war grauer, das Essen weißer geworden. Sie begriff nicht, warum sie nicht einfach sterben konnte. Deshalb war sie doch sicher hier eingesperrt.

Sie schüttete Apfelsinensaft in sich hinein. Vitamin C, dachte sie. Sonne. Ihre Hände zitterten, sie hatte Angst, der Karton könne ihr weggenommen werden. Die Folienpackung mit der kalten Mahlzeit wurde ihr gereicht. Frikadellen, wurde mitgeteilt.

«Igitt, kalte Frikadellen», sagte sie, was ihr ein erbarmungsloses Lächeln einbrachte. «Das ist hier unten wie in einem Aquarium», sagte sie dann mit vollem Mund. «Davon habe ich heute Nacht geträumt. Denn ich bin doch unten, oder? Unten in der Erde?»

«Spürst du das?»

«Ja.»

«Es stimmt aber nicht.»

Das nun folgende Lachen ärgerte sie. Sie wusste, dass diese Behauptung wahr und ebenso gut unwahr sein konnte. Sie schluckte das kalte Erbsenpüree hinunter.

«Ich habe saubere Waschlappen und ein Handtuch mitgebracht.» 

Kathrine betrachtete die hellblauen Stoffstücke. Verkniff sich eine weitere Bitte um frische Luft. Das Versprechen, nichts zu verraten, den ganzen Unsinn, der nichts brachte. «Danke», sagte sie müde.

«Bitte nicht diese Leidensmiene.»

«Tut mir Leid.» Sie schloss die Augen. Dachte an die Namen der Blumen draußen. «Gibt es noch Blumen, oder sind die schon verwelkt?»

«Es gibt noch Blumen.»

«Welche denn?»

«Allerlei.»

Sie dachte an die fünf Zwiebeln, die sie mit ihrer Oma gepflanzt hatte, die Blumen hätten zu ihrer Konfirmation blühen sollen. Sie wusste, dass die fünf gelben Spitzen längst herangewachsen und verwelkt waren.

«Kannst du diesen Schimmelkram da aus der Ecke wegnehmen?», fragte sie.

«Was denn?»

«Den Käse.»

Die Schuhe schlugen auf den Steinboden auf. «Warum hast du den nicht gegessen?»   

«Weil er verschimmelt ist.» Sie hob die Stimme. «Ich esse keinen verschimmelten Käse.»

«Bitte nicht diesen Tonfall.»

Und später, als die Tür sorgfältig verschlossen worden und sie wieder allein war, hörte sie in Gedanken wieder diesen Lärm. Das Dröhnen der schweren Eisentür, die ins Schloss fiel. Den leichten Lufthauch, der in den Raum strömte, ehe sich die Tür schloss. Und danach das metallische Echo der Schritte, die draußen verschwanden.