Es war nicht leicht, mit Nils Bergman in Kontakt zu treten. Der junge Mann, der in der Nacht von Kathrines Verschwinden Mai Britt Hansen an der Mautstation abgelöst hatte, wollte offenbar nicht mit der Polizei sprechen. Cato Isaksen hatte immer wieder vergeblich Nils Bergmans Handynummer angerufen, und obwohl er die Bitte um Rückruf hinterlassen hatte, meldete Nils Bergman sich nicht. Deshalb beschloss der Ermittler, ohne vorherige Verabredung zu ihm nach Drøbak zu fahren. Er passierte langsam die dortige Hauptstraße, wo Menschen und Autos sich um freie Parkplätze drängten. Er hielt unten am alten Hafen, um dem Chaos zu entgehen. Ehe er sich zu Bergman begab, wanderte er zweimal durch die Hauptstraße hin und her. Am Ende stand er wieder am Hafen, dort, wo früher die Fähre aus Storsand angelegt hatte, ehe der Tunnel gebaut worden war. Er trat ans Hafenbecken und schaute ins Wasser. Konnte Kathrine vor ihrem Verschwinden hier gewesen sein? Das Wasser dort unten bewegte sich, als ob das Meer atmete. Gleichmäßig und ruhig, mit einem leisen Zischen. Die schwarze Oberfläche spielte an der Mauerkante und wurde von ihr durchbrochen. Ganz plötzlich fiel ihm der zersplitterte Spiegel ein. Spiegelflächen sehen Wasser zum Verwechseln ähnlich. Brenda Moen hatte so viele seltsame Dinge an den Wänden gehabt. Das große Porträt von Königin Maud war schön. Aber aus irgendeinem Grund war ihm unwohl beim Gedanken an dieses Bild. Er hatte sich das bisher nicht überlegt, aber es lag an der unnatürlich schmalen Taille der Königin und an ihrem traurigen Gesicht. An dem senfgelben Kleid und den dunklen Haaren. Die Farben schienen einander auf irgendeine Weise zu hassen. Er war plötzlich davon überzeugt, dass es sich um ein überaus wertvolles Bild handeln musste.
Dann stand Cato Isaksen wieder im Hinterhof in der Torggata.
Er versuchte durch ein kleines viereckiges Fenster zu schauen, das ein Stück von der Tür entfernt angebracht war, aber das Fenster war von etwas verdeckt, das ihm vorkam wie ein Bettbezug. Der Ermittler schlug noch zweimal dröhnend an die Tür und wollte gerade wieder gehen, als geöffnet wurde. In der Türöffnung erschien ein junger Mann in Boxershorts. Der Fahnder hatte ihn offenbar geweckt. Eine Wange wies noch den Abdruck des Bettzeugs auf, und die bräunlichen, dichten Haare waren struppig und standen an einer Seite zu Berge.
Cato Isaksen stellte sich vor. «Es geht um das verschwundene Mädchen», sagte er. «Sind Sie Nils Bergman?»
Der junge Mann nickte. Er schien zu frieren, machte aber keinerlei Anstalten, den Ermittler ins Haus zu bitten.
«Sie haben einige Minuten, ehe Kathrine Bjerke zuletzt gesehen wurde, Ihren Dienst an der Mautstation angetreten, am 20. Februar», sagte Cato Isaksen. «Stimmt das?»
«Ja.» Der junge Mann fuhr sich kurz durch die Haare.
«Wissen Sie genau, wann Sie dort eingetroffen sind?»
«Ich bin in dieser Sache schon vernommen worden.»
«Das mag sein, aber es sind Dinge geschehen, die uns dazu zwingen, diese Runde noch einmal zu drehen, wenn ich das so sagen kann.»
«Haben Sie sie gefunden?»
«Nein.»
Jetzt bat Nils Bergman den Ermittler ins Haus.
«Aber hier ist alles reichlich chaotisch», sagte er.
Da hatte er Recht. Die Wohnung, wenn das die richtige Bezeichnung dafür war, bestand aus nur einem Zimmer. In einer Ecke stand eine kleine Anrichte. An den Wänden klebte eine abgeblätterte alte Tapete mit blauen Blumen. Unter dem einzigen Fenster, das verhängt war, stand ein altes Sofa mit einer Daunendecke ohne Bettbezug. Die Decke hatte braune Streifen am Rand. Cato Isaksen versuchte sich nichts anmerken zu lassen. «Was studieren Sie?», fragte er.
«Einführungskurs», sagte Nils Bergman. «Philosophie und so. Und nebenbei jobbe ich an der Mautstation.»
Der Ermittler nickte und wiederholte seine Frage von vorhin.
«Wissen Sie noch, wann Sie in dieser Nacht Ihren Dienst angetreten haben?»
Der Student, der gerade in seine Hose stieg, sagte, um fünf vor zwölf, wie immer. «Ich komme nie zu spät. Man kriegt es ziemlich satt, nachts zu arbeiten. Und es ist kalt. Wir haben zwar einen Heizstrahler für die Füße, aber trotzdem.»
«Wann hat Mai Britt Hansen die Mautstation verlassen?»
«Ich habe kurz mit ihr geredet, wie immer. Dann war sie weg. Zwei Minuten nach zwölf, nehme ich an.»
«Und Sie haben Kathrine Bjerke nicht gesehen, als Sie die Straße entlanggefahren sind?»
«Ich fahre nicht. Ich habe kein Auto. Ich nehme mit dem Rad eine Abkürzung. Das ist fast schon ein Trampelpfad, und deshalb habe ich sie nicht gesehen.»
Cato Isaksen war davon überzeugt, dass der Student die Wahrheit sagte, wenn er behauptete, Kathrine nicht gesehen zu haben.
«Kennen Sie Kathrine Bjerke?», fragte er jetzt.
«Nein», sagte Nils Bergman. «Aber ich kenne Kenneth.»
Ehe Cato Isaksen diese neue Information analysieren konnte, hatte Nils Bergman ihm schon erklärt, er sei eng mit Kenneths älterem Bruder Stein Ove befreundet.
«Stein Ove, ja», sagte Cato Isaksen. «Der ist beim Militär.»
Nils Bergman nickte.
«Wie finden Sie eigentlich Kenneth?»
«Wie meinen Sie das?»
«Genau so, wie ich gefragt habe. Wie finden Sie ihn?»
Nils Bergman war sichtlich verwirrt. «Haben Sie etwas herausgefunden?», fragte er und sah plötzlich ängstlich aus.
«Nein», sagte Cato Isaksen. «Ich habe Ihnen nur eine Frage gestellt.»
Nils Bergman verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. «Er ist vielleicht ein bisschen eigen», sagte er schließlich. «Sie sind sehr verschieden, die drei Brüder.»
«In welcher Hinsicht?»
«Ach, ich weiß nicht.»
Cato Isaksen starrte ihn neugierig an. Warum sagte er nicht einfach, was er meinte?
«Nein, ich weiß nicht», wiederholte Nils Bergman müde. «Ich denke wohl vor allem an diese Ticks von André, dem mittleren.»
«Was sind das für Ticks?»
Nils Bergman machte ein Gesicht, als habe er Angst, in eine Falle gelockt zu werden. «André ist total vergafft in Computerkram. Die anderen sind irgendwie viel schlaffer.»
«Kennen Sie André?»
«Ja», sagte Nils Bergman.
Cato Isaksen drehte einige Runden über den abgenutzten Linoleumboden und dachte nach. «Glauben Sie, Kathrine kann von einem Auto mitgenommen worden sein, das danach durch die Mautschranke und weiter durch den Tunnel gefahren ist?»
«Um diese Zeit geht jedenfalls kein Bus mehr.» Der Student zog sich einen Pullover über den Kopf, dann fügte er hinzu: «Ich habe in der Nacht kein Mädchen in einem Auto gesehen. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Und um diese Zeit kommen da nicht mehr viele Wagen vorbei. Dann sind vor allem Lastwagen unterwegs.»
Cato Isaksen dachte an die Berichte der Kollegen aus Folio. Die hatten sich große Mühe gegeben, um sich eine Übersicht der Lastwagen zu verschaffen, die in dieser Nacht unterwegs gewesen waren. Es gab Videoaufnahmen der Wagen, die die Mautschranke passierten. Die Nummernschilder waren zu sehen, die Menschen in den Wagen aber nicht. Die Fahrer waren befragt worden, aber das alles hatte nichts gebracht.
«Wenn ein LKW sie mitgenommen hat, hätten Sie sie dann überhaupt sehen können?»
«Wohl kaum. Ich sehe ja kaum den Fahrer. Die Wagen sind so hoch.»
«Ja, genau», murmelte Cato Isaksen vor sich hin. «Wie gut kennen Sie eigentlich Mai Britt Hansen?»
«Die ist doch die Mutter meines besten Freundes. Ich kenne sie ziemlich gut.»
«Welchen Eindruck hatten Sie von ihr, als Sie sie in der fraglichen Nacht abgelöst haben?»
«Welchen Eindruck? Jetzt verstehe ich nicht, was Sie meinen.»
«War sie wie immer?»
«Ganz wie immer. Meinen Sie, sie hat etwas mit der Sache zu tun?»
Cato Isaksen schüttelte den Kopf. Plötzlich fiel sein Blick auf eine grüne Uniform, die hinter der Wohnungstür über einem Stuhl hing. Es war eine Uniform in Tarnfarben.
«Was ist denn das da?», fragte er.
«Das ist meine Felduniform. Ich bin Gruppenführer in der Jugendabteilung der Heimwehr.» Nils Bergman kratzte sich am Arm.
Cato Isaksen starrte ihn einen Moment lang an.
«Wie lange machen Sie das schon?»
«Seit ein paar Jahren. Stein Ove hat mich dazu überredet. Er ist ein ziemlicher Militärfreak, wenn ich das so ausdrücken darf.»
«Haben Sie sich vielleicht auch an der Suche nach Kathrine beteiligt?»
Nils Bergman berichtete, dass er zwei Tage lang gesucht hatte, zusammen mit dem Roten Kreuz und Freiwilligen. Er sagte, es sei eine ganz besondere Erfahrung gewesen. Im Wald hatte noch Schnee gelegen. Er hatte sich die ganze Zeit vor dem Anblick gefürchtet, der sich ihm im Schnee zwischen den hohen verwelkten Grasbüscheln bieten könnte.
«Sie halten sie also für tot.» Cato Isaksens Blicke wanderten an einem Spalt entlang, der von der Mitte der Wand bis an die Decke reichte.
«Ja», sagte Nils Bergman mit lauter Stimme.