Cato Isaksen beschloss ein wenig früher nach Hause zu fahren. Der Tod seiner Mutter setzte ihm ärger zu, als er sich eingestehen mochte. Er konnte sich nicht konzentrieren. Als er die Abfahrt nach Asker erreicht hatte, bog er dann aber doch nicht ins Zentrum ab, sondern fuhr weiter nach links in Richtung Heggedalen und Hurumlandet. Er wollte in die andere Richtung fahren, wollte von der entgegengesetzten Seite her den Tunnel passieren. Es war eine lange Fahrt, aber es kam ihm beruhigend vor, im Auto zu sitzen. Er versuchte, nicht zuviel zu denken, er ließ die Straße einfach unter dem Auto verschwinden, während die Landschaft vorüberglitt.
Es machte ihm zu schaffen, dass Sigrid beim Tod seiner Mutter dabei gewesen war. Sie waren so perfekt, sie und Hamza. Kümmerten sich immer um andere. Als Gard an Drogen geraten war, hatte er Hamza angerufen, wenn ihm die Lage über den Kopf wuchs. Cato Isaksen wusste, dass seine Mutter sich über die Besuche der beiden sehr gefreut hatte. In den letzten Monaten war sie so verwirrt gewesen, dass sie auch Georgs Schwesterchen für ihre Enkelin gehalten hatte.
Als der Verteilerkreis beim Rainbowhotel in Royken hinter ihm lag, dort, wo der Mann von Heidi Greaker arbeitete, der letzten, die Kathrine in der Nacht ihres Verschwindens gesehen hatte, bog er auf einen Rastplatz ab und hielt an. Er ließ sich zurücksinken und schloss die Augen. In zwei Tagen würde seine Mutter beigesetzt werden. Das Bild ihrer dünnen, hilflosen Hände auf der Bettdecke ließ ihm keine Ruhe. Er hatte alle Anordnungen für die Trauerfeier und den Geistlichen getroffen. Bente hatte für Blumen und eine Gaststätte gesorgt, in der danach die Gäste empfangen werden konnten. Es war gut, dass die Mutter in den letzten Jahren im Heim gelebt hatte, so brauchten sie also keine Wohnung auszuräumen. Sigrid hatte angerufen und gefragt, ob sie die Kleine mitbringen dürften, oder ob sie noch zu klein sei. Sie sagte, seine Mutter sei auch für die Kleine eine Großmutter gewesen. Was hätte er daraufsagen sollen? Er konnte nicht nein sagen. Vetle nahm das alles sehr schwer. Er war ein besonders sensibler Junge. Er hatte dem Vater Vorwürfe gemacht, weil er sich so wenig um die Großmutter gekümmert hatte. Und der Junge hatte Recht. Er hatte viel zu bereuen.
Er nickte kurz ein und schlief zehn Minuten, dann ließ er den Motor wieder an und fuhr weiter. Beim letzten Wegstück vor dem Tunnel lag der glitzernde Fjord auf seiner linken Seite. Die neue Autobahn war der Landschaft sehr geschickt angepasst worden. Hier und dort ragten hohe Steinmauern und Aussichtstürme auf.
Wieder fuhr er in den Tunnel. Und wieder war er von dem bunten Licht fasziniert, einfach von der ganzen Anlage. In regelmäßigen Abständen passierte er die Türen in der Felswand.
Als er das Tageslicht wieder erreicht hatte, fuhr er an der Mautstation vorbei und steuerte das Zentrum von Drøbak an. Er hielt auf dem großen Parkplatz neben dem staatlichen Alkoholladen. Er warf Geld in die Parkuhr und wanderte die Straße entlang. Inzwischen kannte er sich in der kleinen Stadt schon sehr gut aus. Er glaubte, eine junge Mutter mit zwei Kindern zu erkennen, die er bei seinem letzten Besuch hier gesehen hatte. Die alte Biertrinkerin aus dem Hafen war ihm auch schon zweimal über den Weg gelaufen.
Plötzlich stand er vor der großen Holzkirche. «Erlöserkirche», verkündete ein altes Schild über der Tür. Die Kirche war umgeben von grauen und gelben Holzhäusern. Hier hätte Kathrine im Mai konfirmiert werden sollen. Er wusste, dass die Pastorin und der Diakon in Verbindung mit dem Verschwinden vernommen worden waren. Er legte die Hand auf die Klinke und zog die hohe Holztür auf. Dann betrat er die kühle Kirche. Es war ganz still. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Er blieb einen Moment stehen, dann ging er langsam durch den Mittelgang. Es war eine schlichte, aber schöne Kirche. Er ging bis zum Altar weiter. Er war von einem Gefühl der Trauer erfüllt. Seine Mutter war tot. Brenda Moen war tot, und Kathrine war tot. Überall auf der Welt mussten Menschen sich ihrer Trauer stellen. Trotzdem waren Menschen, die jemanden verloren hatten, so einsam. Und der Tod war so fremd, beängstigend und unbekannt.
Er war in Gedanken versunken und betrachtete das Jesusbild, als er plötzlich hinter sich eine Bewegung registrierte. Er fuhr herum. Eine Frau von vielleicht vierzig oder fünfzig Jahren musterte ihn neugierig. «Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?», fragte sie mit dunkler Stimme.
Cato Isaksen lächelte rasch. Er war ein wenig verlegen, fühlte sich wie auf frischer Tat ertappt. Trotzdem stellte er sich kurz vor und erklärte, warum er sich in der Kirche aufhielt.
Die Frau, die Hose und Pullover trug, wurde ernst. Sie war die Pastorin, von der Kathrine hätte konfirmiert werden sollen. Sie berichtete von den Vernehmungen bei der Kripo und der Polizei von Folio und bedauerte, dass sie keine hilfreichen Auskünfte hatte geben können. Sie blickte ihn nachdenklich an. «Nachdem die Polizei hier gewesen war, ist mir dann doch noch etwas eingefallen», sagte sie. «Aber ich hielt es für ziemlich unwichtig, deshalb habe ich mich nicht mehr gemeldet.»
Cato Isaksen musterte sie neugierig. Sie zögerte für einen Moment, dann fügte sie hinzu: «Wir haben ja auch Gesprächsrunden mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden. Stunden, in denen wir über alles Mögliche diskutieren. Viele gehen ja derzeit zur Jugendweihe, und um nicht noch mehr Jugendliche zu verlieren, haben wir den Unterricht ein wenig umgestellt. Wir reden nicht nur über Gott und Jesus, so wie früher. Und einmal kam die ablehnende Haltung zur Sprache, die die Kirche der Homosexualität gegenüber einnimmt. Die Stimmung war ziemlich gereizt, wenn ich das so sagen darf. Wir haben ja die Schrift, an die wir uns halten müssen, aber die jungen Leute von heute sehen das alles viel freimütiger, und unsere alte Kirche kann damit nicht Schritt halten. Kathrine hat sich an dieser Diskussion sehr eifrig beteiligt. Vor allem, als über Abweichungen im Allgemeinen gesprochen wurde.»
«Ach was.» Cato Isaksen musterte sie gespannt. Einige Sonnenstrahlen trafen eine Glasmalerei, die das Licht durch ihre blauen und roten Glasscheiben filterte, ehe sie es wie eine Säule in den Mittelgang legte.
«Es wurde also über Menschen geredet, die auf irgendeine Weise anders sind», sagte die Pastorin. «Kathrine hat dabei mehr als nur angedeutet, dass sie sich für anders hielt.»
«Auf welche Weise anders?»
«Das weiß ich nicht so recht. Wir waren alle ein wenig neugierig, aber sie spielte die Geheimnisvolle. Ich bin nicht sicher, ob das etwas mit Homosexualität zu tun hatte. Kathrine kam mir ziemlich frühreif vor, wenn ich das so sagen darf.»
Cato Isaksen nickte. Die Pastorin war nicht die Erste, die ein solches Bild von Kathrine zeichnete.
«Ich kam also zu dem Schluss, dass sie etwas über irgendeinen erwachsenen Menschen wusste, womit sie nicht so recht fertig wurde», sagte die Pastorin und schlug die Arme übereinander. «Ich habe damals eigentlich nicht weiter darüber nachgedacht. Aber später nahm ich mir dann vor, noch einmal mit ihr zu sprechen. Ich bin ja daran gewöhnt, dass Jugendliche gern provozieren, aber auf irgendeine Weise hatte ich den Eindruck, dass Kathrine auch von etwas Traurigem belastet wurde.»
«In welcher Hinsicht?»
«Sie war so aggressiv, war eigentlich ein wenig ungenießbar, wenn ich das so sagen darf. Nicht, dass das wirklich etwas Besonderes wäre. Nein, ich weiß nicht», sagte die Pastorin. «Vielleicht irre ich mich ja auch.»
«Maiken Stenberg hat auch am Unterricht teilgenommen, nicht wahr?» Cato Isaksen verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere.
Die Pastorin nickte. «Ja, aber sie ist ein ganz anderer Mensch», sagte sie.
«Aber die beiden waren doch eng befreundet.»
«Das schon. Aber Maiken ist reflektiert und ausgeglichen. Ein reizendes Mädchen, das alle mögen, glaube ich.»
«Gab es viele, die Kathrine nicht leiden mochten?»
«Nein. Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Aber sie konnte ziemlich herausfordernd sein, und ich habe mich wirklich einige Male gefragt, warum sie überhaupt konfirmiert werden wollte. Einmal sagte sie, es gehe ihr allein ums Geld.»
Cato Isaksen gefiel es, wie die Pastorin sich ausdrückte. Hier stand sie vor ihm und war eine ganz normale Frau. Intuitiv wusste er, dass er mit ihr wohl reden könnte.
«Auf irgendeine Weise kam dann die Sache mit der Kleidung zur Sprache», sagte die Pastorin jetzt. «Sie wissen ja, die Mädchen heute, die ziehen sich an wie Popstars, mit nacktem Bauch und überhaupt. Kathrine war auch bei diesem Thema sehr eifrig dabei. Sie redete sich richtig in Rage, sagte, sie wolle sich auch in Zukunft so anziehen, wie ihr das passte. Eigentlich hat sie sich immer recht erwachsen ausgedrückt.»
«Was hat sie gesagt?»
«Wortwörtlich weiß ich das nicht mehr. Aber es ging darum, dass junge Mädchen das Recht haben müssen, sich herausfordernd zu kleiden — damit sie gesehen werden.»
«Von wem gesehen?»
«Von Männern. So jedenfalls habe ich das gedeutet. Sie sagte, dass es jungen Mädchen gut täte, wenn sie angesehen werden, damit sie danach ihre eigenen Grenzen ziehen können.»
Die Pastorin lächelte ihn an und schaute auf die Uhr. «Tut mir Leid», sagte sie. «Aber ich muss los.»
Cato Isaksen bedankte sich für das Gespräch und sagte ihr noch kurz, wie schön die Kirche sei, dann ging er durch den Mittelgang, öffnete die schwere Tür und stand wieder draußen. Die Wärme schlug ihm entgegen, die Nachmittagssonne hing gelb über den Häusern. Er ging zu seinem Wagen zurück und setzte sich hinters Steuer. Dort blieb er eine Weile sitzen, um sich die Worte der Pastorin noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, dann drehte er den Zündschlüssel um und fuhr zurück zum Tunnel und nach Asker.
Cato Isaksen musterte die fremden Menschen vor der Kapelle. Er kannte sie nicht, hielt sie aber für alte Bekannte seiner Mutter. Er kniff im Sonnenlicht die Augen zusammen. Bei seinem letzten Gespräch mit Helena Bjerke hatte sie gefragt, ob er es für angebracht hielte, für Kathrine eine Gedenkfeier zu veranstalten. Ob die Kirche oder vielleicht irgendwer sonst ihr dabei helfen könnte. Cato Isaksen hatte nicht gewusst, was er dazu sagen sollte. Er konnte ihr nicht raten, weiter zu warten. Er glaubte ja auch nicht mehr, dass Kathrine Bjerke wieder auftauchen würde. Daran dachte er, als er die dunkle Kapelle betrat und den mit hellgelben Blumen bedeckten Sarg der Mutter sah.
Er fühlte sich leer und verlassen. Er war erschöpft. Es war eine Erleichterung, dass bald alles vorübersein würde. Gard und Vetle sahen in ihren dunklen Anzügen sehr gut aus. Georg trug einen Matrosenanzug, sein Schwesterchen ein rosa Kleid. Cato Isaksen begrüßte Sigrid und Hamza kurz, dann setzten die beiden sich mit ihrem Töchterchen weiter nach hinten. Er selbst ging mit Georg zur vordersten Bank, wo Bente und die Jungen bereits Platz genommen hatten. Georg summte leise vor sich hin. Vetle beugte sich mahnend zu ihm vor: «Du darfst nicht singen, Oma ist tot», sagte er leise.
«Er ist so klein, das versteht er noch nicht», sagte Gard.
«Doch», sagte Georg. «Oma ist bei Gott.»
Die Trauer über den plötzlichen Tod seiner Mutter hatte seinen Appetit gedämpft. Cato Isaksen hatte an diesem Morgen nichts essen können. Jetzt hörte er, wie sein Magen knurrte. Das war ein seltsamer Gedanke. Hier ermittelte er in einem tragischen Fall, bei dem ein junges Mädchen verschwunden und eine alte Frau ermordet worden waren.
Trotzdem waren es das Verschwinden des Katers und der Tod der Mutter, die ihm Schlaf und Appetit raubten. Eigentlich Bagatellen im Vergleich zu dem, was viele andere durchmachen mussten. Sie hatten am Vorabend darüber gesprochen, er und Bente. Wie natürlich der Tod eigentlich war, aber wie schrecklich er wirkte, wenn man selber davon betroffen war. Sie hatte etwas Kluges gesagt: «Es sind keine Bagatellen, sondern Megatellen», hatte sie gesagt. Bei dieser Erinnerung lächelte er kurz. Megatellen waren große Bagatellen. Das würde er sich merken.
Als die Trauerfeier beginnen sollte, wurde die Tür geöffnet und es kam noch jemand mit leisen Schritten herein. Cato Isaksen drehte sich um und entdeckte Ellen Grue und Roger Høibakk, die lautlos in die hinterste Bank glitten. Und dann kamen die Tränen.