22

Cato Isaksen beendete das Gespräch mit Lars Lofthus und fuhr zu Kenneth Hansen, um ihn nach dem blutigen T-Shirt zu fragen. Als er die Kellertreppe hinunterging, tauchte Roger Høibakk im Flur auf. Er war sofort hergekommen, um dem Kollegen behilflich zu sein, als er von dem Fund gehört hatte. Roger nickte Mai Britt Hansen, die sich schrecklich über den Besuch der Polizei aufregte, kurz zu. «Was ist denn jetzt schon wieder los?», fragte sie besorgt. Roger Høibakk drosch ein paar Phrasen, streifte die Schuhe ab und lief hinter dem Kollegen die Treppe hinunter.

Kenneth Hansen hatte seit ihrem letzten Besuch nicht aufgeräumt. Möglicherweise standen nicht dieselben Teller auf dem Tisch, aber ansonsten sah alles unverändert aus.

«Er wäre sicher nicht damit einverstanden, dass Sie sich da unten alleine umschauen», rief die Mutter ihnen besorgt hinterher. «Können Sie nicht warten, bis er aus der Schule kommt? Er muss jeden Moment hier sein. Vielleicht schaut er unterwegs im City Drøbak vorbei. Das macht er freitags gern.»

Mai Britt Hansen war ihnen in den Keller gefolgt.

Cato Isaksen drehte sich zu ihr um. «Haben Sie Angst vor ihm?», fragte er.

«Angst vor Kenneth, meinen Sie? Nein», sagte sie rasch.

«Haben Sie etwas dagegen, dass wir uns kurz umschauen?»

Mai Britt Hansen machte einen unsicheren Eindruck. Sie ballte eine Faust. «Das nicht», sagte sie ziemlich kleinlaut.

«Das ist kein offizieller Besuch, wenn ich das so sagen darf. Wir möchten uns nur kurz umschauen.»

«Suchen Sie etwas Bestimmtes?»

«Nein», sagte Cato Isaksen. Er hatte das mit dem blutigen T-Shirt noch nicht erwähnt. Er dachte daran, was Helena Bjerke erzählt hatte, nämlich, dass Kenneth in Kathrines Zimmer gewesen war. Hatte er dort etwas gesucht, und wenn ja, hatte er es gefunden?

Roger Høibakk hatte einen kleinen Schrank geöffnet. «Ja, ja, machen Sie nur, was Sie wollen», sagte Mai Britt Hansen und ging leise wieder nach oben.

Sie fanden nichts, was interessant gewesen wäre. Kenneth war noch nicht zu Hause, als sie die Kellertreppe hochgingen. Mai Britt Hansen saß wie immer am Küchentisch.

«Können wir auch das übrige Haus sehen?», fragte Roger Høibakk und fuhr sich durch die Haare. «Wir machen das bei allen, die Kathrine auf irgendeine Weise kennen», fügte er hinzu. Dass das nicht stimmte, spielte jetzt keine Rolle. Cato Isaksen schaute den Kollegen dankbar an.

Mai Britt Hansen ließ die Schulter sinken. «Von mir aus», sagte sie verstimmt.

Die Ermittler nahmen sich ein Zimmer nach dem anderen vor. Keins war aufgeräumt. Uberall lagen schmutzige Kleidungsstücke und Zeitschriften herum. Hinter der Küche gab es ein kleines Zimmer, einen Verschlag fast, der kein Fenster hatte. «Was ist das denn hier?» Cato Isaksen öffnete die Tür und drückte auf den Lichtschalter.

«Andres Computerzimmer», sagte die Mutter mit monotoner Stimme. «Er sitzt nur vorm Computer, wenn er nicht in der Schule oder beim Job ist. Und er will nicht, dass andere hier herumwühlen.»

Im Gegensatz zu den anderen Zimmern im Haus war diese Kammer sehr sorgfältig aufgeräumt.

«Hat André viele Freunde?»

«Ich weiß nicht so recht. Ich kenne kaum welche. Er hat Netfreunde.»

«Ach was.» Plötzlich fiel Cato Isaksen ein, was Nils Bergman gesagt hatte.

«Das kommt wohl jetzt häufig vor», sagte Mai Britt Hansen jetzt. «Freundschaften per Internet zu pflegen.» Müde fuhr sie sich durch das Gesicht.

Cato Isaksen und Roger Høibakk wechselten einen Blick. Cato Isaksen betrat die Kammer, in der peinliche Ordnung herrschte. Auf dem Schreibtisch lagen mehrere Stapel seltsamer Karten. Er hob eine hoch und sah sie sich an. Magic the gathering, stand auf der Rückseite. Die Karte war lila und schwarz und wies beängstigende Bilder von übernatürlichen Wesen und grünen Drachen auf. An der Wand über dem Computertisch hing ein Plakat mit einem fünfzackigen Stern. Pentagram stand in schwarzen Buchstaben auf weißem Grund. Neben der Tastatur lag ein aufgeschlagenes Buch. Cato Isaksen hob es hoch. Die Magier des Mittelalters stand in Schnörkelschrift auf dem Einband.

Mai Britt Hansen sah ihm von der Tür aus zu. Cato Isaksen legte das Buch wieder hin und lächelte ihr kurz zu. Löschte das Licht und verließ die Kammer.

«Wo ist Andre?», fragte er.

Mai Britt Hansens Mund zuckte nervös.

«Was wollen Sie von ihm?»

«Nichts», sagte Cato Isaksen.

«Er ist unten im Seven-Eleven-Kiosk neben der Tankstelle. Da arbeitet er.»

«An der Ausfahrtstraße?»

«Ja. Aber ich weiß nicht, ob Sie ihn stören sollten.»

«Das haben wir gar nicht vor», sagte Cato Isaksen.

«Ihr dritter Sohn», begann Roger Høibakk.

«Der ist beim Militär», sagte Mai Britt Hansen rasch. «Wach- und Sicherheitsdienst, beim Fliegerhorst Rygge. Er ist wirklich ein tüchtiger Junge», fügte sie unsicher hinzu.

Cato Isaksen musterte sie einen Moment und ging dann ins Wohnzimmer. Er schaute sich dort um. Das Haus war hoch gelegen und schaute auf einen großen Sportplatz. Das abgenutzte braune Ledersofa thronte vor der einen Wand. Darüber hing ein vergrößertes Kinderbild der drei Jungen. Alle hatten gestreifte Pullover und etwas zu lange Haare. Der mittlere, der Computerfreak, hatte einen roten Ausschlag um den Mund.

«Wie alt waren sie da?» Cato Isaksen lächelte entwaffnend.

«Ich weiß nicht mehr genau, fünf, sechs und neun vielleicht, so ungefähr», sagte Mai Britt Hansen.

Plötzlich stand Kenneth Hansen in der Tür. Er war ganz leise hereingekommen. Es war deutlich, dass er sich über den Anblick der Ermittler nicht freute.

Cato Isaksen vergeudete keine Zeit. Er erzählte kurz von dem T-Shirt, das sie in Maiken Stenbergs Gartenhaus hinter einer Kommode gefunden hatten.

Kenneth Hansen musterte ihn misstrauisch. «Na und?», fragte er.

Seine Mutter schaltete sich ein. «Ein T-Shirt? Was soll das bedeuten?»

«Darauf steht <Magic»>, sagte Cato Isaksen. «Gehört das dir?»

Kenneth Hansen schüttelte den Kopf. Seine Mutter war blass geworden.

«Maiken sagt, es sei deins.»

«Na und? Eigentlich hat André solche fetzigen Teile.»

«Hast du dieses T-Shirt vielleicht mal angehabt?»

«Das kann schon sein», sagte Kenneth Hansen jetzt eher kleinlaut. «Aber was soll das, was ist denn so wichtig an diesem Hemd?»

«Es ist total voll Blut», sagte Roger Høibakk kurz.

Mai Britt Hansen hatte sich auf einen Stuhl setzen müssen. Jetzt schlug sie die Hand vor den Mund und starrte die Tischplatte an. «Das war nicht Kenneth», murmelte sie. «Er hat nichts damit zu tun. Er hat doch sogar Kathrines Mutter besucht.»

Das war die Gelegenheit, auf die Cato Isaksen schon gewartet hatte.

«Kathrines Mutter hat erzählt, dass du bei deinem letzten Besuch in Kathrines Zimmer herumgeschnüffelt hast», sagte er. «Hast du da etwas Besonderes gesucht?»

«Herumgeschnüffelt?» Kenneth lief flammendrot an. Er wurde lauter. «Verdammt, das hab ich nicht.»

«Was hast du dort gemacht?»

Kenneth Hansen schwieg.

«Was hast du dort gemacht?», fragte Cato Isaksen noch einmal.

«Ich werd mir ja wohl noch das Zimmer von einer Verschwundenen ansehen dürfen.» Kenneth Hansen musterte ihn beleidigt.

«Sie waren doch zusammen», sagte Mai Britt Hansen kläglich.

Diese Unterstützung durch seine Mutter gab ihm seinen Kampfeswillen zurück. «Vielleicht finde ich es ja traurig, dass Kathrine verschwunden ist. Sind Sie noch nie auf die Idee gekommen?», fragte er mit harter Stimme. «Und meinen Sie vielleicht, dass ich lüge?»

Die Ermittler gaben keine Antwort.

Kenneth Hansen registrierte ihre Ablehnung und reagierte mit einem Wutausbruch. Er riss die Jacke an sich, die er über einen Stuhl geworfen hatte, und stürzte aus dem Zimmer. Sie hörten, wie die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel.

Cato Isaksen schaute zu Mai Britt Hansen hinüber. Sie sah elend aus. «Das halte ich bald nicht mehr aus», jammerte sie. «Was glauben Sie denn, was Kenneth angestellt hat?»

Cato Isaksen und Roger Høibakk fuhren in getrennten Wagen ins Zentrum. Sie hielten vor dem Seven-Eleven-Kiosk. Cato Isaksen fand einen freien Platz zum Parken, stellte den Zivilwagen ab und zog die Handbremse an. Roger Høibakk hielt hinter ihm. Sie gingen in den Laden und nahmen zwei Cola aus dem Kühlschrank. An diesem Freitagnachmittag herrschte ziemlicher Betrieb. Auf dem Weg zur Kasse nahm Cato Isaksen noch zwei Schokoriegel mit. Die Ermittler schauten sich um. Hinter der Kasse stand eine Frau mittleren Alters, die einen roten Pullover trug. Als Cato Isaksen gerade bezahlen wollte, kam ein Junge mit langen, schwarzgefärbten Haaren aus dem Hinterzimmer. Er trug unter einer leichten Jacke einen dunklen Rollkragenpullover. Cato Isaksen fielen seine weiße Haut und die blauen Augen auf, die ihm für einen Moment ins Gesicht schauten, dann machte der Junge kehrt und verschwand wieder im Hinterzimmer.

Cato Isaksen bezahlte und erkundigte sich nach André Hansen. Die Frau im roten Pullover rief diesen Namen und der schwarzhaarige, schmächtige, fast feminin wirkende Junge kam wieder zum Vorschein. Er hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit seinem jüngeren Bruder.

Cato Isaksen stellte sich diskret vor und fragte, ob der andere am folgenden Tag in Oslo auf der Wache vorbeischauen könne. André Hansen blickte ihn überrascht an. Dann zuckte er vage mit den Schultern und sagte, das sei sicher kein Problem. «Aber eigentlich muss ich dann arbeiten», fügte er hinzu.     

«Wann musst du anfangen?»

«Um drei.»

«Dann sagen wir um elf, in Oslo, im Polizeigebäude, geht das?»

André Hansen nickte kurz.