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Cato Isaksen stand an der Bushaltestelle, an der Kathrine Bjerke einige Wochen zuvor zuletzt gesehen worden war. Er versuchte, sich in den Februar zurückzuversetzen, in Kälte und Dunkelheit, Schneematsch am Straßenrand, beißenden Wind. Jetzt war es hell, der Himmel war tiefblau. Die Straße war grau vor Staub und Schmutz und allerlei Abfall, der sich mit dem Frühling eingestellt hatte. Es war Dienstag, der 20. März, die Zeit der Tag- und Nacht-Gleiche. Noch zweieinhalb Wochen bis zu den Osterferien, und fast auf den Tag genau vier Wochen nach dem Verschwinden von Kathrine. Plötzlich kam ihm eine ganz klare Kindheitserinnerung. Er wusste, dass es mit dem eiligen Besuch im Frognerheim zu tun hatte. Das Gefühl von Verlust, das Gefühl, nie genug zu tun. Er glaubte, dieses Gefühl schon immer gehabt zu haben. Plötzlich war die Erinnerung glasklar. Er war vielleicht drei oder vier Jahre alt. Es war Herbst, er erinnerte sich an die reine und unangenehm klare Luft. An den Schal, der ihm vor den Mund geweht wurde. An den Himmel, der so blau war, dass es hässlich aussah. Er wollte nicht im Kindergarten sein. Er verabscheute den hohen Zaun. Seine Mutter war die Einzige, die ihn vor dieser schrecklichen Einsamkeit retten konnte. Die anderen Kinder waren öde Berggipfel, fremde Steine, verkleidete Hexen. Aber seine Mutter rettete ihn nicht, so sehr er auch weinte. Sie hörte ihn nicht hinter dem Schal, der nach trockener Wolle roch und seinen Mund zerkratzte. Ihr Rücken unter dem Mantel verschwand unten auf der Straße und war ebenso hässlich wie der Himmel. Er rief nach ihr, aber sie hörte ihn nicht. Später an diesem Tag kam Nebel auf, der sich wie Watte um den Baum im Kindergarten legte. Er hatte seiner Mutter nie von dieser Episode erzählt. Jetzt hatte er dasselbe Gefühl wie damals. Etwas sagte ihm, dass Kathrine Bjerke entsetzlich einsam gewesen sein musste.     

 

Eine junge Mutter mit einem Kinderwagen stand an der Bushaltestelle. Cato Isaksen überquerte die Straße. Es herrschte ziemlich reger Verkehr. Er hatte den Zivilwagen auf der anderen Seite geparkt, halbwegs im Straßengraben. Auf dem Rückweg zum Wagen beschloss er, das kurze Stück zur Mautbude zu Fuß zu gehen. «Für Fußgänger verboten», stand auf einem gelben Schild. Er ging trotzdem weiter, überquerte den Asphalt mit den weißen Bremsstreifen und steuerte die kleinen Glashäuschen an, in denen die Mautwächter saßen und das Geld entgegennahmen. Er hatte den nächststehenden fast erreicht, als er die Frau im hintersten Häuschen erkannte. Er blieb stehen und ließ zwei Autos vorüberfahren.

Die Frau hatte ihm den Rücken zugewandt, aber er wusste trotzdem, dass er sie schon einmal gesehen hatte. Sein Gehirn mühte sich ab, um sie zu identifizieren. Die Frau hatte sich halb zu einem Autofahrer umgedreht, um ihm Wechselgeld zu geben. Jetzt konnte er ihr ganzes Gesicht sehen. Es war Mai Britt Hansen, die Mutter von Kathrine Bjerkes Freund. Hier arbeitete sie also, wenn sie von ihren Dienstzeiten sprach. Warum hatte sie das nicht erwähnt?

Cato Isaksen betrachtete den Staub, der vom schmutzigen Asphalt hochgewirbelt wurde, als ein LKW vorüberfuhr. Der Motor brummte wütend, dann verschwand der Wagen im dunklen Tunneleingang.

Cato Isaksen ging hinüber und klopfte an die Fensterscheibe. Mai Britt Hansen fuhr zu ihm herum. Er sah, dass sie ihn erkannt hatte. Sie musterte ihn einige Sekunden lang besorgt, dann öffnete sie das Fensterchen und begrüßte ihn kurz. Ein weiterer LKW donnerte vorbei und hüllte sie in Wolken von Auspuffgasen.

«Was ist los?», fragte sie und sah plötzlich verängstigt aus. «Ist etwas passiert?»

Cato Isaksen schüttelte den Kopf. «Ich wollte mich hier nur mal umsehen», erklärte er. «Warum haben Sie nicht gesagt, dass Sie hier arbeiten?»

«Sie haben nicht danach gefragt», sagte sie eilig.

Cato Isaksen schob beide Hände in die Taschen. Ihm fiel auf, wie schmutzig die Fenster des Glashäuschens waren. 

«Hatten Sie Dienst in der Nacht, in der Kathrine verschwunden ist?»

«Ja», sagte sie rasch. «Ich habe um zwölf Schluss gemacht.»

«Um Mitternacht also?»

Sie nickte.

Cato Isaksen fiel die Autofahrerin ein, die Kathrine gegen zehn nach zwölf an der Bushaltestelle gesehen hatte. Er beschloss, noch einmal mit dieser Zeugin zu sprechen. Vielleicht war irgendetwas übersehen worden.

Ein Wagen fuhr neben ihm vor. Er trat vom Fenster zurück. Die junge Fahrerin hielt einen Fünfziger aus dem Fenster. Mai Britt Hansen nahm die Banknote mit geübtem Griff, riss ein Ticket ab, drückte auf den Knopf, der die Schranke öffnete und wünschte routinemäßig gute Fahrt. Cato Isaksen schaute hinter dem Wagen her, als der auf den dunklen Tunneleingang zusteuerte. Dann wandte er sich wieder Mai Britt Hansen zu.

«Haben Sie Kathrine in der fraglichen Nacht gesehen?», fragte er.

«Nein», sagte sie rasch. «Ich habe nichts gesehen. Man sieht die Bushaltestelle von hier aus nicht. Und mein Auto stand gleich hier hinter.» Sie machte eine entsprechende Kopfbewegung. «Ich habe kurz mit dem Kollegen gesprochen, der mich ablöste, dann bin ich gegangen, das war alles.»

«Wissen Sie noch, wer das war?»

«Das war Nils», sagte sie rasch. «Nils Bergman, er studiert und jobt nebenbei. Lernt tagsüber und arbeitet nachts, oder umgekehrt, je nach Dienstplan.»

«Sie sind also um Mitternacht gegangen», sagte Cato Isaksen und wurde von einem weiteren Auto unterbrochen, für das bezahlt werden musste. Er notierte den Namen des Kollegen und beschloss, mit dem Wagen durch den Oslofjordtunnel zu fahren. Es ging darum, Kathrines Spuren zu folgen. Das hätte er schon längst tun sollen, auch wenn sie gar nicht wussten, ob sie durch den Tunnel verschwunden war. Er bedankte sich bei Mai Britt Hansen für die Auskünfte und sagte, er werde sich wieder melden. Dann holte er den Wagen und fuhr vorbei an Kenneth Hansens Mutter, die ihn gratis den Tunnel passieren ließ.

Als er sich der Tunnelöffnung näherte, wurde er für einen Moment von der Sonne geblendet. So unbehaglich er sich fühlte, als er danach in den Tunnel fuhr, so überrascht war er darüber, wie hell und schön die Tunnelwände waren. Er hatte von dem künstlichen rosa und blauen Licht gelesen, das die fast weißen Felswände prägte. Ein Psychologe hatte gesagt, Menschen mit Tunnelangst könnten einen hellen Tunnel leichter bewältigen. Das konnte durchaus stimmen. Die Straße führte ziemlich steil nach unten. Das künstliche Licht wirkte beruhigend. In regelmäßigen Abständen gab es Ausweichstellen, von denen Eisentüren in den Berg führten.

Cato Isaksen überlegte sich, was in der Nacht, in der Kathrine verschwunden war, geschehen sein konnte. War sie zu Bekannten ins Auto gestiegen, oder hatte ein Fremder sie mitgenommen? War sie überhaupt durch den Tunnel gefahren, oder war sie in den Ort zurückgegangen? War sie durch den Wald gehumpelt oder war sie dem Weg gefolgt? Er fasste das Steuerrad fester. Bald sah er das Licht am Ende des Tunnels.

Im ersten Verteilerkreis auf dem Hurumufer kehrte er um und fuhr wieder zurück. Er ertappte sich bei dem Gedanken, was sich wohl hinter den Eisentüren verstecken mochte.

Als er wieder das Drøbakufer erreicht hatte, blieb er am Straßenrand stehen und rief die Auskunft an, um sich Telefonnummer und Adresse von Nils Bergman geben zu lassen. Er erhielt eine Handynummer, doch das Telefon war ausgeschaltet. Deshalb beschloss er, den Studenten aufzusuchen. Er ließ den Motor wieder an und rief auf der Wache an, während er nach Drøbak fuhr. Er musste mit Roger sprechen und ihm von seiner Begegnung mit Mai Britt Hansen erzählen.

Als das Gespräch beendet war, hatte er das Meer bereits erreicht. Aus einem Impuls heraus hielt er an und drehte eine Runde durch den Yachthafen, ehe er Bergman aufsuchte.

Er fand Tage Wolters Boot, das zwischen zwei weniger ansehnlichen Booten vor sich hin dümpelte. Cato Isaksen erkannte es am Namen. «Amora» stand in schwarzen Buchstaben an der Seite. Er drehte sich um und schaute das Standbild der drei Meerfrauen an, das am Ufer stand, dann sprang er an Bord. Das Boot war zwar nicht neu, aber sehr gut in Schuss. Er bückte sich und schaute sich um. Im Boot war alles ordentlich und sauber. Nach fünf Minuten sprang er wieder an Land.

Auf einer Bank am Steg saß eine alte Frau. Cato Isaksen ging zu ihr hin. Sie trank aus einer Bierdose.

«Sitzen Sie oft hier?», fragte er. Die alte Frau schaute ihn misstrauisch an und sah zuerst verängstigt, dann wütend aus.

«Ist das verboten», fragte sie mit scharfer Stimme.

«Absolut nicht», Cato Isaksen lächelte entwaffnend. «Ich wüsste nur gern, ob Sie manchmal hier Leute bei den Booten sehen, auch wenn die Saison noch nicht angefangen hat.»

«Hier ist das ganze Jahr Sessong.»

«Das Boot da hinten, die Amora», Cato Isaksen zeigte auf Tage Wolters Boot. «Haben Sie da in letzter Zeit jemanden gesehen?»

«Männer sind Untiere», sagte die Frau und nickte zu einem anderen Boot weiter weg hinüber, wo ein älterer Mann mit irgendetwas beschäftigt war. Plötzlich sah Cato Isaksen, dass der Mann eine Schnapsflasche in der Hand hielt. «Der hat mich eine alte Schabracke genannt.»

«Ach», sagte Cato Isaksen und drehte sich um.

«Die nehmen Frauen mit auf die Boote. Das hab ich gesehen.»

«Der auch?» Cato Isaksen nickte zu dem Mann mit der Schnapsflasche hinüber.

Das alte Gesicht der Frau öffnete sich zu einem breiten Lächeln. «Ach nein», sie lachte heiser. «Der alte Knacker schafft gar nichts mehr.»

«Wissen Sie, wem die Amora gehört, haben Sie den Besitzer hier schon mal unten gesehen?»

Die Frau musterte ihn misstrauisch. «Nein», sagte sie kurz und hob die Bierdose an den Mund.

Nils Bergman wohnte in der Torggata in Drøbak. Dort betrat Cato Isaksen einen Hinterhof, zwischen einem Second-Hand-Laden für Kinderkleidung und einer Buchhandlung. Im Hinterhof stand ein großer blattloser Baum, auf dem ein paar Vögel saßen. Sie machten einen Höllenlärm, man hätte meinen können, dass sie vor der Polizei warnen wollten.

Er musste eine Stahltreppe außen am Holzhaus hochsteigen, die einen trockenen, hohlen Metallklang abgab. Er erreichte eine alte, abgenutzte Holztür, auf der ein halb abgerissenes Plakat klebte. Neben der Tür waren mit schwarzem Filzstift unleserliche Kringel angebracht.

Es gab keine Klingel, weshalb Cato Isaksen zweimal klopfte. Niemand machte auf. Er wartete fünf Minuten, dann gab er auf, ging zurück zum Auto und fuhr zum Einkaufszentrum hoch, in dem Tage Wolter arbeitete. Er wollte dem Stiefvater ein paar Fragen stellen und den Schlachter in seiner Arbeitsumgebung sehen. Er bog auf den Parkplatz ab und hielt an.