46

Die Stille im Wald wurde nur durch das leise Stimmengewirr der dunkel gekleideten Jugendlichen durchbrochen. Im späten Sommerlicht betrachteten die beiden Ermittler das Spiel, das jetzt auf der kleinen Lichtung vor sich ging.

Sie hockten hinter einigen Kiefernsträuchern, gleich neben einem kleinen Moor, das einen fauligen Geruch verströmte. Der Duft von grober Tanne und Harz schwebte zu ihnen herüber.

«Es wird jetzt schnell dunkel», flüsterte Roger Høibakk und zog ein Bein an. Irgendein kleines Tier raschelte in den trockenen Blättern auf dem Waldboden.

Plötzlich fing ein Spieler an, mit lauter, scharfer Stimme zu sprechen. Zwischen einigen großen Steinen brannte ein Feuer.

Die Schauspieler liefen hin und her. Alle wussten, was sie zu tun hatten. Ihre seltsam altmodisch klingenden Repliken wurden präzise vorgetragen.

«Was für ein Quatsch!», flüsterte Roger Høibakk.

Eine helle Mädchenstimme meldete sich zu Wort. Cato Isaksen erkannte Solvi Steen. Als ein Vampir aufheulte, prustete Roger Høibakk los. «Was für ein Blödsinn», meinte er noch einmal.

Im Schutze der Dunkelheit konnten sich die Ermittler näher an die Jugendlichen heranschleichen. Plötzlich stieß jemand ein lautes, kaltes Lachen aus. Die Ermittler wechselten einen Blick und schüttelten den Kopf. «Das ist doch der pure Hamlet», sagte Cato Isaksen leise.  

Nach einer Stunde verließen die Spieler in kleinen Gruppen die Lichtung. Die Ermittler folgten ihnen vorsichtig. Cato Isaksen fielen zwei Personen auf, die sich langsam in eine andere Richtung verdrückten. Im Schutz von Bäumen und Blättern hatten sie sich geduckt, um nicht entdeckt zu werden. Er glaubte, dass es sich um Solvi Steen und André Hansen handelte, auch wenn man das wegen der Verkleidung nur schwer erkennen konnte. Aber er sah nicht, dass die beiden sich setzten und einander gierig küssten. Danach liefen sie schnell zu ihrer Gruppe zurück.

André Hansen hatte seit ihrer ersten Begegnung im Wald etwas ganz Besonderes für Solvi Steen empfunden. Sie hatte eine gefährliche Ausstrahlung. Man wusste eigentlich nie so recht, was sie dachte oder fühlte. Sie hatten sofort Kontakt zueinander gefunden. Fühlten sich beim Spielen zueinander hingezogen. Er hatte sich schon lange gefragt, ob sie wohl so empfand wie er. Und jetzt war die Mittsommernacht gekommen und der Wald strahlte nicht den regenschweren Geruch von Erde und Verwesung aus.

Als er das letzte Mal nachts aus dem Wald gekommen war, hatte er sofort das Wasser in der Dusche so heiß gedreht, dass er es kaum noch ertragen konnte. Dann hatte er sich ausgiebig Körper und Haare gewaschen. Danach war ihm sein Körper wieder wie sein eigener vorgekommen und die Kälte war verschwunden gewesen.

Die Live-Gruppe unternahm jetzt auch Reisen an andere Orte, um mit anderen Gruppen zu spielen. Bei ihrer letzten Begegnung hatte es geregnet. Es war dunkel und unheimlich gewesen. Vielleicht standen sie dicht an der Grenze zu irgendetwas, hatte er nachher gedacht. Vielleicht war das hier gefährlich, vielleicht konnte man dabei den Verstand verlieren. Er hatte im Internet einige entsprechende Berichte gefunden. Es gab Fälle, wo der Gefühlshaushalt beeinträchtigt worden war. Eine krankhafte Veränderung konnte eintreten, hieß es. Menschen, die innerlich nicht stark genug waren, konnten nach solch heftigen Seancen in einer Psychose versinken. Aber er hatte keine Angst. Nach dem letzten Mal hatten ihm noch lange die Arme und Schultern wehgetan. Nils hatte gesagt, sie müssten «avancieren».

Die beiden Ermittler fanden es recht seltsam, diesem merkwürdigen Rollenspiel im Wald zu folgen. Nach zwei Stunden in ihrem Versteck zogen sie sich leise zurück. Cato Isaksen sah ein, dass André Hansen Recht gehabt hatte. Das hier war eine andere Welt. Er konnte auch verstehen, dass dieses Spiel spannend und für zarte Gemüter nicht geeignet war. Auf der Rückfahrt zur Stadt fragte Roger Høibakk, was Cato Isaksen sich eigentlich von dieser Expedition ins Live-Milieu versprochen hatte. Ob er wirklich glaubte, dass irgendeiner der Teilnehmer etwas mit dem Fall Kathrine zu tun haben könnte.

«Wir müssen herausfinden, was in dieser Szene abläuft», sagte Cato Isaksen nachdenklich. «Es gibt in der ganzen Sache so viele Überschneidungen. Und vor allem wissen wir jetzt, woher die Mordwaffe stammt.»

«Das nehmen wir an», korrigierte Roger.

«Es gibt noch soviel, was seinen Platz finden muss.» Er versuchte Roger zu erklären, dass die kleinen Puzzlestücke zusammengefügt werden mussten, wenn sie die großen finden wollten. Er versuchte ihn an die Fäden zu erinnern, die sich in allen Richtungen dahinzogen und so schwer zu erkennen waren. «Ich bin sicher, dass es ein Muster gibt, wir wissen nur noch nicht, wie es gewebt ist.»

«Keine Belehrungen bitte», sagte Roger Høibakk und sah seinen Kollegen an. «Mir kommt die ganze Kiste sowieso total irrwitzig vor.»

Cato Isaksen trat voll auf die Bremsen. Ein Reh lief vor ihnen über die Straße.

«Shit», sagte Roger und hielt sich am Armaturenbrett fest.

«Das war wirklich nur um Haaresbreite», sagte Cato Isaksen mit zitternder Stimme und fuhr langsam weiter.