Plötzlich war der wahnwitzige Gedanke da. Cato Isaksen war es schlecht und er war nervös. Natürlich hatte Tage Wolter die Schlüssel für das Einkaufszentrum. Er konnte sich jederzeit Zugang zu dem Raum hinter dem Fleischtresen verschaffen, auch nachts und sonntags, wenn das Zentrum geschlossen war. Er verfügte über das Werkzeug. Er besaß die Erfahrung. Konnte die Lösung so grotesk sein, dass Tage Wolter die Leiche zerlegt hatte? Konnte er sich nachts mit der scharfen Fleischsäge an die Arbeit gemacht haben? Hatte er die in kleine Teile zerlegte Leiche vielleicht im Kühlraum versteckt und sich der Teile nacheinander entledigt? Diese Vorstellung war so ungeheuerlich und widerwärtig, dass sie Cato Isaksen eine Gänsehaut bescherte.
Die Tür zu seinem Büro stand offen und Ingeborg Myklebust kam herein. «Wie sieht es aus», fragte sie und versuchte aufmunternd zu klingen.
Cato Isaksen erhob sich und schloss hinter ihr die Tür. «Setz dich», sagte er. Dann erzählte er ihr, worüber er gerade nachgedacht hatte. «Er könnte sie ja im Auto versteckt haben», sagte er. «Ich weiß nicht, ob die Kollegen aus Folio in den ersten Tagen Wolters Kofferraum überprüft haben. Das müssen wir feststellen. Das mit der Karte aus Arjäng kann er doch auf irgendeine Weise arrangiert haben.»
Ingeborg Myklebust betrachtete ihn mit ernster Miene. Seine Theorie raubte ihr fast den Atem, sie regte sie aber auch an. Im Fall Bjerke-Moen gab es so wenige Anhaltspunkte, dass wirklich jede Möglichkeit verfolgt werden musste.
«Was du wirklich gut machst», sagte sie und sah ihn an, «ist, wenn wir wie jetzt einen Hinweis daraufhaben, dass sie am Leben ist, ich meine, durch diese Postkarte, dann gehst du genau in die andere Richtung. Du registrierst die neue Entwicklung, weigerst dich aber, sie als gegeben hinzunehmen. Das ist gut. Du drehst jeden Stein um und gibst dich nicht mit der Gewissheit zufrieden, dass der Fall vielleicht wirklich so liegt, wie er momentan aussieht.» Sie stand auf. «Wir werden sofort tätig werden. Mit seinen Computern sind wir ja ohnehin schon beschäftigt. Ich rufe die Kollegen in Arjäng an und bitte sie, den Hof von Wolters Familie zu durchsuchen. Und wir untersuchen sein Boot vollständig. Wir starten eine neue Suchaktion im Meer. Wir schließen Fleischtresen und Küche im Einkaufszentrum und schicken sofort drei Kollegen von der Technik hin. Auch wenn das jetzt viel zu spät ist, und falls es sich wirklich so abgespielt hat.» Sie schaute auf die Uhr. «Wir müssen sie überraschen. Wann machen die heute Feierabend?»
«Um neun.»
«Dann sind wir um zehn vor neun zur Stelle und arbeiten die Nacht durch», sagte sie.
Und damit war das Ermittlungsteam wieder am Ball. Erfüllt von neuem Optimismus und voller Tatendrang arbeiteten sie von morgens bis abends.
Durch diese Arbeitsbelastung verspürte Cato Isaksen immer häufiger den Wunsch, sich mittags hinzulegen, wenn er zu Hause war. Er ertappte sich oft dabei, dass er den Tod seiner Mutter vergaß. Aber wenn er so vor sich hindöste, dann konnte plötzlich ihr Bild vor seinem inneren Auge auftauchen. Er dachte oft an seine Kindheit. Viele Erinnerungen hatte er nicht. Auf irgendeine Weise hatte er das Gefühl, diese Jahre verloren zu haben, wie einen ins Wasser geworfenen Stein.
Er fuhr hoch, als durch das offene Fenster lauter und leiser werdende Stimmen zu hören waren. Offenbar war er für einige Minuten eingenickt. Er schaute auf die Uhr. Er hatte zwanzig Minuten geschlafen. Das war gerade genug.
Durch das Schlafzimmerfenster schaute er hinab auf Vetle und auf einen Freund des Jungen. Vetle sah froh aus. Die beiden saßen am Gartentisch und unterhielten sich leise, und der grüne Rasen und die voll erblühten Fliederbüsche bildeten einen schönen Hintergrund. Die Wolken waren weitergezogen, während er geschlafen hatte. Er nahm den süßen Duft der Blumen wahr. Es ging auf Mittsommer zu. Ein vages Sommerlicht füllte den Garten. Plötzlich standen ihm die Tränen in den Augen. Er kniff sie einige Sekunden lang zu, spürte die Kälte und eine plötzliche Angst vor seinem eigenen Tod, die sich kalt und wütend in ihm ausbreitete. Die Jungen lachten jetzt laut. Vetle schlug wütend nach einer zudringlichen Wespe und redete und redete und redete.
Eine drückende Wärme hing über der Stadt. Die folgenden Tage wurden ziemlich chaotisch. Die Abteilung ermittelte gleichzeitig in mehreren Mordfällen. Die Ermittler waren in neue Arbeitsgruppen eingeteilt worden. Cato Isaksen hatte das Gefühl, in einer Art Vakuum zu leben.
Bei Drøbak waren neue Suchaktionen durchgeführt worden. In Zusammenarbeit mit der Kripo und den Kollegen aus Folio hatten sie außerdem Tage Wolters Boot untersucht. Wolter war außer sich vor Wut gewesen. Er hatte ausgesagt, im ersten Monat nach Kathrines Verschwinden mit dem Boot kein einziges Mal den Hafen verlassen zu haben. «Ich fahr doch nicht im Winter aufs Meer hinaus», sagte er.
Die technischen Untersuchungen der Computer hatten nichts erbracht. In Tage Wolters Computer hatte es keine verdächtigen Dateien oder Programme gegeben. Aber der Stiefvater konnte durchaus nach Schweden gefahren sein, um die Karte aufzugeben. Er hatte für die fraglichen Abende kein Alibi. Er war viel auf seinem Boot gewesen, behauptete er. Aber das konnte niemand bestätigen. Konnte er die Karte seinem Bruder geschickt und ihn gebeten haben, sie für ihn aufzugeben? Hatten die beiden Brüder irgendein Abkommen geschlossen? Gaben sie nur vor, sich über die Erbschaft und den Verkauf der Kätnerstelle nicht einigen zu können? Cato Isaksen hatte zwei Tage zuvor mit Tage Wolters Mutter und Bruder telefoniert. Die beiden behaupteten noch immer, rein gar nichts über Kathrines Verschwinden zu wissen. Die Techniker hatten Küche und Kühlraum im Einkaufszentrum durchsucht. Eine Boulevardzeitung hatte Wind davon bekommen und am nächsten Tag mit dicken Schlagzeilen darüber berichtet. Wieder richtete sich das allgemeine Interesse au; den Fall Bjerke-Moen.
Ingeborg Myklebust klopfte vorsichtig an seine offene Tür Cato Isaksen bat sie herein. «Darf ich mich einen Moment setzen?», fragte sie. Als sich ihre Blicke begegneten, fing Catc Isaksen an, einige Papiere auf seinem Schreibtisch zu ordnen. Er konnte ihr nicht viel Neues erzählen. Bei ihr war das anders.
«Nichts weist daraufhin, dass an Tage Wolters Arbeitsplatz ein Mensch zerlegt worden sein könnte», sagte sie. «Alle Blut-und Fleischreste stammten von Tieren.» Sie schaute ihn müde an. «Fast ist das schade, wenn ich das so sagen darf. Aber für ihn ist es natürlich eine Erleichterung.»
Cato Isaksen nickte erschöpft. Damit war auch diese Theorie ins Wasser gefallen. Und sie waren zurück auf Los gegangen. Es war wie ein Spiel, in dem alle dauernd zurück auf Los geschickt wurden. Jetzt gab es keine klaren Anhaltspunkte mehr. Kathrine Bjerke hatte aller Wahrscheinlichkeit nach selbst die Karte aus Schweden geschickt. Hatte sie vielleicht trotz allem ihre Großmutter umgebracht? Er hatte irgendwo gelesen, dass der Grad der seichten Empfindungen bei Psychopathen und Narzissten durchaus variieren könne. Vielleicht hatte Kathrine narzisstische Tendenzen. Ihre Überlegenheit, ihre Neigung, andere zu schikanieren, ihr Kleiderfimmel, dass sie immer am fetzigsten angezogen sein musste. Die psychopathische Überlegenheit zeigt sich oft in die Freude darüber, andere auszutricksen, die narzisstische zeigt sich in Arroganz, dachte er.
Ingeborg Myklebust musterte ihn gelassen. «Woran denkst du eigentlich?», fragte sie.
Cato Isaksen sah sie an. Seine Gedanken schienen sich unter einem großen weißen Transparent zu bewegen.
«Ich weiß nicht so recht», sagte er. «Ich frage mich, wie gerissen eine Vierzehnjährige eigentlich sein kann. Ob bei Kathrine vielleicht eine Persönlichkeitsspaltung vorliegt, solche Dinge.»
«Dann brauchst du nur in irgendeinem Jugendheim vorbeizuschauen», antwortete Ingeborg Myklebust mit ernster Miene. «Wir wissen doch, dass Kinder ganz schön auf die schiefe Bahn geraten können. Ich wage zu behaupten, dass Kinder sehr viel Bosheit in sich haben können.»
Cato Isaksen blickte seine Vorgesetzte skeptisch an. Das hier war vielleicht nicht gerade das richtige Diskussionsthema. Alle wussten doch, dass Ingeborg Myklebust Kinder nicht gerade liebte.
«Ich denke an André Hansens Live-Gruppe», sagte er deshalb. «Die amüsieren sich nicht mit Teufelsanbetung. Aber irgendwas an diesem Drang, sich zu verkleiden, fällt mir auf. Etwas an der Art, wie sie reden, als fühlten sie sich riesengroß, wenn ich das so sagen kann.»
«Bist du sicher, dass sie sich nicht mit Teufelsverehrung amüsieren?»
«Ich weiß es nicht.» Vor ihm auf dem Tisch lag die kleine Spiegelscherbe, die er in Brenda Moens Diele gefunden hatte. Er hob sie hoch. Er wusste, dass er etwas übersehen hatte. Irgendwer manipulierte sie. Er wusste nicht, wer das war, aber es musste sich um eine oder mehrere der beteiligten Personen handeln. Um Personen, die ihre Moral drehen und wenden konnten, ohne krank zu sein. Solche Menschen waren schwer zu durchschauen, da sich die Bezeichnung Psychopathie auf alle Arten von Persönlichkeitsabweichung und auf jeden Mangel an Sympathie und tiefen Gefühlen anwenden lässt. Solche Abweichungen waren den Leuten eben nicht anzusehen.
Ingeborg Myklebust erhob sich und verließ das Büro. Ellen Grue kam herein. Sie setzte sich auf den Stuhl, den die Abteilungsleiterin eben verlassen hatte. Sie warf eine Zeitung auf seinen Schreibtisch. Die angehende Kronprinzessin bedeckte die ganze erste Seite. Die Zeitungen wimmelten derzeit von Artikeln über die Verlobte des Kronprinzen und ihre bunte Vergangenheit voller Drogen und wilder Feste. Aber Meinungsumfragen ergaben, dass sie trotzdem nicht rundherum abgelehnt wurde. Auch im Ermittlungsteam wurde während der Arbeit darüber gesprochen. Es gab zwei Fraktionen: eine war für Mette-Marit, die andere gegen sie. Cato Isaksen hielt sich aus der Sache heraus. Er brachte einfach kein Engagement für diese Fragen auf. Die Erfahrungen mit dem Drogenkonsum seines ältesten Sohnes hatten ihm jedoch klargemacht, dass alle einen Fehler machen können und danach eine Chance verdient haben.
«Hast du das mit deiner Mutter jetzt überwunden?», fragte Ellen Grue.
«Das Schlimmste muss es sein, ein Kind zu verlieren», sagte Cato Isaksen.
«Meinst du?» Ellen Grue schaute ihn aus dunklen, unergründlichen Augen an.
«Natürlich.»
«Ich weiß nicht so recht. Ich glaube es eigentlich nicht, nicht, wenn man zu zweit ist. Einen Freund oder Ehemann zu verlieren, muss schlimmer sein. Ein Paar, das ein Kind verliert, kann doch gemeinsam trauern.»
Cato Isaksen sah sie an.
«Ich weiß nicht», sagte er und wühlte in seinen Papieren, verteilte die Vernehmungsprotokolle auf zwei Stapel. «Ich finde nur, dass es jetzt reicht», sagte er mit harter Stimme. Er hatte es als ziemliche Niederlage aufgefasst, dass sie Tage Wolter so gar nichts hatten nachweisen können.
Ellen Grue lachte.
«Soll das heißen, es quält dich, dass die Ermittlungen nicht weiterkommen?»
Cato Isaksen schaute sie traurig an. «Natürlich», sagte er.
Ihr Lachen bohrte sich durch seinen Körper, kalt und verletzend. Sie verstummte ebenso plötzlich, wie sie angefangen hatte. Sie stemmte die Ellbogen auf die Armlehnen und legte ihr Kinn in die Hände. Ihre dunklen Augen wurden ernst.
«So war das nicht gemeint», sagte sie. «Aber du musst mit diesem Selbstmitleid aufhören. Deine nummerische Intelligenz macht mich ab und zu fertig.»
«Meine was?»
«Ja, du ziehst dauernd Bilanz über dein Leben. Du rechnest aus, wieviel Kummer dir zuteil geworden ist. Wieviel Schmerz. Hör auf, dein Selbstmitleid als Krücke zu benutzen. Das steht dir nicht.» Sie erhob sich, ging ans Fenster und lehnte die Stirn ans Glas. Dann fuhr sie herum und sah ihn an. «Ich weiß, was du denkst», sagte sie. «Dass du viel abbekommen hast, dass Gard Drogen genommen hat, dass Sigrid schwanger wurde, dass du wieder zu Bente zurückgekehrt bist. Aber eigentlich ist es dir immer gut gegangen. Jedenfalls warst du nie einsam.»
Er wollte ihr antworten, wollte sagen, dass er genau das immer gewesen sei, aber etwas in ihrem Blick hielt ihn davon ab. Er wusste, dass sie alles über Einsamkeit wusste, wo sie doch nach dem Tod der Eltern für ihre beiden kleinen Brüder verantwortlich gewesen war.
Trotzdem war er zornig, weil sie ihn gedemütigt hatte. Immer wollte sie ihn belehren.
«Dieses Weibergefasel will ich mir nicht mehr anhören», sagte er.
«Mannsbilder haben Weibergefasel immer verabscheut, weil es der Wahrheit ziemlich nahe kommt, so nah nämlich, dass es unangenehm wird. Uns wird vorgeworfen, zu schwätzen und zu übertreiben. Aber du machst es doch genauso.»
«Wer wird hier eigentlich wirklich unterdrückt?», gab er zurück. «Sowie wir Männer über Gefühle reden, seid ihr zur Stelle und fahrt uns über den Mund. Du kannst meine Gefühle einfach nicht respektieren. Das ist dein Problem.»
«Mein Problem ist, dass ich dich ein wenig zu sehr mag», sagte sie.
Die Tür wurde geöffnet und ein eifriger Roger Høibakk stürzte herein.
«Wir wissen doch, dass Kenneth Hansens Bruder Stein Ove seinen Wehrdienst in Rygge ableistet», sagte er. «Vor viereinhalb Monaten sind dort mehrere Waffen verschwunden, unter anderem zwei Glocks. Ich habe mich bei der Militärpolizei von Akershus erkundigt, die diesen Waffendiebstahl untersucht. In Rygge gibt es auch eine MP-Abteilung, aber die kamen mit der Sache nicht weiter, und deshalb wurde Akershus eingeschaltet. Ein gewisser Fredrik Garnaes war mit dem Fall beschäftigt und bezeichnet den Fall jetzt als geklärt. Ein Fähnrich hat den Diebstahl zugegeben. Und er gehört zu Stein Ove Hansens Abteilung. Die beiden sind angeblich gute Freunde. Der Fähnrich behauptet, die Waffen weiterverkauft zu haben, angeblich weiß er aber nicht, an wen. Einiges deutet darauf hin und die Militärpolizei findet es auch naheliegend, dass Stein Ove Hansen sie bekommen hat.»