Dreiundzwanzig
9.05 Uhr
Ben fühlte sich wie Forrest Gump. Auf der verzweifelten Suche nach Katy war er endlose Krankenhausflure entlanggetrottet. Schließlich fand er jemanden, der sein erschöpftes Gebrabbel verstand und ihm die Tür zeigte, hinter der seine Zukunft lag.
Er schoss ins Zimmer, ohne sich darum zu kümmern, dass er total abgerissen aussah. Er kämpfte immer noch mit seinem Kater und hatte sich seit zwei Tagen weder rasiert noch geduscht. Auf seinem Kinn sprossen leuchtend rote Bartstoppeln – viel farbintensiver als sein rotblondes Haar. Sie waren das Einzige an ihm, das lebendig wirkte. Seine Haut war grau, sein Hemd und sein Jackett waren verknittert und seine Hosen ausgebeult.
Im Gegensatz dazu wirkte Matthew in seinem einreihigen dunkelblauen Anzug mit strahlend weißem Hemd und Golfclub-Krawatte scharf wie eine Rasierklinge.
Als Ben das Zimmer betrat, legte er sofort seinen Arm schützend um Katys Schultern.
Sie hatte die Sauerstoffmaske, die sich als überaus effizientes Schutzschild gegenüber der Realität erwiesen hatte, mit der sie konfrontiert war, noch immer nicht losgelassen.
»Na, schau mal einer an, was die Katze da hereingeschleppt hat«, sagte Matthew. »Wirkt und riecht, als wärst du die ganze Nacht auf Sauftour gewesen. Nun, du kannst ruhig zu deinen Kumpels zurückgehen und dich bis zur Bewusstlosigkeit volllaufen lassen – wir haben hier nämlich alles im Griff, nicht wahr, Katy?«
Katy war wie gelähmt und wusste nicht, was tun, schließlich lag sie umgeben von potentiellen Vätern in den Wehen. Sie fand, dass Ben erschöpft wirkte, und sie fragte sich, warum er überhaupt hier war.
»Wie du siehst, werde ich mich jetzt um sie kümmern, da mir klar ist, dass du dieser Aufgabe ganz offensichtlich nicht gewachsen bist. Frag mich nicht, wie wir das machen werden. Das geht nur Katy und mich etwas an, aber du musst dich nicht verantwortlich fühlen. Dir steht es frei, zu gehen und ein Leben zu führen, wie es dir gefällt«, sagte Matthew. Er sah zu Katy hinunter und massierte ihr die Schultern, ehe er sich wieder Ben zuwandte.
»Jetzt, da Katy ganz knapp vor der Geburt steht, schlage ich vor, dass du verschwindest und sie die Entbindung in Ruhe zu Ende bringen lässt«, sagte er bestimmt.
Ben rührte sich nicht von der Stelle. Bislang hatte er Matthew noch nicht einmal angesehen, sondern nur Augen für Katy gehabt. Er hatte in ihrem Gesicht nach Hinweisen gesucht, nach irgendeiner Form von Ermutigung, aber er konnte nicht entschlüsseln, was hinter ihrer Sauerstoffmaske vor sich ging. Schließlich holte er tief Luft, griff in seine Hosentasche und zog sehr bedachtsam etwas heraus.
Es war eine schwarze, ziemlich weiche Banane.
Er hielt sie Katy zögernd hin, ohne seinen Platz im Türrahmen zu verlassen.
»Die habe ich dir besorgt. Willst du sie? Im Kurs haben sie gesagt, sie könnte dir vielleicht helfen«, sagte er.
Matthew sah verwirrt auf die Banane.
Katy starrte sie an und blinzelte heftig, bevor sie schließlich die Maske von ihrem Gesicht herunterzog.
»Eine Banane«, sagte Matthew. »Eine verdammte Banane. Das meinst du doch nicht etwa im Ernst, oder? Du bringst ihr eine Banane mit? Jetzt? Sie braucht im Moment Liebe und Stabilität und Sicherheit, nicht eine verdammte Banane. Heiliger Himmel, du bist wirklich ein absoluter Schwachkopf. Eine verdammte Banane. Es ist einfach unfassbar!«
Katy öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, wurde aber von der nächsten Wehe jäh unterbrochen.
»Da siehst du, was du angerichtet hast!«, fauchte Matthew und funkelte Ben an.
»Lockerlassen Katy, ganz lockerlassen. In dem Buch steht, dass du bloß durch die Wehe hindurchatmen musst.«
»Steht das in dem Buch?«, sagte Ben und trat näher ans Bett heran. »Es interessiert sie nicht, was der Wichser da schreibt. Na komm, Katy, schrei es dir raus. Stoß einen Schrei aus.«
»Nein, Katy. Hör nicht auf ihn. Schreie sind vergeudete Energie. Atme einfach durch die Wehe hindurch. Schau, du musst diesem Diagramm hier folgen«, sagte Matthew, wobei er ihr das Buch unter die Nase hielt und hektisch auf die Seite deutete.
Katy ließ ihren bislang lautesten Schrei los.
Ben war fassungslos. Geschockt, dass Katy ein solches Getöse von sich geben konnte.
Matthew blätterte rasend schnell durch sein Buch und suchte verzweifelt nach irgendwelchen Anregungen.
Zum zweiten Mal an diesem Morgen schoss Katys Hand nach vorn und schlug ihm das Buch mit solcher Wucht aus der Hand, dass es quer durchs Zimmer flog. Mit übermenschlichem Einsatz und mitten in einer heftigen Wehe hob sie die freie Hand, die nicht verzweifelt die Sauerstoffmaske umklammerte, und nahm langsam und bedächtig die Banane aus Bens Hand.
Matthews Blicke schossen völlig entgeistert zwischen Ben und Katy hin und her.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Katy? Komm, denk noch einmal darüber nach. Du kannst dich bei ihm auf gar nichts verlassen. Morgen, wenn er seine Verantwortung begreift, ist er auf und davon – und was dann? Komm, Katy. Du musst jetzt das Richtige tun.«
Katy legte die Banane neben sich und griff nach Bens Hand.
Ben zog sie an seine Lippen, bevor er sich Matthew zuwandte.
»Verantwortung, sagst du«, begann Ben ruhig. »Da hast du recht. Sie ist überaus wichtig. Also lass uns alle einen Moment Verantwortung übernehmen, wollen wir? Wie wäre es, wenn du zu Alison, deiner Ehefrau gingst, die jetzt dann bald Zwillinge bekommt. Das wäre doch Verantwortung, oder? Denn, wenn du das Zimmer verlassen hast, um die volle Verantwortung zu übernehmen, dann werde ich das einzig Richtige tun und Katy bitten, mich zu heiraten.«
Ben sah nach unten und wandte sich an Katy.
»Du kannst mir natürlich einen Korb gehen, aber wenn du mich haben willst, finde ich, dass wir zuschlagen sollten.«
Katy nickte energisch, dann ließ sie einen weiteren gigantischen Schrei los.
»Heiraten? Aber hallo? Sie hat nicht den Hauch einer Ahnung, was sie da tut. Du kannst Katy nicht heiraten. Ich werde nicht zulassen, dass du ihren Zustand jetzt ausnutzt. «
Ben sah erschöpft aus, als er seinen nächsten Schachzug überdachte.
»Kann ich ihm die mit deiner Genehmigung den Arsch raufschieben?«, fragte Ben schließlich Katy und griff sich die Banane.
Sie ließ die Sauerstoffmaske los und nickte. Sie ließ zu, dass ein Lächeln und eine Träne sie überwältigten, bevor eine weitere Wehe ihren Körper ergriff.
»Also, ich denke, das sagt alles, oder? Du solltest jetzt besser verschwinden, wenn du nicht willst, dass ich dem Wunsch dieser Dame nachkomme«, sagte Ben, der immer noch mit der Banane herumfuchtelte.
Katy verzog ihr Gesicht vor Schmerz und packte Bens Hand mit einem schon übermenschlichen Griff.
Matthew machte keine Anstalten zu gehen.
Ben wusste, dass er schnell handeln musste.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte er zu Matthew, ehe er mit seiner freien Hand ausholte und Matthew einen knallharten Kinnhaken verpasste. Matthew taumelte zurück und fiel schwer auf den Boden: k.o.
Ben wirkte wegen seines Erfolgs überrascht, blickte dann aber nervös zu Katy hinüber. »Verzeih mir«, sagte er. »Er hat mir keine andere Wahl gelassen. Es tut dir wirklich echt weh, oder? Hier, drück mein Bein«, sagte er und quetschte sich neben ihr ins Bett.
Als Katy seinen Oberschenkel packte, lehnte sich Ben vor und drückte den Alarmknopf.
Fast im selben Moment flog die Tür auf, und Schwester Brady, Daniel und Braindead, die auf dem Korridor draußen gelauscht hatten, stolperten herein.
»Was ist passiert, was ist passiert? Ach du meine Güte, das kann ich nicht aushalten«, platzte Daniel heraus.
»Erzähl’s mir! Ist alles vorbei? Bitte sag mir, dass alles gelaufen ist.«
»Komm schon, Kumpel. Es gibt ein Ergebnis«, röhrte Braindead, als er Matthew bewusstlos auf dem Boden liegen sah und bemerkte, dass Ben seinen Arm um Katy gelegt hatte, die immer noch Wehen hatte.
»Jesses, Katy, ich habe dich gar nicht erkannt. Du siehst ja schrecklich aus«, fuhr Braindead fort.
Katy knurrte laut, worauf Braindead vor Schreck den Kopf einzog.
»He, dazu gibt es keinen Grund«, sagte er. »Du siehst nur nicht aus, wie du sonst aussiehst, das ist alles.«
»Hört mal«, sagte Ben, der benommen, aber glücklich wirkte. »Ich danke euch Jungs für alles, aber ich glaube, jetzt muss Katy die Geburt hinter sich bringen. Wenn ihr uns also entschuldigt. Ach, und könntet ihr dafür sorgen, dass er zu Alison zurückgeht«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf Matthew.
Plötzlich platzten zwei Männer mit einem fahrbaren Bett herein.
»Bringt ihn raus, bitte«, sagte Schwester Brady und deutete auf Matthew. »Und einer von Ihnen sollte besser bei ihm bleiben, bis er zu sich kommt, damit er weiß, was passiert ist«, sagte sie an Daniel und Braindead gewandt.
»Ohne mich«, erwiderte Braindead sofort. »Zeit für ein Schinkensandwich und eine kleine Unterhaltung mit ihm hier, meinem neuen Kumpel Daniel. Wir haben nämlich noch ein paar offene Rechnungen, oder? Müssen ein paar Anrufe tätigen, ihr wisst schon, was ich meine.«
»Pass auf, du gehst und besorgst uns etwas zum Essen, und ich kümmere mich um Matthew«, verkündete Daniel.
»Wozu? Du schuldest ihm nichts«, antwortete Braindead.
»Na ja, einer von uns sollte besser aufpassen, dass er es nicht noch einmal versucht. Überlasst mir das. Ich stoße dann später zu euch, versprochen.«
»Okay, wenn du meinst. Aber vergiss darüber nicht unseren Deal, ja? Ich schlage mir nicht für jeden die ganze Nacht um die Ohren, nur damit du das weißt.«
»Ich melde mich bei dir, Ehrenwort«, rief Daniel über seine Schulter hinweg, als er hinter Matthew herhastete.
»Na, ich schätze, meine Arbeit ist getan«, sagte Braindead und warf einen letzten zufriedenen Blick auf Ben, der jetzt ziemlich blass aussah, als er versuchte, Katy während der Wehe zu trösten.
»Kein Grund, sich bei mir zu bedanken, Leute. Ich bin dann weg, okay? Außer ich kann sonst noch was tun.«
Katy knurrte wieder etwas, und Braindead verschwand.