Vier
Die Taxifahrt zur Schule dauerte nicht einmal zwanzig Minuten. Matthew war von der frischen Luft und dem eigenwilligen Fahrstil des Taxifahrers leicht schwindelig. Er hatte schon lange nicht mehr so viel getrunken, weil Alison, um ihre Chancen auf eine Schwangerschaft zu steigern, sie beide praktisch auf null gesetzt hatte.
Ian hatte Matthew während der Fahrt sein gesamtes Repertoire an Songs aus den Achtzigerjahren vorgesungen, angereichert mit einer knappen Zusammenfassung, was genau er mit jedem Song in Verbindung brachte. Ein immer wiederkehrendes Thema war offensichtlich das jeweilige Mädchen, mit dem er damals gerade Sex gehabt hatte – und welche Art Sex natürlich.
»Caroline war also mein Wake me up before you go go-Mädchen, weil sie das langweiligste Vögelchen war, das du dir nur vorstellen kannst. Und jetzt zur erstaunlichen Stephanie. Ich singe dir jetzt einen Song vor, und du musst raten, was ihre Spezialität war. Bist du bereit? Los geht’s.«
Ian hob seine rechte Hand, griff nach den nicht vorhandenen Saiten seiner imaginären Gitarre und verzog sein Gesicht zu einem Grinsen, mit dem er versuchte, einen gepeinigten Rockstar nachzuahmen.
»I got my first real six
string
Bought it at the five-and-dime
Played it till my fingers bled
It was the summer of 69;«
Ian holte tief Luft und fuhr mit seiner Darbietung fort.
»Ich glaube, wir können uns alle vorstellen, worauf Stephanie und du es abgesehen hattet; es ist ein Bild, das ich lieber nicht zu lange vor meinem geistigen Auge sehen möchte, danke schön«, unterbrach ihn Matthew.
»Oh, glückliche Tage, Kumpel, glückliche Tage«, sagte Ian mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht.
Zum Glück fuhren sie in diesem Moment vor den Schultoren vor, bevor Ian mit der magisch-musikalischen Reise durch sein Sexleben weitermachen konnte.
Matthew konnte gerade noch das Schild mit dem Namen der Schule erkennen, das wie vor zwanzig Jahren unverändert am Eisengitter hing. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder hier zu sein. Er erinnerte sich plötzlich, wie er damals durch die Tore geschlappt war. Die Adidas-Tasche hatte über seiner Schulter gehangen, das schmale Ende seiner Schulkrawatte hatte oben aus seinem Hemd herausgeschaut, das breite Ende war ins Hemd gestopft, das bereits zur Hälfte aus dem Hosenbund hing, und seine Haare waren der Mode entsprechend lang gewesen. Seinen Arm hatte er – natürlich – um Katys Schulter gelegt. Er hatte, dachte er mit einem plötzlichen Stich, damals irgendwie cool ausgesehen. Und es war irgendwie unvorstellbar, dass sich dieser Teenager mit dem angeberischen breiten Gang in diesen Mann verwandelt hatte, der nun die Standard-Uniform aller Männer mittleren Alters trug: ein blau kariertes Hemd und Stoffhosen mit Aufschlag.
»Gut, schauen wir mal, was uns erwartet!«, rief Ian begeistert, als er seinen schwerfälligen, alkoholseligen Körper gegen die Tür der Aula schleuderte und damit das Poster HERZLICH WILLKOMMEN IN DER DOVE-VALLEY-SCHULE heftig zum Schaukeln brachte.
Matthew musste beim Anblick, der sich ihnen eröffnete, unwillkürlich lächeln, denn es war wirklich, als hätten sie eine Zeitreise in die Vergangenheit unternommen. Die norwegische Popgruppe A-Ha dröhnte aus der Disco am hinteren Ende des Saals, und die bunten Lichter kreisten hektisch.
Die Tanzfläche war zu dieser Zeit des Abends natürlich die alleinige Domäne der Mädchen, während sich die Jungs um die Bar drängten und nervös auf die Frauen schauten, die so gefährlich aussahen, als könnten sie den nächstbesten Mann jeden Moment auf die Tanzfläche zerren. Nur eines war auffällig anders: die Kleidung. Die Szene wurde von knappen schwarzen Kleidern, durchsichtigen Seidenstrümpfen, perfekt manikürten Händen und wunderbar gestylten Frisuren beherrscht, frisch vom Friseur. Keine Schulterpolster, keine Neonfarben, keine Netzklamotten, keine Ketten, keine Spitze, keine Lederkrawatten und keine Seidenhemden. Aber aus dem Blick der meisten Leute zu schließen, konnte das elegante Erscheinungsbild die vielen Unsicherheiten der Teenagertage nicht verbergen, die mit einem Mal wieder auferstanden waren, um die Partygäste an ihrem alten Tummelplatz heimzusuchen.
»O mein Gott, bist du das wirklich? Du siehst umwerfend aus!«, hörte Matthew plötzlich Ian ausrufen. »Noch hinreißender als zu Schulzeiten. Und übrigens, ich bin Ian, falls du zu schüchtern bist zuzugeben, dass du dich nicht mehr an meinen Namen erinnern kannst. Ian Robinson. Ich bin erst im vierten Jahr auf die Schule gekommen. Weißt du noch, dass wir Mathe zusammen hatten? Hatte damals in der Tat von den hinteren Bänken im Klassenzimmer ein Auge auf dich geworfen. Wir hatten so einen total langweiligen Lehrer, wie hieß er noch?«
»Mr. Hopkins«, antwortete die verwirrte, ziemlich pummelige Frau in einem ausgesprochen weit ausgeschnittenen Kleid leise dem schwachsinnigen Schwätzer, zu dem Ian heute Abend offensichtlich mutiert war.
»Ja, genau der! Gott, er war so langweilig, dass es mir schier die Schuhe ausgezogen hat. Trotzdem muss etwas in meine Birne reingegangen sein, sonst wäre ich heute nicht der erfolgreiche Finanzberater, der ich bin, oder? Also, darf ich dir einen Drink holen – als Dank für dein Lächeln, das meine Mathestunden erhellt hat? Sag nichts, du trinkst bestimmt Cola mit Bacardi? Mit diesem exotisch-dunklen Latino-Aussehen bist du sicherlich Rumtrinkerin. Folgen Sie mir, junge Frau!«
Ian winkte Matthew zu und verschwand im Gedränge rund um die Bar, und die pummelige Frau folgte ihm wirklich, überrascht, aber überaus erfreut.
Alleingelassen, begann Matthew sich die Gesichter in seiner Umgebung genauer anzusehen. Manche erkannte er sofort, bei anderen hatte er keinen Schimmer, um wen es sich handeln könnte. Ihm wurde bewusst, dass er mit niemandem von der Schule in Kontakt geblieben war, was vermutlich daran lag, dass Katy und er in ihren letzten Jahren buchstäblich aneinandergeklebt waren, so dass er nicht viel Zeit mit anderen verbracht hatte.
»So, so, dass du die Dreistigkeit besitzt, dich hier sehen zu lassen«, sagte plötzlich eine Stimme links hinter ihm.
Matthew drehte sich um und sah das angedeutete vertraute Grinsen von Jules Kettering. Sie war Katys beste Freundin in der Schule gewesen und hatte ihn mit tiefster Verachtung gestraft, denn sie war überzeugt, dass Matthew ihr die beste Freundin ausgespannt hatte. Er hatte immer den Verdacht gehabt, dass sie lesbisch sein könnte und Katy insgeheim für sich selbst hatte haben wollen.
»Jules, wie geht es dir? Strahlendes Lächeln, wie immer, wie ich sehe«, sagte Matthew.
»Dein Anblick ist ausreichend, um jedermanns Laune einen Dämpfer zu verpassen.«
»Ach, wie die Jahre vergehen, wenn man alte Freunde trifft«, meinte er mit einem süßen Lächeln.
»Du und ich waren nie Freunde – und schon ganz bestimmt nicht nach dem, was du Katy angetan hast«, griff Jules ihn an.
»Ach komm, das ist doch ewig her«, sagte Matthew bestürzt.
»Trotzdem war es ein Riesenschlamassel. Es wundert mich, dass sie heute überhaupt kommen wollte – auf die Gefahr hin, dich hier zu treffen.«
»Willst du damit sagen, dass sie hier ist?« Matthew schnappte nach Luft. Er merkte, wie sein Herz etwas Merkwürdiges tat. Es kam ihm vor, als würde es sich ein wenig zusammenziehen, und dann fühlte es sich an, als wolle es versuchen, durch seinen Hals nach draußen zu entkommen.
»Natürlich. Aber sie wird nicht zulassen, dass ein Schwein wie du ihr die Erinnerungen an ihre Schulzeit ruiniert«, spie Jules hervor.
»Charmant wie immer. Also, wo ist sie?«, fragte er und sah sich hektisch um.
Er konnte nicht glauben, dass er sie gleich wiedersehen würde. Nach all den Jahren.
Sie hatten seit der Nacht, in der sie ihn am College überrascht hatte, nicht mehr miteinander gesprochen. Eine Erinnerung, bei der es ihn fröstelte. Er hatte sie natürlich angerufen, mehr als zwei Wochen lang, aber sie hatte sich geweigert, mit ihm zu reden. Dann hatte er alle Kassetten, auf denen er je Musik für sie zusammengestellt hatte, in der Post gefunden, zertrampelt, kaputt, ein Bandsalat. Da wusste er, dass es vorbei war. Katy hatte diese Kassetten geliebt. Sie hatten sie immer wieder in ihrem Schlafzimmer und auf allen möglichen Parkplätzen auf dem Rücksitz des Autos seines Vaters gehört, während sie aneinander herumfummelten. Als die Plastiksplitter und die wirren, glänzenden braunen Bänder überall auf dem Boden verteilt herumlagen, bemerkte er einen etwas verblassten Aufkleber, auf dem in seiner schlampigen Handschrift mit blauem Kugelschreiber KATYS UND MATTHEWS MUSIK geschrieben stand. Da wusste er, dass es kein Zurück mehr gab. Er hatte ihr diese Kassette am letzten Abend geschenkt, ehe sie beide zu ihren Colleges aufgebrochen waren: er nach London und sie nach Manchester. Sie hatten in ihrem Zimmer gesessen und diese Musik gehört, während sie die meiste Zeit geweint und er die meiste Zeit versucht hatte, seine Tränen zurückzuhalten. Dann war The Jam gelaufen, und sie waren die volle Spiellänge von Going Underground hysterisch lachend auf und ab gehüpft. Am Ende hatten sie »einen Moment, wie es ihn eigentlich nur im Film gibt« erlebt, als sie schwer atmend auf dem Bett zusammengesackt waren und sich tief in die Augen geblickt hatten.
Er erinnerte sich daran, dass er ihr gesagt hatte, dass er sie liebe und dass drei Jahre schnell vorbei wären und ihnen dann die Welt zu Füßen läge. Bis tief in die Nacht hatten sie weitergeredet und ihre Zukunft geplant und geschmiedet. Er konnte sich immer noch daran erinnern, wie sie ihm atemlos erzählt hatte, dass sie sich schon ihr Traumhaus vorstellen konnte, das sie kaufen würden, sobald sie beide ihren Abschluss gemacht und – wieder zurück in Leeds – gute Jobs gefunden hätten. Sie hatte sich eine umgebaute Scheune mit dicken Eichenbalken, die über einer riesigen Lounge mit doppelter Raumhöhe thronten, ausgemalt, eine Küche mit einem Aga-Herd, neben dem ein Rudel Hunde schlafen konnte, und ausreichend Zimmer, damit all ihre Freunde sie besuchen und übernachten konnten, selbst wenn sie später Kinder hatten. Er erinnerte sich an eine Zeit, in der er überrascht festgestellt hatte, dass ihn der Gedanke an Kinder nicht aus der Fassung gebrachte, selbst als Katy ihn informiert hatte, dass sie zwei haben würden: einen Jungen namens Jacob und ein Mädchen namens Eloise. Aber all das hatte damals so wunderbar unausweichlich gewirkt, dass es keinen Grund zur Panik gegeben hatte.
Sie hatten es geschafft, sich jedes zweite Wochenende zu sehen, und hatten die Zugfahrt abwechselnd auf sich genommen. Aber in Matthews Kopf begann sich dann langsam etwas zu verändern. Seine neuen Freunde organisierten gern Unternehmungen an den Wochenenden, an denen er mit Katy zusammen war, und er hatte das Gefühl gehabt, etwas zu verpassen.
Darüber hinaus hatte die Einführungswoche mit einem Bumms begonnen – für manche der Jungs, die auf seinem Stockwerk im Studentenheim wohnten, ganz im wörtlichen Sinn. Von den engen Grenzen ihrer Eltern befreit, die ihnen im Nacken saßen, hatte es den Anschein gehabt, als wäre Sex nun locker verfügbar, und zwar entweder bei den Studentinnen oder bei den mit Ultraminis bekleideten einheimischen Mädchen, die immer noch dachten, einen Studenten zu vögeln wäre cool. Natürlich hatten sie alle versucht, einander mit detailreichen Geschichten, wer am weitesten gegangen war, auszustechen, wenn sie am Morgen danach in die Küche gestolpert kamen, um mit ihren Eroberungen zu prahlen.
Matthew, der Einzige, der damals eine Freundin gehabt hatte, war gezwungen gewesen, still am Rand des Geschehens zu sitzen, während das Geplänkel ihm um den Kopf schwirrte. Die Tatsache, dass er und Katy nicht oft miteinander Sex gehabt hatten – vielleicht drei oder vier Mal – und dass es nicht die erschütterndste Erfahrung auf Erden gewesen war, die sie beide eigentlich erwartet hatten, war dabei auch keine Hilfe. Er hatte keine Ahnung, was er falsch gemacht hatte, aber es war irgendwie nicht richtig gelaufen. Katy hatte eher vor Schmerz gestöhnt, denn aus Ekstase. Sie hatten nicht darüber gesprochen, sondern das Thema vermieden, beide verlegen wegen ihrer mangelnden Erfahrung. Tief im Inneren hatte er gewusst, dass sie vermutlich nur ein wenig Übung brauchten, aber er war immer frustrierter geworden, weil alle Freunde den Eindruck machten, als hätten sie den Spaß ihres Lebens.
Dann war das Ende des ersten Trimesters gekommen, und Matthew sollte am nächsten Tag für die Weihnachtsferien nach Leeds zurückfahren. Es hatte eine Kostümparty in der Bar des Colleges gegeben, und er und die anderen Jungs hatten sich entschieden, als Rentiere hinzugehen. Na ja, eigentlich war es ein Pferdekostüm gewesen – sonst war im Kostümverleih nichts mehr übrig gewesen. Also hatten sie kurzerhand ein Geweih und eine rote Nase hinzugefügt, um die Optik zu vervollständigen. Er hatte den kürzeren Strohhalm gezogen und war somit für das Hinterteil des Tieres zuständig, was ihm aber nichts ausmachte, solange er ausreichend mit Alkohol versorgt wurde.
Nach einem guten Quantum Wodka war das improvisierte Rentier zusammengebrochen. Plötzlich schienen es seine Beine nicht länger zu tragen. Es war umgefallen und hatte das vordere Ende mit zu Boden gerissen.
Das Nächste, woran er sich erinnern konnte, war, dass er von der Jungfrau Maria – sonst als Emma bekannt, die im Stockwerk unter ihm wohnte – in die Höhe gehievt wurde. Ihr Kostüm war mit großem Jubel bedacht worden, da sie alles, nur keine Jungfrau gewesen war. Sie hatte das Beste daraus gemacht, dass sie nicht mehr auf einer rein katholischen Mädchenschule war, und die Gesellschaft von so vielen Männern genossen, wie sie nur konnte.
»Matty, komm schon, steh auf«, hörte er Emma durch den dicken Nebel sagen, den er um sich herum spürte.
Als Nächstes erinnerte er sich, dass Emma und ein anderer Typ aus seiner Etage ihn auf sein Bett fallen ließen.
»Ich pass auf ihn auf, damit er nicht kotzt, bevor er einschläft«, erklärte sie.
Sie begann, seinen Kopf zu streicheln, und legte ihn dann – immer noch in seinem Kostüm – mit dem Kopf in ihren Schoß. Danach erinnerte er sich, dass sie ihn küsste und ihm ihre Hand vorn in seine Pferdebeine schob.
Der Alkohol hatte alle Hemmungen beiseitegewischt und alle Gedanken an Katy ausgelöscht. Er rollte Emma auf dem Bett auf den Rücken, zog seine Pferdebeine gerade so weit herunter, dass er genügend Platz hatte, seinen ziemlich funktionsunfähigen Penis herauszuziehen, um ihn in die versteckten Tiefen des blauen Lakens zu stecken, aus dem Emma ihr Kostüm, samt einem hüfthohen Seitenschlitz an den Beinen, gemacht hatte.
Und so begab es sich an diesem Weihnachtsfest, dass dies der Anblick war, der Katy begrüßte, als sie die Tür zu Matthews Zimmer aufstieß, nachdem sie sich entschlossen hatte, ihm einen Überraschungsbesuch abzustatten: Das Hinterteil eines Pferdekostüms, das verzweifelt pumpend auf der Jungfrau Maria lag.
Katys Gesichtsausdruck an diesem schicksalhaften Tag hatte sich bis heute tief in Matthews Gedächtnis eingebrannt, so tief, dass er beinahe erwartete, dass Katy ihn immer noch aufweisen würde, als er nervös neben Jules wartete, dass sie nun auftauchte. Schließlich kam sie durch die Tür neben der Bühne, sah jedoch wie das genaue Gegenteil des völlig verletzten Teenagers aus, den er in Erinnerung hatte und der vor all den Jahren aus seinem Zimmer gestürzt war. Sie ließ eine Haltung sehen, wie man sie nur durch Erfolg und Reife bekam. Ihre Designerbluse war ganz klar Chelsea vom Feinsten und nicht Chelsea Girl, und die verblichenen Jeans waren durch messerscharfe Nadelstreifenhosen ersetzt worden, die von leuchtend roten, hochhackigen Schuhen gekrönt wurden. Sie wirkte, als würde sie völlig in sich ruhen, was irgendwie im Widerspruch zu dem Song Like a Virgin stand, der aus den Lautsprechern dröhnte.
Sie überquerte die Tanzfläche, den Kopf hoch erhoben, und lächelte und winkte ihren herumhopsenden ehemaligen Klassenkameraden zu. Und deshalb sah sie ihn erst, als sie fast schon die Stelle erreicht hatte, an der sie Jules verlassen hatte.
»Schau mal, was die Katze da angeschleppt hat«, sagte Jules.
Sie sah auf. Ihre Augen trafen sich und ließen sich nicht mehr los.
Wie konnte jemand, den man so lange Zeit nicht gesehen hatte, so vertraut aussehen?
Er erforschte ihr Gesicht, jeden Zentimeter, er wollte etwas suchen und finden, das sie wie eine Fremde aussehen ließ, aber er vermochte nichts zu entdecken. Sie war immer noch Katy, seine Katy, die hier in der Aula der Schule stand, als ob die Zeit stillgestanden wäre.
»Hi, es ist wirklich schön, dich zu sehen«, brachte er schließlich heraus.
»Ha, ich wette, das hast du das letzte Mal, als du sie gesehen hast, nicht gesagt, oder? Zu beschäftigt, Maria ihrer Jungfräulichkeit zu berauben«, mischte sich Jules ein.
»Danke, Jules, das reicht«, ergriff Katy schließlich das Wort.
Er lächelte sie dankbar an, bemerkte aber, dass sie aufgebracht wirkte.
»Du hast mir nie eine Chance gegeben, du hast es mich nie erklären lassen, du wolltest nicht mit mir sprechen, wochenlang habe ich versucht, dich anzurufen«, brach es aus ihm heraus.
Er konnte nicht glauben, was er gerade gesagt hatte. Er klang wahrhaftig wie ein erbärmlicher Teenager. Was tat er da? Es gab keinen Grund, sich jetzt für etwas zu entschuldigen, das vor schon so langer Zeit passiert war.
»Dann sprich weiter, wenn du das Gefühl hast, du musst das jetzt tun – wenn es dir die ganze Zeit schwer auf der Seele gelegen ist. Nur zu, erklär mir alles«, erwiderte Katy relativ ruhig.
Er holte Luft. »Ich war betrunken.«
»Hervorragend, gut gemacht, Matthew. Du hattest seit 1989 Zeit, dir einen vernünftigen Grund zu überlegen, warum du mir das angetan hast, und jetzt kommst du mir damit. Du warst betrunken. Nun, das bringt die Sache nicht wieder in Ordnung, oder?«, sagte Katy, mittlerweile nicht mehr ganz so ruhig.
»Mannomann, wenn das nicht der Traum der jungen Liebe aus der sechsten Klasse ist. Der gute alte Matthew und die gute alte Katy. Ich nehme an, dass ihr zusammengeblieben seid, bei der Art, wie die gute Frau dir gerade den Kopf wäscht.«
Es war Robert Etchings, diplomatisch wie schon zu Schulzeiten; er hatte immer seine kleine Schweinenase in Sachen gesteckt hatte, die ihn gar nichts angingen.
»Na, sie ist gut gealtert, das muss ich sagen, Matthew«, machte er weiter. »In der Schule fand ich immer, dass sie ein bisschen wie ein Besen aussieht. Ein bisschen dreckig, wenn du weißt, was ich meine. Nicht dass es einem was ausmacht, wenn man siebzehn ist, hm? Je verdorbener, desto besser, würdest du nicht auch sagen, Matthew?«
Robert schien die drei sprachlosen Gesichter neben sich nicht zu bemerken.
Matthew hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Seine Gefühle schlugen Purzelbäume in seiner Magengrube wegen eines Mädchens; er war dabei, sich für etwas echt Bescheuertes zu entschuldigen, das er getan hatte, ohne vorher darüber nachzudenken. Und er hatte das überwältigende Bedürfnis, diesem Vollidioten, den er schon in der Schule gehasst hatte, eins in die Fresse zu geben. War er überhaupt nicht erwachsen geworden? Ein Schritt in die Schulaula – und er war ein Wrack.
Er sah zu Katy hinüber, deren Ärger sich, trotz der Ablenkung, die Roberts Bemerkung verursacht hatte, noch immer auf ihn zu richten schien. Was sollte er tun? Schließlich kam er zu dem Schluss, dass er keine Wahl hatte. Er tat das Einzige, was ihm in seinem leicht verwirrten Zustand angemessen schien: Er haute dem Vollidioten, den er schon in der Schule gehasst hatte, wirklich eins in die Fresse.
»Hör auf, Matthew, hör jetzt auf!«, war das Nächste, das er hörte, als er nach Luft schnappte, nachdem er Robert mit einem eindrucksvollen rechten Kinnhaken zu Boden geschlagen hatte.
»Was zum Teufel tust du da?«, rief Katy ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt.
Doch alles, woran er denken konnte, war, wie sehr er diese leuchtend roten Lippen küssen wollte. Dann bemerkte er, wie vier Arme ihn von dem dümmlich lächelnden Robert wegrissen.
»Das reicht jetzt, Jungs«, sagte Mr. Gelding, der irgendwann einmal Matthews Klassenlehrer gewesen war. Er hatte damals schon wie fünfzig ausgesehen – und er sah noch immer aus wie fünfzig.
»Ihr seid nicht mehr in der Schule, klar?«, sagte er mit einem Augenzwinkern und leichtem Schmunzeln. Zweifellos hatte er Robert auch nicht gemocht. »Ich glaube, du bringst ihn jetzt besser nach Hause, meine Liebe. Verschwindet, bevor Robert darauf besteht, dass er hinausgeworfen wird.« Er lächelte Katy an und ging weiter.
Das war genau der Augenblick, als Matthew spürte, dass sich seine Hand anfühlte, als wäre ein Elefant darübergetrampelt.
»Mist!«, rief er, als er sich über seine Hand beugte. »Für so einen Fettsack muss dieser Robert einen Kieferknochen aus Stahl haben.«
Katy sah an ihm hinauf und hinunter und nickte dann mit dem Kopf, als ob sie gerade eine Entscheidung getroffen hätte. Sie richtete sich auf und sagte: »Also gut, dann wollen wir dich hier mal rausbringen und die Hand untersuchen.«
Sie streckte ihre Hand aus, griff nach seiner verletzten und drückte zu, so fest sie nur konnte, wobei sie ihn durch die Halle zog. Er schrie den ganzen Weg bis zur Tür vor Schmerz, hatte aber keine Chance, dass sie ihn losließ oder zugab, dass sie ihm weh tat. Vielmehr schien sie, je lauter er brüllte, nur umso fester zuzudrücken.
Sobald sie den relativ ruhigen Korridor vor der Aula erreicht hatten, ließ sie seine Hand wie einen Stein fallen, drehte sich um und sah ihn an.
»Weißt du, wofür das war?«, fragte sie und blickte ihn auf eine Art an, die ihm klarmachte, dass lockeres Raten jetzt nicht angesagt war. Er blieb stumm, traute sich nicht, etwas zu sagen.
»Das war dafür, dass du so ein komplettes Arschloch und ein totaler Scheißkerl bist – und was mir sonst noch an Beleidigung in den Sinn kommt!«, schrie sie ihm ins Gesicht. Dann packte sie ihn an beiden Schultern und stieß ihm ihr Knie in den Schritt.
»Und ab sofort werden wir nie wieder davon sprechen. Ist das klar?«, forderte sie.
»Okay«, flüsterte er, während der Schmerz ihm das Wasser in die Augen trieb.
»Und jetzt lass mich einen Blick auf deine Hand werfen«, sagte sie und streckte ihm ihre eigene hin.
Matthew wimmerte leise und machte einen Schritt zurück. »Bist du verrückt? Nach dem, was du gerade getan hast?«, keuchte er.
»Das war notwendig, Matthew, das war einfach notwendig«, sagte sie. »Mach schon, ich verspreche dir, dass ich dich nicht weiter verletzten werde; außerdem bin ich auf meiner Etage in der Firma für die Erste Hilfe zuständig. Ich habe die besten Ergebnisse im Theorietest erzielt.«
»Dann hast du es ja weit gebracht.« Erleichtert sah er den Anflug ihres Lächelns, als er ganz vorsichtig seine Hand hochhob.
»Ich glaube, das lässt sich mit Erbsen beheben. Eine große Tüte Erbsen, um die Schwellung zu reduzieren, und dann ist alles wieder gut.«
»Fabelhaft. Kennst du ein gutes Erbsengeschäft, das um Mitternacht geöffnet hat?«, fragte er.
»Also, wenn du meinst, dass deine Frau nichts dagegen hat, hätte ich wohl eine Packung in meiner Wohnung, die diese Dienste leistet. Und von dort aus kannst du dir dann ein Taxi rufen.«
»Woher weißt du, dass ich verheiratet bin?« »Ein goldener Ring an der linken Hand ist ein kleiner Hinweis, mein lieber Matthew.«
»Ach ja. Und was ist mit dir?«, fragte er und warf einen Blick auf ihre linke Hand.
»Nein, nicht verheiratet. Weißt du, ich habe, als ich jung war, mal eine sehr schlechte Erfahrung mit einem Mann gemacht und bin daraufhin Lesbe geworden. Du wirst Lisa und Rachel kennenlernen, wenn wir in die Wohnung kommen. Wir haben gerade eine Dreiecksbeziehung laufen.«
»Mist, nein, du veräppelst mich, oder?«, sagte Matthew mit Augen so groß wie Untertassen.
»Ja, du hast recht, in meinen Träumen ist es ein Dreier. Nein, es ist nur Lisa.«
»Verstehe«, sagte Matthew, unfähig, eine angemessene Antwort zu finden.
Sie warf ihren Kopf in den Nacken und lachte.
»Du müsstest mal dein Gesicht sehen«, sagte sie schließlich. »Nein, bin ich keine Lesbe, und der Grund, weshalb ich das weiß, ist, dass ich einen Freund namens Ben habe: Sportlehrer, und so fit, wie sie nun mal sind, mit Oberschenkeln, für die man sterben könnte, und acht Jahre jünger als ich«, verkündete sie mit einem Hauch von Triumph, der besagen sollte: Jetzt hab ich es dir aber gezeigt, du treuloser Wichser.
»Okay, vielleicht gehe ich dann lieber wieder in mein Hotel. Möchte nicht von so einem Rugby-Verrückten zusammengestaucht werden.«
»Nein, mach dir keine Sorgen, er ist weg zu einem Junggesellenabschied, und es würde ihm sowieso nichts ausmachen, er sieht alles ziemlich entspannt.«
»Na dann, Miss Chapman, auf zu deinem Erbsenlager!«