Acht

Katy warf eine Pfundmünze in den Hut eines Obdachlosen, der vor dem Pub bettelte. Als Glücksbringer, dachte sie, als Ersatz für einen Wunschbrunnen. Sie drückte die Tür auf und wusste sofort, dass sie hier unmöglich jemanden treffen würde, den sie kannte. Sie registrierte mit Erleichterung die kitschig bunte, verschlissene Tapete, die perfekt zu den zusammengewürfelten Möbeln passte, die im ganzen Raum verstreut waren. Schmutziger senfgelber Schaumstoff quoll aus sämtlichen Postersesseln auf den schlammgrauen Teppichboden, abgewetzt von der jahrelangen Misshandlung. Ein paar Spielautomaten klimperten lustig in der Ecke vor sich hin, der einzige Anflug von Fröhlichkeit in diesem schrecklich deprimierenden Lokal. Es war leer, abgesehen von drei Leuten, die an der Bar hockten und aussahen, als würden sie dort schon seit der Mittagszeit, wenn nicht gar seit der Mittagszeit des Vortages sitzen. Sie waren vornübergekippt und verständigten sich mehr durch eine Abfolge hoher und niedriger Töne als mit Worten, aber irgendwie schienen sie sich untereinander dann doch zu verstehen.

Die einzige andere anwesende Person war eine sehr dicke alte Frau, die einen langen, schmutzigen, blauen Regenmantel und ein durchsichtiges Plastikkopftuch trug und in der Ecke an einem Bier nuckelte. Sie rief zu Katy hinüber, als diese vorsichtig über die Türschwelle trat: »Er ist dort drüben, meine Liebe, hat schon einen Freund gefunden!«

Katy sah in die Richtung, in die sie deutete, und erblickte Matthew, der ebenso fehl am Platze schien wie sie sicher auch. Er trug einen schicken dunkelblauen Anzug mit Krawatte, und ein riesiger Deutscher Schäferhund lag quer über seinen Füßen.

»Ist das das neueste Accessoire, das ihr Typen aus London braucht, damit ihr warme Füße habt?«, konnte sie sich nicht verkneifen zu lästern, als sie Platz nahm.

»Der verdammte Köter will sich nicht bewegen, und ich traue mich nicht, ihm einen Tritt zu verpassen, sonst beißt er mich womöglich«, erwiderte Matthew und sah nervös zu der Frau hinüber, die ihn mit ihrem breiten, zahnlosen Lächeln angrinste.

»Na ja, du kannst mit Sicherheit sagen, dass sein Gebell schlimmer wäre als ihr Biss«, witzelte sie.

Mann, wo kommt denn das jetzt her, ging es ihr durch den Kopf. Plötzlich verwandele ich mich in eine Ulknudel – just in dem Moment, in dem mich eine höllische Unterhaltung erwartet.

»Sehr witzig«, sagte Matthew. »Ich bin davon ausgegangen, dass du keinen Alkohol trinkst, also habe ich statt Coke mit Rum lieber Mineralwasser bestellt. Aber ich kann dir natürlich etwas anderes holen, wenn es dir lieber ist?«

Katy war total überrascht. Sie hatte seit Jahren kein Cola mit Rum mehr getrunken. Eigentlich hatte sie ganz vergessen, dass sie je so ein widerliches Gebräu zu sich genommen hatte. Aber Matthew offensichtlich nicht.

»Wasser ist schon recht«, sagte sie und nahm einen Schluck.

»Also, wie geht es dir?«, fragte sie obenhin, noch nicht so ganz bereit, das gefährliche Terrain zu betreten.

»Ach, wie soll es mir schon gehen? In Anbetracht der Umstände gut. Und dir?«, fragte Matthew zurück.

»Ehm, okay, würde ich mal sagen, in Anbetracht der Umstände. Und dir?«

»Das hast du mich doch schon gefragt«, erwiderte er.

Er sah sie mit Augen an, in denen sich tausend Fragen spiegelten. Plötzlich machte er sie zu, dann wieder auf – und schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, was er nun gleich sagen wollte.

»Könnte es von mir sein?«

Sie war geschockt. Sie hatte die Frage nicht so direkt und so schnell erwartet. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie eine Weile um den heißen Brei herumreden würden, was ihr genügend Zeit geben würde, sich in allen Einzelheiten zu überlegen, wie sie das Gespräch führen wollte. Nun, da sie keine Zeit hatte, ihre Worte sorgsam zu wählen, kam ihre Antwort unverblümt.

»Ja«, sagte sie.

Er ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. Nun waren die Worte heraus. Verschwanden nicht mehr.

Von einer Sekunde zu anderen war ihnen beiden der feste Boden entzogen und durch etwas so Wackeliges, Unbekanntes, Unsicheres ersetzt worden, dass völlig unklar war, wie sich nun ein erster Schritt nach vorn gestalten sollte. Sie saßen lange schweigend da, verloren in ihrem inneren Kampf, was sie als Nächstes sagen oder tun sollten. Schließlich bewegte sich sogar der Deutsche Schäferhund, sah zu ihnen auf, nahm an, dass sie etwas Zeit für sich alleine brauchten, stand auf und zottelte gemächlich zu seiner Besitzerin zurück.

Schließlich war es Matthew, dem es gelang, den ersten Schritt in ihre neue Welt zu wagen. »Wenn du Ja sagst, meinst du doch definitiv Ja? Was ist aber dann mit dem Typen im Kurs?«

»Das ist Ben, der Typ, von dem ich dir beim Schülertreffen erzählt hatte. Es könnte auch von ihm sein. Ich weiß es einfach nicht, Matthew.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Nichts. Soweit es ihn betrifft, ist das Baby von ihm. Pass auf, Matthew: Ich habe festgestellt, dass ich schwanger bin, habe nachgerechnet und bin darauf gekommen, dass eine Möglichkeit besteht, dass es von dir sein könnte, aber es ist wirklich wahrscheinlicher, dass das Kind von Ben ist«, plapperte Katy los. »Um Himmels willen, wir haben nur eine einzige Nacht miteinander verbracht. Ich war gerade dabei zu vergessen, was zwischen uns gewesen ist. Warum sich also Sorgen machen über etwas, das womöglich gar nicht stimmt. Ich habe mir eingeredet, dass Ben hundertprozentig der Vater ist, und damit war der Fall für mich erledigt.«

»Und was denkst du jetzt?«, fragte Matthew.

»Es ist leichter, etwas zu vergessen, an das man nicht erinnert wird. Dass du hier aufgetaucht bist, hatte zur Folge, dass der kleine Zweifel, den ich hatte, sich nun wieder laut bemerkbar macht.«

Matthew beugte sich vor, nahm seinen Kopf zwischen die Hände und bedeckte die Augen mit den Händen. Kurz darauf begann er zu zittern. Die entsetzte Katy hatte den Eindruck, dass er weinte, bis er schließlich seinen Kopf hob – aber offensichtlich lachte.

»Ich habe absolut keine Ahnung, was du daran lustig finden kannst«, sagte Katy.

»Die verdammte Ironie, Katy«, gab er zurück und sah nun irgendwie verstört und wütend aus.

»Die verdammte Ironie, dass ich in den vergangenen fünf Jahren durch die reinste Hölle gegangen bin, um mit meiner Frau ein Kind zu zeugen. Ihre mangelnde Fruchtbarkeit hat sie, offen gesagt, in eine erbärmliche Kuh verwandelt, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ich am Ende mit dir im Bett gelandet bin. Aber, Freude über Freude, endlich hat es geklappt! Sie ist schwanger und fast wieder die Frau, die ich einmal geheiratet habe. Mein Leben ist wieder in der richtigen Bahn, und dann lässt du die Bombe platzen, dass ich nach einer – nur einer einzigen Sexnacht – den verdammten Jackpot geknackt haben könnte und vielleicht Vater eines weiteren Kindes werde. Da fallen für mich doch sämtliche Weihnachtsfeste auf einmal zusammen.«

Er ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken und wirkte wie zerschlagen.

»Für mich ist das auch kein Weihnachten, das kannst du mir glauben! Ich hatte nie vor, schwanger zu werden, und schon gar nicht, ohne zu wissen, wer der Vater ist.«

»Also, was hast du dann gemacht? Wieso bist du überhaupt schwanger? Es ist mir ja zugegebenermaßen peinlich, dass ich nicht clever genug war, mich um die Verhütung zu kümmern, aber ich dachte, eine Frau in deinem Alter und mit deiner Erfahrung hätte das im Griff – oder zumindest die Reife, mich zu bitten, ein Kondom zu benutzen.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«, fragte Katy wütend.

»Das soll heißen, dass dir diese Art Situation ja wohl nicht fremd war, und da keine kleinen Katys herumlaufen, schätze ich mal, dass du bei früheren Gelegenheiten bei der Vermeidung von Schwangerschaften erfolgreicher warst.«

»Du stellst mich hin, als wäre ich eine Art Schlampe«, rief Katy; ihre Stimme wurde lauter. Sie war nicht gekommen, um sich beleidigen zu lassen. »Nur damit du es weißt: Ich schlafe nicht mit jedem dahergelaufenen Typen. Ich habe mit dir aus einer Art Rache für das, was du mir vor all den Jahren angetan hast, geschlafen. Oder meinst du, ich hätte dich sonst auch nur eines zweiten Blickes gewürdigt? Du bist nicht mehr unbedingt ein Geschenk Gottes für die Frauenwelt, Mr. Langeweiler aus der Finanzbranche! Und ja, ich hatte meine Verhütung sehr wohl im Griff! Ich habe die Pille genommen, aber ich war krank, und daher hat sie wohl nicht gewirkt. Das kann passieren, Matthew.«

»Ich bin nicht langweilig«, widersprach ihr Matthew fast schon brüllend. »Wir können nicht alle so tun, als ob wir immer noch siebzehn wären, weißt du, und auf diesem Spielplatz für Erwachsene arbeiten, den man Werbung nennt. Einige von uns treffen die Entscheidung zu heiraten, sich niederzulassen und etwas zu erreichen – einen ernsthaften Beruf mit Zukunft zu ergreifen.«

»Ach, das glaubst du also? Dass ich nie erwachsen geworden bin? Ich denke, es ist mit verdammter Sicherheit viel reifer, einen Beruf auszuüben, den man liebt, als diesen stumpfsinnigen Mist zu machen, den du den ganzen Tag tun musst.«

»Das ist Schwachsinn, Katy«, sagte Matthew und donnerte mit der Faust auf den Tisch.

Plötzlich wurde ihnen klar, dass sie nicht allein waren. Der Barmann stand direkt vor ihnen, und die Frau mit dem Regenmantel äugte hinter seinem Rücken hervor.

»Geht’s auch etwas leiser? Sie verärgern meine Stammkunden; sie sind hier, um in Ruhe etwas zu trinken«, sagte der Barkeeper.

»Das stimmt. Die zwei machen meinen Hund ganz nervös und so«, pflichtete ihm die Frau bei.

Sie drehten sich zur Bar um, an der die drei Männer zusammengesackt waren: eingeschlafen.

»Ist schon recht, Kumpels«, erwiderte Matthew ruhig.

»Und das Baby da drin kann nicht in Ruhe wachsen, wenn seine Mum und sein Dad sich wie Hund und Katz streiten«, setzte die Frau noch eins drauf.

»Bei uns ist alles in Ordnung«, erklärte Matthew schnell. »Danke.«

Der Barkeeper und die alte Frau schlurften weg, zufrieden, dass sie die Angelegenheit mit diesem piekfeinen Pärchen geklärt hatten.

»Großartig, selbst so eine bekloppte alte Schachtel glaubt, dass das Baby von mir ist«, meinte Matthew.

»Pass auf, Matthew, das ist doch gar nicht der Punkt. Du bist vom Haken, du kannst einfach gehen«, erklärte Katy, entschlossen, dieses unerquickliche Treffen zu einem schnellen Ende zu bringen. Sie stand von ihrem Stuhl auf und merkte, dass sie schützend ihren Bauch streichelte, als sie auf Matthew hinuntersah. »Es besteht eine minimale Möglichkeit, eine äußerst minimale Möglichkeit, dass dieses Baby von dir ist, aber deswegen etwas zu unternehmen, würde nur Kummer bereiten. Du hast eine Ehefrau, die Zwillinge erwartet. Sie brauchen dich. Wir sollten vereinbaren, dass wir jeden Gedanken an diese winzig kleine Chance vergessen und es dabei belassen. Es gibt keinen anderen Weg. Und jetzt brauche ich eine Toilette, und wenn ich zurückkomme, erwarte ich, dass du gegangen bist.«

Sie drehte sich um und schritt zur Toilette, ohne sich noch einmal umzublicken. Die ganze Situation hatte ihr Kopfschmerzen bereitet, und sie wollte nur eines: dass die Spekulationen und das Gerede ein Ende nahmen.

»Genug«, murmelte sie, als sie die Tür zur Damentoilette öffnete.

Matthew beobachtete, wie sie davonging, und stellte fest, dass er insgeheim hoffte, sie würde sich wenigstens noch einmal umdrehen. Sie tat es nicht.

»Es war schön, dich zu sehen.« Matthew ertappte sich dabei, wie er diese Worte vor sich hin murmelte, als er seinen Mantel nahm und durch die Tür hinaustrat.