Fünfzehn

Matthew schüttelte den Ball noch einmal. Die Worte DIE ANZEICHEN SPRECHEN DAFÜR erglühten geheimnisvoll aus den versteckten Tiefen der schwarzen Plastikkugel.

Noch einmal, sagte er sich und schüttelte den Ball diesmal mit beiden Händen. FRAGE SPÄTER erschien.

Matthew schob den Zauberball zur Entscheidungshilfe, den er Anfang der Woche in einem Nippesladen gekauft hatte, in der Schreibtischschublade unter eine Mappe. Das Orakel war schnell zu einer Besessenheit geworden, und Matthew stellte fest, dass er den Ball mittlerweile zu jeder Art Thema befragte. Wer braucht schon Tabellenblätter, dachte er dankbar, weil er einen neuen Weg gefunden hatte, der ihn durchs Leben leitete. Auf jeden Fall war diese Methode viel spontaner, machte erheblich mehr Spaß und ließ mit viel größerer Wahrscheinlichkeit ein Abenteuer erhoffen.

Er hatte schon die größte Genugtuung daraus gezogen, dass der Zauberball KEIN ZWEIFEL verkündet hatte, nachdem Matthew ihn befragt hatte, ob er zur Hochzeit von Charlene und Luke gehen solle. Er war so zufrieden mit der Antwort gewesen, dass er Alison umgehend informiert hatte, dass sie hingehen würden. Das hatte allerdings sie in die mieseste Laune versetzt, die er seit langem bei ihr erlebt hatte. Es war selten, dass Alison eine Sache so fürchterlich fand, dass ihre übliche Abendgestaltung dadurch beeinträchtigt wurde.

Aber nun gehörten die sorgfältig vorbereiteten kulinarischen Genüsse in drei Gängen, die Alison in endlosen Stunden während des Tages plante, ebenso der Vergangenheit an wie die perfekt arrangierten Platzteller aus dem sorgsam gehüteten Essservice für zwölf Personen – das Hochzeitgeschenk einer reichen Tante. Und mit Sicherheit waren die langen, gemächlichen, wenn auch manchmal langweiligen Mahlzeiten, bei denen Alison ihre neuesten Erkenntnisse zu ihrem Masterplan für die ersten Wochen ihrer Mutterschaft wiederkäute, Vergangenheit.

All das war kurzerhand durch ein Tablett auf dem Küchentisch ersetzt worden, auf dem ein Fertiggericht von Marks & Spencer zu einer Pampe auftaute, Messer und Gabel achtlos danebengeworfen.

Er war zu dem Schluss gekommen, dass er sich einfach nur richtig von Katy verabschieden musste. Leider konnte er das Alison, die absolut keinen guten Grund erkennen konnte, weshalb sie sich für diese Feier entscheiden sollte, nicht erklären, zumal die Hochzeitsparty zweifelsohne in einer »gottverlassenen Bruchbude« stattfinden sollte. Sie hatte Matthews Entschluss in der Annahme abgelehnt, dass ein »Nur über meine Leiche« seine Meinung ändern würde.

Doch als die Woche verging und es klar wurde, dass Matthew – völlig untypisch – gegenüber ihrer Opposition standhaft bleiben würde, fuhr sie fort, ihn mit knappen, auf das Nötigste beschränkten Gesprächen und Fertiggerichten zu bestrafen.

Noch mehr beunruhigte es Matthew, dass er von seinen Qualen, die Sache mit Katy zu einem Abschluss zu bringen, abgelenkt wurde, weil er Alisons zunehmende Enttäuschung spürte – er stand ihr in diesem Stadium der Schwangerschaft nicht so zur Seite, wie es notwendig gewesen wäre.

Dass sie nicht in der Lage war, ihn mit Haut und Haar zu vereinnahmen, führte dazu, dass sie ihn dann von den restlichen Vorbereitungen komplett ausschloss. Sie war eindeutig entschlossen, dass weder Matthew noch sonst jemand sie daran hindern konnte, die am besten vorbereitete Mutter von Zwillingen aller Zeiten zu werden. Einkäufe wurden gemacht, Termine vereinbart, und das Kinderzimmer wurde umgeräumt, ohne dass Matthew zu irgendeiner Frage zu Rate gezogen worden wäre. Es besorgte ihn, dass er plötzlich so überflüssig war, dennoch war er vor der Hochzeitsfeier unfähig, die Kraft aufzubringen, das Problem anzusprechen.

 

Und so war die erste Bemerkung, die Alison fallenließ, als sie auf den Parkplatz des Miners Welfare Hall & Institute einbogen, eigentlich nicht überraschend: »Ich habe dir gesagt, dass wir nicht hätten kommen sollen«, erklärte sie.

Und, ehrlich gesagt, gab es wahrlich nicht viel, das einen am Aussehen des in den Sechzigerjahren erbauten Gebäudes hoffnungsfroh gestimmt hätte – ein einstöckiger Flachbau am anderen Ende des von Schlaglöchern übersäten Parkplatzes. Die grellgrüne Betonfassade bildete einen unschönen Kontrast zum roten Blechdach. Eine zerbrochene Fensterscheibe, die mit einem leuchtend gelben Isolierband geflickt worden war, konnte kaum einer im Wind daherflatternden Packung Kellog’s Smacks standhalten, und das Schild oberhalb der Tür war durch Graffiti völlig unleserlich. All dies trug jedenfalls nicht dazu bei, die Vorfreude auf einen unterhaltsamen Abend zu erhöhen.

»Charlene und Luke müssen wirklich beliebt sein«, sagte Matthew und versuchte zu ignorieren, dass Alison gerade die Verriegelung ihrer Autotür innen heruntergedrückt hatte.

Sie saßen beide schweigend da und beobachteten eine fröhliche Gruppe von etwa dreißig Personen, die vor dem Saal herumhingen, der offensichtlich brechend voll war. Ganz eindeutig das Ergebnis eines durchzechten Tages, waren die Gäste laut und standen ausgelassen in kleinen Gruppen beieinander; oder sie saßen wie ein paar Frauen mittleren Alters mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf dem Fußboden und nippten an Halbliter-Plastikbechern mit Wein – ihre Stilettos hatten sie längst ausgezogen und ließen die schmutzigen Füße sehen. Eine kleine Rauchwolke, die aus zahllosen Zigaretten aufstieg, waberte über der feiernden Menge.

Matthew und Alison wurden durch ein lautes Klopfen an der Fensterscheibe unterbrochen.

»Was zum …«, brummte Matthew, als er nach dem Schalter für den Fensterheber griff, um das Seitenfenster zu öffnen.

»Mann, so eine Bosskarosse«, sagte ein Junge, der nicht älter als zwölf sein konnte und seinen Kopf geradewegs durch das Fenster steckte.

Matthew zuckte überrascht zurück, um einem Spuckeschauer zu entgegen.

»Sie sind zu Charlenes Hochzeit hier?«

»Ehm, ja, stimmt«, antwortete Matthew.

»Ich bin Scott, Charlenes Bruder. Ich bin für diese Sache mit dem Parkservice zuständig, also geben Sie mir einfach den Schlüssel, ich parke dieses Prachtstück und sorge dafür, dass ihm auch nichts passiert, bis Sie wieder gehen wollen, in Ordnung?«

»Aber wir haben schon geparkt.«

»Sie haben recht, Boss, aber sehen Sie: Alle Hochzeitsautos müssen dort drüben abgestellt werden.«

»Warum?«

»Weil sie dort sicherer sind.«

»Warum?«

»Darum.«

»Pass auf, mein Junge. Was hältst du davon, wenn wir das Auto jetzt einfach hier stehen lassen, und du bringst uns stattdessen dorthin, wo die Party steigt.«

»Dann haben Sie das Parkservice also schon von mir bekommen?«, fragte Scott.

»Stimmt genau.«

»Aber dann muss ich noch die Parkgebühr kassieren. Schließlich haben Sie das Parkservice haben wollen«, erklärte Scott ernsthaft.

»Nun gut, wie wäre es mit einer Tüte Chips und einem Trinkgeld? Und übrigens heißt es der Parkservice, nicht das Parkservice.«

»Ja, hab ich doch gesagt.«

»Nein, Service, wie … Dienstleistung – nicht wie ein Service mit Tassen und Tellern.«

»Tassen und Teller? Was soll ich mit Tassen und Tellern, ich will doch nur die schicken Autos fahren.«

Matthew sah zu Alison hinüber, die ihre Arme fest über ihren Bauch geklammert hielt, als hätte sie Angst, dass ihr jeden Moment jemand ihre Zwillinge unter der Nase wegklauen könnte.

»Na komm«, sagte er, »nur für eine Stunde.«

Scott rannte los und stand wartend neben der Tür. Er schlug auf drei schlaff herunterhängende rosa Luftballons ein, die wohl jemand zu einem früheren Zeitpunkt an den Türrahmen geklebt hatte, um das glückliche Brautpaar willkommen zu heißen.

»Wenn ich auch nur einen Atemzug Rauch einatme, werde ich dir das niemals verzeihen«, verkündete Alison, als sie zögernd die Türverriegelung öffnete und sich aus dem Auto schob.

Als sie den Parkplatz überquerten, umklammerte sie mit der einen Hand Matthews Arm wie einen Schraubstock, während sie sich die andere Hand auf Mund und Nase presste.

»Hier rein, hier rein«, schrie Scott über das laute Geplapper hinweg, als sie sich der Tür näherten. »Lady mit Baby, lasst sie durch!«

Es gelang ihnen schließlich, sich einen Weg durch das dichte Gedränge zu bahnen, und sie waren überrascht, im Saal drinnen ein relativ ruhiges Szenario vorzufinden. Regenbogenfarbene Discolampen drehten sich über einer fast leeren, staubigen Tanzfläche. Die Bemühungen des DJs, sie zu füllen, wurden weitgehend ignoriert, sah man einmal von zwei kleinen Jungen ab, die auf den Knien herumrutschten. Plastikstühle, die Matthew an die Schule erinnerten, standen an den Wänden aufgereiht und waren bereits von einer mürrisch dreinblickenden älteren Generation konfisziert worden. Hier gab es kein lebhaftes Geplauder. Die Gäste saßen entweder mit resolut verschränkten Armen da, oder ihre Finger trommelten ungeduldig auf den Tischen herum, während sie zur Küchentür starrten und sich fragten, wann wohl das Büffet aufgetragen würde, damit sie sich nach einem gepflegten Abendessen rechtzeitig nach Hause verkrümeln könnten, um nicht die neueste Folge der Krankenhausserie Casualty zu verpassen.

Eine Gruppe, die so aussah, als ob sie die Freunde der Braut und des Bräutigams wären, stand zusammengedrängt in einer Ecke, ebenfalls ruhig und mit den Fingern trommelnd, doch in diesem Fall hatten sie ihre Augen starr auf ihre Handys gerichtet und konzentrierten sich scharf auf irgendeine dringende Nachricht, die sie offensichtlich senden mussten – vielleicht an die Person, die gerade neben ihnen stand.

Matthew wagte nicht, Alison ins Gesicht zu sehen, und nahm sie an der Hand, um sie hinüber zur Bar zu ziehen. Oder wohl eher zu der Klappe, die den Raum mit einer hell erleuchteten Küche verband. Sie war mit zwei Studenten in Gothic-Klamotten bemannt, die den Eyeliner zu dick aufgetragen hatten und Drinks in schwarzen fingerlosen Spitzenhandschuhen servierten.

»Das ist ja fürchterlich«, zischte Alison. »Was machen wir hier?«

»Um Himmels willen, Alison«, rastete Matthew schließlich aus. »Wenn du nur für fünf Minuten aufhören würdest, so ein verdammter Snob zu sein, dann könntest du deinen Spaß haben.«

Alison schaute angesichts des Ausbruchs von Matthew völlig verdattert drein. »Was um alle Welt ist denn in dich gefahren? Spaß haben? Hier? Mach dich nicht lächerlich! Ich könnte keinen Spaß haben, selbst wenn du mich dafür bezahlen würdest. Eine Stunde – und weg sind wir!«

 

»Ihr seid gekommen! Ihr seid gekommen! Ich kann es nicht fassen, dass ihr wirklich da seid!«

Eine überdimensionale strahlend weiße Wolke rauschte aus dem Nirgendwo an ihnen vorüber und riss Alison beinahe um. Einen Augenblick lang versperrte ihnen ein Sturm aus Tüll und Taft die Sicht, bis Charlene sich umdrehte und den Blick auf Daniel freigab, der mit Katy und Ben am Eingang stand.

Charlene zog ihn umgehend zur Gruppe der SMS-tippenden Teenager hinüber. Die Mädchen umringten ihn sofort, flüsterten eindringlich, wobei sie einen Blick über die Schulter warfen, um in Gekicher auszubrechen. Die jungen Burschen der Gruppe nahmen eine defensive Haltung ein; zweifellos diskutierten sie, wie sie mit diesem neuen Fremdling, der ihr Revier bedrohte, umgehen sollten.

Katy und Ben hatte man an der Tür einfach stehen gelassen. Charlene hatte sie völlig ignoriert. Ben warf einen Blick auf Matthew, sagte etwas zu Katy und ging dann wieder nach draußen, ohne auch nur Hallo gesagt zu haben.

»Ich frage mich, was um alle Welt in Ben gefahren ist«, wunderte sich Alison. »Er war so schlecht gelaunt bei unserer Essenseinladung, und seine Manieren waren, na ja, nicht existent. Dann ist er nicht im Kurs aufgetaucht. Da geht etwas wirklich Merkwürdiges vor. Ich glaube, er kommt mit dem Gedanken, Vater zu werden, nicht klar. Arme Katy. Sie ist so nett und hätte wirklich etwas Besseres verdient, findest du nicht auch?«

Matthew zweifelte bei der Antwort an sich selbst, deshalb gab er vor, die Frage nicht gehört zu haben.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, hakte Alison nach. »Bist du nicht auch der Meinung, dass Katy etwas Besseres verdient hätte?«

»Ja«, brachte er flüsternd heraus, wobei es ihn Mühe kostete, sein Verlangen zu unterdrücken, hinüberzurennen und die total verloren wirkende Katy zu trösten.

»Ich gehe sie aufmuntern«, verkündete Alison, marschierte mit ausholenden Schritten los und schleifte Matthew hinter sich her, der sich mittlerweile fragte, ob es nicht ein großer Fehler gewesen war herzukommen.

»Na, noch kein Anzeichen von dem Baby?«, fragte Alison, als sie Katy erreichte.

»Ehm, nein, noch nicht«, erwiderte Katy und sah Matthew nervös an. »Bin überrascht, dass ihr hier seid.«

»Nicht so überrascht wie ich«, sagte Alison. »Matthew hat darauf bestanden, dass wir kommen. Ich habe keinen blassen Schimmer, warum.«

Matthew vermochte den Blick, den ihm Katy zuwarf, nicht zu deuten.

»Ben wollte unbedingt kommen«, sagte Katy schließlich. »Sieht so aus, als hätten Luke und er sich dank der bevorstehenden Vaterschaft ein bisschen angefreundet.«

»Ich schätze, sie haben wirklich eine Menge gemeinsam«, sagte Matthew.

»Was, weil sie beide zu jung sind – oder wie meinst du das?«, schoss Katy zurück. »So jung ist Ben gar nicht mehr, weißt du.«

»Du hast recht, im Grunde ist er sehr reif«, erwiderte Matthew, unfähig, den Sarkasmus in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Matthew!«, sagte Alison scharf.

»Ignoriere ihn einfach, Katy. Er hat eine grässliche Laune. Ich bin so froh, dass du hier bist, dann kann ich mich wenigstens mit jemandem vernünftig unterhalten, bevor wir uns entschuldigen und diese Farce von einer Hochzeit verlassen.«

Katy war von Alisons offensichtlicher Verachtung schockiert. »Solange Charlene und Luke glücklich sind – das ist doch alles, worauf es ankommt, oder?«, sagte sie.

»Na ja, wenn man mit achtzehn heiratet, kann man wohl wirklich nicht mehr erwarten. Aber mal im Ernst, Katy: Wärst du glücklich, wenn du mit Ben euren ersten Tanz als verheiratetes Paar in so einem Schuppen tanzen müsstest?«, fragte Alison.

»Katy und Ben werden nicht heiraten, das haben sie dir doch schon erklärt«, sagte Matthew bestimmt.

»Sie könnten aber«, erwiderte Alison. »Ben könnte sich entscheiden, dass er es doch möchte – vielleicht …« Sie verstummte.

»Wer weiß«, meinte Katy und sah sich verzweifelt um. »Ach, schaut mal, da kommt Daniel zurück«, sagte sie überaus erleichtert.

»Hallo, alle zusammen!«, grüßte er, als er näher kam. »Was für eine tolle Party.«

»Wie es scheint, hast du sofort eingeschlagen«, meinte Katy. »Worüber hast du denn mit den jungen Mädels geredet? «, fragte sie.

»Über Musik und Tanz natürlich«, antwortete er. »Die beiden größten Obsessionen, die weibliche Teenager und homosexuelle Männer gemeinsam haben. Das – und verliebt zu sein, natürlich«, fügte er hinzu und bedachte Matthew mit einem verschmitzten Lächeln.

»Und anscheinend auch öffentliche Toiletten«, sagte Katy und stieß Daniel in die Seite, als sie auf Charlene und die Clique ihrer Freundinnen deutete, die miteinander zu den Damentoiletten marschierten.

»Kein Grund für solche Kommentare, Katy. Nur zu deiner Information: Sie wollen sich nur umziehen, um sich für den ersten Tanz fertig zu machen.«

»Was? Alle?«

»Ja. Alle. Nun schlage ich vor, dass wir zusehen, Plätze mit guter Sicht zu ergattern, weil du das nämlich nicht verpassen solltest. Vertrau mir!« Daniel schob sie an den Rand der Tanzfläche und organisierte Sitzplätze für die schwangeren Frauen.

Kurz darauf tauchte Charlene aus den Toiletten auf, gefolgt von ihrer Entourage. Alle waren mit BH-Tops und erschreckend kurzen Miniröcken in Blaumetallic bekleidet – oder eher unbekleidet. Charlene selbst war ein wenig zurückhaltender angezogen, trug aber dennoch einen ziemlich anzüglichen, leuchtend roten Rüschenfummel, der am Rücken knielang war, vorne aber wegen ihres Kugelbauchs gerade noch den Schritt bedeckte. Sie schwankte in halsbrecherischen High Heels über die Tanzfläche zur Eingangstür des Saals.

»He, ihr da! Drückt eure Kippen aus und kommt jetzt rein!«, rief sie der paffenden Menge vor der Tür zu. »Wenn ihr nicht kommt, mach ich die Bar zu, weil das hier nämlich meine Hochzeit ist und ihr tun müsst, was ich euch sage.«

Sie stolzierte wieder quer durch den Saal auf den DJ zu und steuerte dann die Bar an, während die halbstarken Raucher nach und nach hereintröpfelten.

Charlenes Freundinnen standen nun alle in lockerer Linie in der Mitte der Tanzfläche und vollführten bizarre, verwundene Bewegungen, als ob sie sich darauf vorbereiteten, zu einem Sprint zu starten. Charlene brüllte dem DJ einen Moment etwas ins Ohr, bevor sie den Daumen hob. Dann kämpfte sie sich durch ein Labyrinth an Kabeln und Lautsprechern ihren Weg zurück zur Tanzfläche. Sie rief etwas, und sofort bildete sich eine schnurgerade Linie mit etwa zwei Füßen Abstand zwischen den Mädchen.

»Okay, Ladys und Gentlemen«, sagte der DJ und unterbrach seine ziemlich abgestandene Motown-Session. »Wenn ich um Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit bitten darf, wir haben für Sie heute Abend nämlich etwas ganz Besonderes. Anscheinend wollte unser attraktiver Bräutigam Luke nicht mit dem ersten Tanz den heutigen Abend eröffnen, weil er zu schüchtern ist. Jetzt will ich von allen ein lautes Aaaaah für Luke hören!«

Im Saal war es totenstill, sah man von einem kleinen Mädchen ab, das unter einem Tisch kreischte: »Finger weg von meiner Muschi!«

»Na los, Leute, ein lautes Aaaaah für den armen, alten Luke«, bettelte der DJ.

Ein schwaches Aaah tönte aus der Ecke der Gruftis, die jetzt abwechselnd in die Küche gingen, um nachzufragen, wann endlich das Büffet aufgetragen würde.

»Also, unsere Charlene, die bekanntlich alles andere als von der schüchternen Sorte ist, ist zu dem Schluss gekommen, dass sie dennoch gern einen Eröffnungstanz hätte, und zwar mit ihren Freundinnen. Sie hat ihn ihrem frischgebackenen Ehemann gewidmet. Also hier ist, und nur für diese Nacht, Leeds’ Antwort auf die Pussycat Dolls. Sie zeigen zu Ihrer Unterhaltung Don’t Cha Wish Your Husband Was Hot Like Mine

»Bravo, bravo«, jubelte Daniel stürmisch. »Einfach genial! Absolut irre! Na dann los, Mädels!«

Die in Reih und Glied stehenden Mädchen nickten einander leicht im Rhythmus der Musik zu, als die ersten Takte des Songs aus den Lautsprechern dröhnten. Dann schienen sie alle gleichzeitig tief Luft zu holen, bevor sie mit ausladenden, nicht sonderlich synchronen Armbewegungen winkten, die sie die ganze erste Strophe über beibehielten. Daraufhin folgte eine kurze Atempause, ehe sie in Positur für den Refrain gingen. Als der erste Vers begann, machten sie alle gleichzeitig einen Satz nach vorn und drehten sich wild, während sie aus vollem Hals den adaptierten Text des Songs lauthals brüllten.

Don’t cha wish your husband was hot like mine?
You really shouldn’t wish ’cause from today he’s all mine?
Don’t cha
Don’t cha baby
Don’t cha wish your husband was right like mine?
If you try and steal him I will fight you ’cause he’s mine.
Don’t cha
Don’t cha Baby.

Der Effekt war besorgniserregend. Einige der Mädchen hatten eindeutig Stunden damit verbracht, ihre Drehungen perfekt einzustudieren, während andere, für die der Tanz eine physische Herausforderung darstellte, aussahen wie Lehm auf einer Töpferscheibe in den Händen eines schier miserablen Töpfers.

Mittlerweile war Daniel hysterisch. »Das kann man nicht mit Geld bezahlen!«, rief er, als er sich die Augen wischte. »Selbst mein kreatives Genie könnte sich so etwas nicht einfallen lassen. Obwohl ich zugegebenermaßen Charlene auf die Idee gebracht habe, hätte ich mir nie träumen lassen, dass der Auftritt so toll werden würde. Ich glaube, ich nehme sie unter Vertrag. Diese Show wäre unschlagbar bei der Gay Pride Parade, da bin ich mir sicher!«

Der Gerechtigkeit halber ist zu sagen, dass sie den Tanz bis zum letzten Refrain durchzogen, bei dem Charlene dann allerdings aus dem Takt geriet. Die kleinen Kinder im Saal hatten offenbar gedacht, dass die ganze Singerei und die Tanznummer zu ihrer Unterhaltung gedacht waren, und deshalb hatten sie sich in einer Reihe vor die Mädchen gestellt und versuchten, jede Bewegung nachzumachen. Aber das war es nicht, was Charlene aus dem Konzept brachte. Es war Scott – wer sonst? –, der sich zwei Luftballons und ein Kissen vorne ins Hemd gestopft hatte. Aus dem Ausschnitt quollen eine rote und eine blaue »Brust«, unten baumelte munter eine goldene Quaste hervor. Er stand direkt hinter Charlene und ahmte jede ihrer Bewegungen nach. Wie seine Schwester blieb auch er immer wieder stehen, um sich an den Rücken zu greifen und schmerzvoll das Gesicht zu verziehen. Er benahm sich absolut wie das hochschwangere Mädchen.

Charlene bemerkte schließlich, dass die Leute über irgendetwas hinter ihrem Rücken lachten, und sie wirbelte herum, so dass sie Scott voll in Fahrt erwischte.

»Mum, schaff Scott hier weg!«, heulte sie. »Warum muss er alles versauen? Das ist nicht fair. Muuuuuuum, sofort.«

Charlenes Mutter erschien wie aus dem Nichts, packte ihren Sohn am Ohr und zog ihn davon.

Es dauerte nur einen Augenblick, und Charlene kehrte zum Programm zurück, als wäre nichts gewesen.

»Welch eine Begabung, welch eine Begabung!«, rief Daniel, als er bei der letzten Liedzeile aufsprang, um die stehenden Ovationen anzuführen. »Genial, einfach genial!« »Sie ist ein ziemlicher Feger, deine Frau«, sagte Ben. Er hing mit Luke, der versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu benehmen, an der Bar herum.

»Das kannst du laut sagen«, murmelte er.

»Was halten deine Eltern von ihr?«, fragte Ben bemüht, nicht auf Charlenes superkurzen Rock zu starren, der auf und ab wippte und dabei jede Menge Unterwäsche sehen ließ.

»Mir egal.«

»Wo sind sie? Ich habe sie noch gar nicht gesehen.«

»Nach Hause gegangen.«

»Verstehe.«

Ben nahm einen weiteren langen Zug von seinem extrastarken Bier – das dritte Glas, das er, seit er gekommen war, bereits gekippt hatte.

»Also Luke, kommst du eigentlich klar mit diesem ganzen Heirats- und Babykram?«, fragte Ben.

»Jep.«

»Gelähmt vor Angst, stimmt’s? Mir musst du das nicht erzählen, ich kann es dir nachempfinden, Luke. Junge, Junge, ich kann das nachempfinden«, sagte Ben und schüttelte den Kopf, bevor er sein Glas leerte. »Ich meine, wir sind zwei junge Männer in der Blüte unseres Lebens, stimmt’s? Unser ganzes Leben liegt noch vor uns. Wir könnten alles machen, überall hingehen, alles werden – und schau uns jetzt mal an. Den einen Moment hast du noch gedacht, mit ein bisschen mehr Übung könntest du es zum Profifußballer bringen – und im nächsten Moment sind alle Möglichkeiten dahin, weil dir jemand erzählt, dass man dir gerade die nächsten achtzehn Jahre deines Lebens unter der Nase weggeklaut hat. Einfach so. Mann, ich bin ganz auf deiner Seite. Wir sitzen im gleichen Boot, Luke. Wir stecken beide bis zur Halskrause drin, Kumpel, du und ich«, sagte Ben, legte einen Arm um Lukes Schulter und griff sich das nächste Bier.

»Und noch etwas«, fuhr Ben fort, wobei er das halbe Bier verschüttete, als er mit dem Glas in der Luft herumfuchtelte.

»Du wirst mir bei dieser Sache sicher zustimmen. Also: Du kriegst ein Baby, okay, und plötzlich sollen die Mutter und du heiraten und für immer zusammenbleiben, einfach so. Ich sag dir was, ich ziehe meinen Hut vor dir, Kumpel. Ich bin noch jung, aber du bist fast noch ein Kind. Ich weiß, dass ich das nicht sagen sollte, aber ich kann nicht glauben, dass du das durchziehst, Kumpel. Ich kann es einfach nicht glauben.«

Luke starrte zu Boden und begann, gegen die Wand zu treten.

»Pass auf, mich kannst du einweihen, sozusagen von Mann zu Mann«, sagte Ben und beugte sich vor, weil er Luke dazu bringen wollte, ihn anzusehen. »Willst du das denn allen Ernstes?«

Luke trat besonders hart gegen die Wand, dann hob er seinen Kopf und sah, wahrscheinlich zum allerersten Mal überhaupt, Ben in die Augen.

»Ja, das will ich«, antwortete er ruhig. »Weil mein Vater ein Scheißkerl ist. Er kann mich nicht ausstehen. Nur weil ich nicht so bin wie er, denkt er, dass ich überhaupt nichts auf die Reihe kriege. Er hat mir das Leben zur Hölle gemacht. Und das ist doch nicht der Fehler des Kindes, oder? Jedes Kind hat einen guten Vater verdient. Jedes Kind, nicht wahr?«

Ben blieb der Mund offen stehen. Er hatte noch nie einen ganzen Satz von Luke gehört, geschweige denn mehrere hintereinander.

»Oder etwa nicht? «, wiederholte Luke deutlich lauter.

Ben torkelte unter der Wucht dieser Frage und dem Bier zurück, das sich größtenteils über seine Hose ergoss.

Luke griff nach einem Stuhl und schaffte es, Ben dazu zu bringen, sich zu setzen.

»Oder hat es das nicht verdient?« Luke stellte Ben die Frage noch einmal.

Ben sah ihn an, die Augenbrauen gerunzelt, tief in Gedanken.

Schließlich antwortete er sehr ruhig: »Verdammt, das ist mit Sicherheit so, Luke, verdammt, das ist sicher so.«

Er hievte sich unsicher auf die Beine und wankte nach draußen.