Schloss Emhold


Im Riesental war der Frühling mit seiner ganzen Macht ausgebrochen. Überall blühten leuchtendfarbige Blumen, die Vögel lärmten fröhlich im Gezweig, in den Wäldern hörte man das dumpfe Röhren der mächtigen Riesenelks. Auf den Hauptverkehrsstraßen zur Stadt Gorga herrschte geschäftiges Treiben; in ganz Loïree erwachte das Leben, und man konnte überrascht sein, wie viele Dörfer und Menschen es in diesem sonst so kargen Gebirgsland gab.

Auf einem weniger belebten Weg ging ein junger, mittelgroßer schlanker Mann mit glatten braunen Haaren und lustig funkelnden hellblauen Augen; sein Gesicht war gut geschnitten, offen und ehrlich, sein Gang beschwingt und heiter; er trug bunte weite Gewänder und einen breitkrempigen Hut mit einer großen Feder; seine schmalen Finger zupften an einer Klampfe, und er sang zu einer hübschen Melodie trällernd anspruchslose Lieder, die von der Liebe handelten.


»Ach, du, mein klein Liebchen fein,

sei doch nur gut zu mir und lass mich in dein Kämmerlein,

denn ich hab dies zu erzählen, allein dir,

will ja nur von Liebe sprechen, will ja nur ein wenig lieben,

lass mich ein, willst du nicht das Herz mir brechen

und das Leuchten meiner Augen trüben.

Oh, du blühend Röselein, du allerliebstes Schätzelein!«


Er brach ab, als er an einer Wegkreuzung einen Mann aus der Richtung der Berge kommen sah; pfiff leise durch die Zähne, als er das wertvolle Xiladansilber des Gürtels in der Sonne blitzen sah, und erkannte sogleich einen Heiligen Wanderer in dem Fremden, dessen tiefblaue strahlende Augen sich interessiert auf ihn richteten. Er lüpfte den Hut in gekonntem weiten Schwung und vollführte eine gelungene Verbeugung.

»Zu Diensten, mein Herr Zauberer!«, rief er fröhlich. »Gestattet mir, mich vorzustellen: Ich bin ein genialer Künstler von Himmels Gnaden, Gromgen Vogelsang, der Troubadur so vieler tragischer Balladen und heiterer Gesänge, der Freund aller Vögel, der manchmal selbst zur Feder greift und zärtliche Gedichte schreibt.«

»Gromgen Vogelsang«, wiederholte der Zauberer langsam und nickte dann. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

»Kein Wunder!«, rief Gromgen mit großartiger Geste. »Der Himmel hört mir zu, die Vögel pfeifen meine Melodien, Sänger und Schauspieler der ganzen Welt rezitieren meine Gedichte und Balladen. Ich bin der Troubadur dieser Welt, und Ihr«, er zwinkerte fröhlich, »Ihr selbst seid gewiss ... oh, ich will ab sofort töricht wie eine Krähe krächzen, wenn ich mich irre ... Ihr seid höchstpersönlich der große Lord Kelric, von dem alle Welt spricht und der stets meinen Magen sättigt, denn jeder will meine Geschichten über Euch hören. Seid Ihr's? Doch ja, kein Zauberer hat solch hohen Wuchs und dies markante Antlitz. Mein Lord, es ist mir eine große Ehre, in der Tat, wirklich!«

Er verbeugte sich nochmals tief mit schwingendem Hut.

Kelric schmunzelte. »Wenn Ihre Kunst so groß ist wie mein Hunger, so will ich Ihren Worten sogar glauben«, erwiderte er.

Gromgen starrte ihn verblüfft an und lachte dann schallend. »Je nun, ich verstehe zu leben, und das ist das einzige, was zählt. Je weniger man mich ernst nimmt, desto besser kann ich die anderen ausneh... ähm, erfreuen. Aber Ihr habt Hunger, und ich will sehen, was ich ... oh, schade, alle Taschen leer!« Er zuckte die Achseln und lachte. »Aber wir haben gerade noch zwei Wegstunden bis Gorga, und wenn Euch meine Gesellschaft nicht stört, lenke ich Euch unterwegs durch anständige Lieder ab, und im besten Gasthaus von Gorga, dem Badenden Troll, ersinge ich uns beiden im Handumdrehen zwei leckere Mahlzeiten und Betten für die Nacht.«

»Mit unanständigen Liedern, natürlich.«

»Natürlich.«

Die beiden so verschiedenartigen Männer lächelten sich an und setzten den Weg in gemeinsamer Heiterkeit fort.



Der Badende Troll war nicht nur das beste Gasthaus von Gorga, sondern auch das schönste und größte. Es war verwinkelt und teilte sich in viele Räume auf; Stein und Holz wechselten sich ab, die Wände waren teilweise bemalt und mit Sprüchen verziert; an den Balkonen der oberen Stockwerke waren Blumenkästen befestigt, und das große Aushängeschild stellte einen fröhlich lachenden (wenngleich dadurch nicht minder hässlichen) Troll dar, der sich in einer viel zu kleinen Badewanne den Rücken schrubbte. Es gab mehrere Stockwerke mit vielen Gästezimmern, von denen die meisten besetzt waren; auch die Gasträume waren sehr gut besucht.

Gorga selbst war eine Menschenstadt wie jede andere: überschäumend von verschiedenartigstem Leben, mit unterschiedlich gebauten hübschen Häusern und vielen einzelnen Märkten; aus allen vier Himmelsrichtungen führten Handelsstraßen zu ihr, die sich verzweigten und in verwinkelten engen Gässchen verliefen, durch die man gerade mit einem Pferdefuhrwerk hindurch passte. Aufgrund der wenigen Ausweichmöglichkeiten waren die meisten Straßen ständig mit Wagen und brüllenden Kutschern verstopft.

Der Troubadur wurde im Gasthaus mit lautem Hallo begrüßt; Kelric, der sich still im Hintergrund hielt, wurde mit aller Ehrerbietung aufgenommen. Er suchte sich einen ruhigen Platz in einer Ecke; und während er mit gutem Appetit das leckere Mahl verzehrte und einen herben Wein dazu trank, lauschte er Gromgens Gesang, der sämtliche Gäste in seinen Bann schlug und gekonnt nebenbei eine Menge aß und trank. Eine Weile später kam er lachend, das Gesicht vom Wein gerötet, zu dem Zauberer und fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Als Kelric nickte, verabschiedete er sich fröhlich, denn er hätte ein sehr liebes Mädchen kennen gelernt, und nun ja, er verstehe das sicher ... Kelric lächelte ihm zu und wünschte alles Gute.

Der Troubadur war kaum gegangen, als ein anderer Mann an den Tisch trat; er war klein und rundlich, mit dem groben Gesicht eines Bauern; mit rauer, leiser Stimme fragte er, ob er Platz nehmen dürfe.

Kelric, der sich gerade eine Pfeife mit frisch gekauften Tabak anzündete, nickte schweigend.

»Mein Name ist Qwyla«, sagte der Mann, während er sich niederließ. »Lord Kelric, ich komme als Übermittler meines Königs. Er hätte einen Auftrag für Euch.«

Kelric forschte kurz in Qwylas Gedanken. »Sprechen Sie!«, forderte er ihn auf.

Der Mann bewegte sich unruhig und nervös und fragte schließlich zögernd: »Ihr könnt Gedanken lesen, nicht wahr?«

Kelric winkte ab. »Sie werden mir alles sagen. Ihre Gedanken gehören Ihnen.«

Qwyla wollte den Worten glauben und wirkte erleichtert; er winkte nach dem Wirt und bestellte Wein für beide, bevor er begann: »Ich weiß nicht, ob Ihr davon hörtet, dass vor nicht allzu langer Zeit Laïmor und Loïree Krieg führten.«

Kelric erwiderte gleichmütig: »Es ist weniger bekannt, wann sie Frieden schließen, denn das ist selten. «

»Ja, mein Lord. Aber nun soll dieser Zwist endgültig beigelegt werden.« Qwyla schüttete den starken Wein wie Wasser in sich hinein; seine Nase rötete sich rasch, seine derbe Zunge wurde freier. Kelric beobachtete ihn stumm; in den wasserblauen blutunterlaufenen Augen des Mannes erkannte er einen verborgenen Hang zum Alkoholismus.

»Sicher habt Ihr schon von des Königs jüngstem Zuckerpüppchen gehört«, sprach er langsam weiter.

Kelric schüttelte den Kopf. Qwyla starrte ihn an.

»Alle Welt spricht von ihr!«, sagte er empört. »Sie wird erst achtzehn und ist schon das herrlichste Weib! Jeder begehrt sie. «

»Ach so«, meinte Kelric. »Sie sprechen von Prinzessin Gorwyna, des Königs edler Tochter.«

Qwyla schnappte ein paarmal nach Luft, ehe er schnaubte: »Ihr macht Euch über mich lustig!«

»Ich hätte in diesem Fall wenig zu lachen«, entgegnete Kelric, lehnte sich zurück und musterte den Gesandten so durchbohrend, dass dieser den Wein immer hastiger trank. »Der König hat seltsame Vertraute«, sagte er schließlich. »Sie erscheinen mir als Vermittler wenig geeignet.«

Qwyla wurde blass und setzte zu einer heftigen Erwiderung an, überlegte es sich jedoch rechtzeitig und sagte zähneknirschend: »Ja, da habt Ihr gewiss recht, Herr. Aber des Königs Ratgeber sind zur Beschwichtigung in Laïmor, und ich erbot mich, zu Euch zu gehen.«

»Hm.« Kelric lächelte ganz fein. »Der König ist mir sympathisch. Er hat eine seltsame Art von Humor, die mir gefällt.«

Owvla starrte ihn verständnislos an, erinnerte sich dann wohl seines Auftrages und fuhr fort: »König Lorwan von Laïmor hat einen Sohn, Prinz Lyrwe. Er ist vierundzwanzig und verliebte sich allein durch Gromgen Vogelsangs Lieder, der, nebenbei bemerkt, selbst nur von anderen über ihre Schönheit hörte, in die liebliche Prinzessin und möchte sie heiraten. König Emhold erklärte sich mit seiner Werbung einverstanden, unter der Bedingung, dass am Hochzeitstag der endgültige Frieden ausgehandelt werde. Dem stimmte König Lorwan zu, und nun soll Gorwyna nach Laïmor unter Eurem Schutz reisen. Sie ist Lerranees kostbarster Schatz, und Ihr Lerranees bester Zauberer.« Er beugte sich nach vorn und zwinkerte vertraulich. »Das ist ein angenehmer Auftrag, denn das Mädchen ist wirklich sehr saleen

»Nun«, sagte Kelric kühl, »deshalb werde ich ja wohl zu ihrem Schutz abgestellt, um respektlose Männer wie Sie von ihr fernzuhalten. Das erscheint mir die schlimmste Gefahr.«

Qwyla wurde rot vor Zorn. »Ihr könnt doch gar nicht so untadelnswert sein, wie Ihr tut!«, fauchte er. »Auch Ihr seid ein Mann!«

»Aber ich verstehe mich zu beherrschen, und vor allem rede ich nicht derart unziemlich über Hochwohlgeborene«, erklärte Kelric ruhig. »Und ich richte mich nach meinem Auftrag. Eigennützige Interessen sind Prinzessinnen gegenüber absolut fehl am Platz. Sie sind noch weniger Freiwild als andere Frauen, denn sie verkörpern die Autorität eines Landes als zukünftige Königinnen. Ein wenig mehr Achtung den Frauen gegenüber, die uns immerhin unsere Kinder schenken, wäre auch bei Ihnen sehr angebracht.«

Der Mittler sprang auf; er war so betrunken, dass er sich am Tisch festhalten musste, um nicht umzufallen. »Das brauche ich mir nicht bieten zu lassen!«, schrie er mit schwerer Zunge.

»Natürlich nicht«, erwiderte Kelric gelassen. »Sie brauchen nur zu gehen. Leben Sie wohl.«

Er winkte dem Wirt, der bereits eine ganze Zeit unruhig in der Nähe gestanden hatte, und nun hastig herbeistürzte. »Belästigt Euch dieser Mann, mein Lord?«, fragte er ängstlich.

»Nicht direkt«, antwortete Kelric. »Noch hat er mich nicht angefasst. Er ist Ihren guten Wein nicht gewohnt, Herr Wirt, und fühlt sich wohl nicht ganz gut. Frische Luft wird ihm gut tun. Seine Zeche bezahle ich.«

»Wo denkt Ihr hin?«, rief der Wirt erschrocken. »Selbstverständlich übernehme ich das ... der ganze Vorfall ist mir schrecklich peinlich! Wenn ich gewusst hätte ... bitte verzeiht ... «

Kelric winkte ab und erhob sich. »Sie haben keine Schuld, guter Mann. Bitte zeigen Sie dem Kerl den Weg hinaus; ich begebe mich auf mein Zimmer. Es ist spät und ich bin müde.«

Er ging gleichmütig an dem kampflustig aufgeblähten Qwyla vorbei, der trotz seines lautstarken Protestes unsanft an die frische Luft gesetzt wurde.



Früh am anderen Morgen befand sich Kelric bereits auf der Prachtstraße, die direkt zum südlich der Stadt gelegenen großen Schloss führte. Er ging langsam und gemütlich, betrachtete interessiert die Architektur der Gebäude links und rechts der Straße, grüßte mit einem freundlichen Kopfnicken die beiden Torwächter an der Stadtmauer, die sich tief verbeugten, und wanderte dann heiter auf einer großen Allee durch eine von vielen Menschen gepflegte Parklandschaft mit Zierteichen, Springbrunnen und Reiterstatuen. Er blieb stehen, als er jemanden hinter sich rufen hörte, und sah lächelnd Gromgen entgegen, der mit flatternder Kleidung und wedelnden Armen auf ihn zugelaufen kam.

»Guten Morgen«, sprach er den Troubadur an. »Sie sehen leicht übernächtigt aus. Warum sind Sie schon so früh unterwegs?«

Gromgen Vogelsang hob die Hände zum Himmel. »Ach, mein Lord, in der Tat schlief ich kaum, denn dieses Mädchen war ein herrliches Himmelsgeschöpf, ein süßer Traum, und ich wollte mich gerade in sie verlieben, als es schon Morgen war, und plötzlich war da noch ein Mann im Zimmer, der sich nicht nur als ihr Gatte herausstellte, sondern auch noch entsetzlich eifersüchtig war! Da musste ich fliehen, tja, ich armer Mann, und bin wohl nicht so schnell mehr wohlgelitten.« Er holte die Lyra vom Rücken und zupfte verspielt darauf herum, während sie gemeinsam weitergingen. »Ich glaube, wir haben denselben Weg, Herr Zauberer. Mich zieht es zum König Emhold auf Schloss Emhold im Reich Loïree, Eurem beeindruckenden und gastlichen Geburtsland. Ich muss mich von Prinzessin Gorwynas Schönheit überzeugen, nachdem ich soviel von ihr singe. Ich will dort ein Jahr lang Lieder singen, bis ich genug Geld eingesäckelt habe, um es auf neuen Reisen wieder ausgeben zu können. Glaubt Ihr, ich bin willkommen?«

»Bestimmt«, lächelte Kelric. »Sie sind in der Tat ein begabter Künstler, mein Freund. Spielen Sie mir auf, während wir gehen, denn zwei Stunden Wegs werden es wohl sein, und als Gegenleistung erzähle ich ein paar Geschichten von mir. «

Gromgens Augen leuchteten auf, dann sagte er erschrocken: »Ihr habt meine Gedanken belauscht!«

»Nein, Gromgen, bestimmt nicht. Menschenkenntnis genügt in diesem Fall. Junger Freund, wie alt sind Sie eigentlich?«

»Siebenundzwanzig, warum?«

»Es war nur Neugier, weiter nichts.« Kelric blickte versonnen in die Ferne, dann sagte er leise: »Das ist ein schönes Alter.«

»O ja«, pflichtete der Troubadur ihm bei, dann druckste er herum, bis er schüchtern fragte: »Und – wie alt seid Ihr, wenn Ihr gestattet?«

»Neunundvierzig, mein junger Freund. Es ist auch ein schönes Alter. Man gehört noch nicht zum alten Eisen und hat doch viel erlebt«, antwortete Kelric.

Der Sänger spielte einige Zeit gedankenverloren, ehe er feststellte: »Ihr Zauberer seid seltsam, wenn ich das mal sagen darf. Unzählige Legenden ranken sich um Euch, Ihr seid so mystisch und erhaben, aber wenn man dann gemeinsam mit Euch geht, seid Ihr so freundlich und aufgeschlossen.«

»Das liegt vielleicht daran, dass wir durch unsere Fähigkeiten von normalen Menschen abgeschnitten und sehr einsam sind. Sie sind ein so herzerfrischender fröhlicher junger Mann, Gromgen, und Ihre Gesellschaft ist mir sehr angenehm und eine Freude. Aber warten Sie, bis wir auf Emhold sind, und Sie werden mich so erleben, wie man Zauberer kennt. «

»Woran liegt das?«, wollte Gromgen wissen.

»An der Geschichte und der Gesellschaft«, antwortete Kelric, »und an der Last, die wir tragen müssen.«



Schloss Emhold war das reinste Flickwerk: In der Mitte stand ein gewaltiges Haupthaus, das viele kleinere Bauwerke und Türmchen schachtelartig umdrängten; die Gänge waren schmal und labyrinthisch angelegt, die Zimmer jedoch hell und gemütlich.

Die schwer bewaffneten Wachposten ließen den Zauberer und den jungen Barden in seiner Begleitung sofort durch; eine der angenehmen Nebensächlichkeiten, mit denen Kelric sich lange Auseinandersetzungen ersparte. Man erkannte ihn überall als Zauberer, und der oftmals bekannten Beschreibung nach auch als legendäre Persönlichkeit. Verschlossene Tore gab es für ihn nicht.

Der Thronsaal war als weitläufige Empfangshalle gestaltet, von der alle Gänge in die anderen, interessanteren Teile des Schlosses abzweigten. Gromgen Vogelsang schritt sogleich forsch auf den unscheinbaren Thron zu, der sich schüchtern im schlecht beleuchteten Teil der Halle hinter wuchtigen Säulen verbarg. Als der Barde dort niemanden vorfand, kehrte er ratlos um und prallte unversehens mit einem hochgewachsenen, jung wirkenden Mann zusammen, der in freundliche helle Gewänder gekleidet war.

»Ja, gibt's denn hier keine Diener?«, rief der Troubadur, nachdem er sich unter Verbeugungen für seine Tollpatschigkeit vielmals entschuldigt hatte. »Wir haben kaum gewagt, das Schloss zu betreten, so schwer bewacht ist es, und nun stehen wir in einer ganz leeren Halle ohne König und Diener, und da will doch wirklich Schüchternheit nach mir greifen, was mir sonst nie passiert.«

Der große Mann mit dem anziehend markanten Gesicht lächelte. »Es ist noch Frühstückszeit, mein Herr. Der König ist ein Langschläfer und liebt außerdem das höfische Getue nicht sehr. Schloss Emold ist eher ein landwirtschaftlicher Betrieb, wo Jedermann zupackt. Loïree ist nicht reich, aber es gibt viele Menschen, die satt werden wollen. Die Könige waren stets der Auffassung, dass Schmuck und Prunk nicht sättigen.«

»Oh«, sagte Gromgen niedergeschlagen, »da bin ich doch falsch. Ich bin ein Troubadur, der höfischen Glanz braucht. Überall spricht man von Emholds Reichtum ... «

»... den ihm seine Nachbarn neiden. O ja, Loïree ist reich an Bodenschätzen, aber arm an den Wohlgenüssen der Natur. Und die Gerüchte braucht der König, um ernstgenommen zu werden, denn wenn man wüsste, dass er arbeitet und sich als einzigen Luxus das lange Schlafen leistet ... «, unterbrach der Mann und drehte sich um, als er ein leises Lachen im Hintergrund hörte. Sein Gesicht nahm zunächst einen erstaunten Ausdruck an, als er noch jemanden hinzutreten sah, doch dann hellte sich seine Miene freudig auf, und er rief: »Lord Kelric, welche Freude!« Er packte die Hand des Zauberers, schüttelte sie herzlich und klopfte anschließend Gromgen lachend auf die Schulter, der beinahe ihn Ohnmacht fiel und vor lauter Verlegenheit seinen tiefsten Bückling vollführte und pausenlos Entschuldigungen murmelte.

»Aber, aber«, rief der König, »nun beruhigen Sie sich doch, junger Freund! Die Verlegenheit ist ganz auf meiner Seite – zum einen, weil ich mir diesen Scherz auf Ihre Kosten erlaubte, und zum anderen, weil ich mich bei Lord Kelric entschuldigen muss. Ja, wirklich! Bitte verzeiht das Verhalten dieses Wichtigtuers gestern in der Schänke! Er wollte sich wieder bei mir einschmeicheln, nachdem ich ihn wegen seines Trinkens schon mehrmals ermahnt und seinen Lohn gekürzt hatte. Er muss ein Gespräch mit meiner Tochter belauscht haben, in dem ich sagte, dass Ihr der geeignete Schutz für sie wärt und dass ich heute einen Wagen nach Euch schicken lassen wollte, denn Eure Anwesenheit ist natürlich längst bekannt. Er handelte in dummem Diensteifer und blamierte seinen König derart. Ihr sollt wissen, dass wir zwar eher bescheiden leben, aber gutes Benehmen keinesfalls für überflüssigen Luxus halten.«

Kelric schmunzelte. »Hoffentlich habt Ihr ihn nicht zu schwer bestraft, o König. Er hat es in der Tat nur gut gemeint, verträgt allerdings keinen Wein.«

»Er schämt sich auf den Feldern bei schwerer Arbeit. Lord Kelric, dass Ihr dennoch gekommen seid, macht mich sehr glücklich; ich überlegte schon verzweifelt, wie ich Euch dazu bewegen könnte, sich meinen Vorschlag trotz allem anzuhören.« Der König hob eine Hand. »Ihr glaubt gar nicht, wozu meine Berater mir rieten! Zu einer Beschwörung, ist das zu fassen?«

Gromgen und Emhold sahen den Zauberer erstaunt an, als dieser den Kopf in den Nacken warf und schallend lachte. Es war ein Lachen, wie man es noch nie, am wenigsten von einem Heiligen Wanderer, gehört hatte, das sich immer weiter fortsetzte in alle Räume des Schlosses und aus den Fenstern weit über die Frühlingsfelder schallte; es war so rein, klar und heiter, dass es Zugang fand zu den Herzen auch der verschlossensten Menschen und ihnen Trost und Zuversicht spendete, und plötzlich war ein Lachen in allen, und die Arbeit wurde fröhlich getan.

Kelric selbst schien vor seinem eigenen Ausbruch zu erschrecken; er tat einen Schritt nach rückwärts, verstummte und drehte sich um, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. Erst als er ganz zur Ruhe gekommen war, wandte er sich wieder den beiden Männern zu, die immer noch sprachlos dastanden und ihn fasziniert anstarrten.

»Lord Kelric der Große«, murmelte der König schließlich. »Ich beginne allmählich zu verstehen, weshalb Ihr selbst bei den Fremden Völkern eine Legende seid.«

»Hm«, machte Kelric und lächelte. »Es tut mir leid, ich weiß nicht, was in mich fuhr, so etwas ist noch nie über mich gekommen. Vielleicht liegt es an Euch und an der Stimmung Eures Schlosses, mein König, der mich zu diesem Gefühlsausbruch veranlasste, einen solchen ich ... ja, ich glaube, noch nie hatte.« Sie sahen sich einen Augenblick direkt in die Augen, und plötzlich fühlten sie das feste Band einer mystischen Verwandtschaft zwischen sich.

»Erlaubt mir eine Frage, Herr«, bat Kelric. »Nennt Ihr mir Euer Alter?«

Der König schien verwundert, antwortete jedoch: »Ich bin neunundvierzig.«

Kelric nickte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck.

»Na, so was!«, platzte Gromgen heraus. »Lord Kelric ist ganz genauso alt!«

»Tatsächlich?«, fragte Emhold erstaunt und schaute Kelric intensiv an. »Genau gleich ... «, murmelte er. »Seltsam ... «

»Keineswegs, erlauchter Herr«, sagte der Zauberer sanft. »Es fügt sich nur ein Bild zum anderen. Ganz allgemein: Glaubt Ihr an eine göttliche Fügung?«

Der König zögerte kurz. »Wie man es nimmt«, bekannte schließlich. »Ich glaube an unseren Gott Elwin und den gefangenen Ringwe, und auch an Oloïn den Gelben, weil sie existieren, ebenso wie wir, aber nicht daran, dass sie gewisse Dinge vorausplanen. Elwin ist zu schwach gegen Oloïn, und wir Menschen sind zu unwichtig.«

»Ihr dürft nicht vergessen, dass auch ein Gott unberechenbar ist, und Oloïn hasst uns, aus welchem Grund auch immer«, erwiderte Kelric.

»Vielleicht, weil er unsere Kraft fürchtet«, murmelte Gromgen. »Denn viel Finsternis ist in uns, obwohl unsere Vorfahren für das Licht kämpften.«

Kelric fuhr so schnell mit wetterleuchtenden Augen zu dem Sänger herum, dass der voller Schrecken einige Schritte zurückstolperte, gleich darauf jedoch im Bann des Zauberers erstarrte. Erst nach einiger Zeit ließ Kelric ihn wieder los.

»Dachte ich es mir doch«, sagte er streng. »Er war in Laïre.«

»Ich war krank ...«, begann Gromgen hochrot.

»Das ist keine Entschuldigung für Herumschnüffeln!«, unterbrach Kelric ihn scharf; dann fuhr er milder fort: »Ich verurteile nicht Ihre Wissbegier, aber Sie hätten auch die Zauberer um Auskunft fragen können, anstatt heimlich die Bibliothek zu durchstöbern.«

Der König, der wie der Sänger erschrocken war, mischte sich kurz ein und bat vermittelnd darum, die Auseinandersetzung bei einer ungestörten Mahlzeit fortzusetzen, um die Situation zu entschärfen. Gromgen erzählte dann schüchtern und zögernd, dass er sich vor Jahren im Nebelgebirge hoffnungslos verirrt hatte, nachdem er verwundet und krank vor einem finsteren Heer aus den Blutbergen geflohen war. Ein freundlicher Zauberer fand ihn und brachte ihn nach Laïre, da er eine ansteckende, gefährliche Krankheit vermutete, und pflegte ihn gesund. Gromgen wusste, dass er Laïre bald verlassen musste, und konnte seine Neugier nicht bezähmen; er hatte bisher nie darüber gesprochen, was er gelesen hatte, und auch nie erzählt, dass er in Laïre gewesen war.

»Ihr Glück. Sie sind nicht erwischt worden, oder?«

»Nein.«

»Ich dachte es mir. Sie hätten Laïre nie mehr verlassen.«

Der König, der aufmerksam zuhörte, fragte: »Ist das denn wirklich so schlimm?«

Kelric nickte ernst, fast düster. »Es ist ein Tabu. Kein Außenstehender darf Laïre je betreten. Gromgen war eine seltene, wenn nicht die erste Ausnahme überhaupt. Unsere Gesetze sind streng und heilig, und das Wissen ist nicht für Uneingeweihte bestimmt. Es gibt gute Gründe für all das, und sie dienen nur dem Schutz der Menschen. Bedauerlicherweise muss nun ein Schutzbefohlener unter der Nachlässigkeit eines meiner Brüder leiden, und das verärgert mich. Aber um es nicht noch zu verschlimmern, werde ich nicht weiter nachfragen, sondern die Sache auf sich beruhen lassen.« Er griff unter seinen Überwurf und zog aus einer verborgenen Tasche eine Kapsel hervor, die er öffnete und aus der er ein rotes Pulver in Gromgens gefülltes Teeglas leerte. »Sie trinken das jetzt«, sprach er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Es wirkt schnell. Sie werden vergessen, dass Sie in Laïre waren. Es tut mir leid, aber ich habe keine andere Wahl, Sie zum Schweigen zu bringen. Seien Sie ein braver Junge und widersetzen Sie sich nicht.«

Gromgen war so eingeschüchtert, dass er nur einen leisen Protest wagte und dann hastig nach dem Glas griff, als Kelric das Löwenhaupt hob und den freundlichen Schleier von den blauen Augen zog.

»Grausam«, beurteilte der König den Vorfall; er wagte dies allerdings auch nur, weil er der König war.

Kelric nickte. »Alle Gesetze von Laïre sind grausam«, sagte er ruhig. »Deshalb sollen Außenstehende auch nie die Wahrheit erfahren. Solange Laïre unangreifbar ist, sind die Menschen geschützt, daran solltet Ihr denken.«

»Ist es wirklich so notwendig?«, hakte Emhold nach.

Kelric schaute ihn an, und der König zuckte zusammen, als er die unverhüllte, so schmerzliche Trauer in den sanften Augen sah. »O Herr«, sagte Kelric leise, »bitte fragt nie wieder. Ich will Euch Antwort auf jede Frage geben, doch was Laïre betrifft, bitte ich Euch, nicht mehr davon zu sprechen.«

Dann wandte er sich an den Troubadur, der ganz bleich und eingeschrumpft auf seinem Stuhl saß. »Sie verwechselten uns. Die Finsternis in uns erwuchs erst durch die jahrtausendelangen Kämpfe gegen unsere Feinde. Unsere Ahnen trugen sie nicht in sich. Aber es gibt noch eine Rasse, die Menschheit heißt und sie wurde lange nach uns erst von Göttern erschaffen. Man nennt sie die Zweite Menschheit. Es ist eine zwiespältige Rasse, die Gut und Böse gleichermaßen in sich vereint, die wie wir relativ magieunbegabt und kurzlebig ist, jedoch ungeheuer zäh, ausdauernd und listig. Wir gleichen uns in vielem, nur wurden wir im Gegensatz zu ihnen nicht von Göttern erschaffen und sind weniger zwiespältig. Unsere Rasse gibt es nur auf wenigen Welten, wenn überhaupt noch außerhalb von Lerranee; sie aber leben auf vielen Welten, von Göttern immer wieder als echtes und reines weltliches Leben neu erschaffen.«

»Davon hörte ich noch nie ...«, stieß Gromgen hervor. »Und ich bin eigentlich stolz auf meine Bildung.«

»Dieses Wissen erhielten wir von Féamar dem Drachenbezwinger«, erklärte Kelric, »vor sehr langer Zeit, und es blieb bis heute erhalten. Er war ein direkter Nachkomme einer der Gründer.«

»Wunderbar ... «, flüsterte der König. »Euer Wissen muss ungeheuer groß sein ... «

Kelric lächelte müde und traurig. »Es ging trotzdem mit den Jahren viel verloren, als die Wulfen uns überfielen und der Große Brand ausbrach, aber noch heute gibt es so viel zu lernen ... dieses universelle Wissen kann uns eines Tages vielleicht dabei helfen, die Zustände zu ändern. Vielleicht.«

»Muss ich die Geschichte vergessen?«, fragte der König besorgt.

Kelric schüttelte den Kopf. »Diese nicht.«

Gromgen fragte kläglich: »Wie ist das, wenn man vergisst?«

Kelric blickte ihn an, seltsam schmunzelnd. »Was haben Sie denn vergessen?«

Der Troubadur überlegte angestrengt und blickte dann erstaunt. »Nichts«, sagte er irritiert. »Jetzt habe ich doch tatsächlich vergessen, was ich vergessen habe. Ich weiß gar nicht mehr, worum es ging. Worüber spracht Ihr doch gerade, Lord Kelric?«

»Ich sprach über die zweite Menschenrasse, junger unaufmerksamer Freund, aber es war nicht so wichtig. Ich erzähle es Ihnen später noch einmal.«

Der König grinste, während er den verwirrten Sänger beobachtete, und sprach dann: »Herr Troubadur, wenn Ihre Kunst so groß ist wie Ihr Name berühmt, so werde ich Ihnen eine reichlich bezahlte Stelle geben.«

Gromgens Augen leuchteten freudig auf. »Ihr werdet es sicher nicht bereuen, Herr!«, rief er aus.

»Sehen Sie«, fuhr Emhold fort, »vor wenigen Tagen erst hat mir meine liebreizende Gattin ein Söhnchen geboren, den heißersehnten Thronerben. Das Kerlchen ist stramm und kräftig, aber sie liegt seither schwach darnieder und ist plötzlich so schwermütig geworden. Ich weiß, wie sehr sie die Musik liebt, und hoffe, dass Ihr Gesang sie aufheitern wird und gesund macht. Ich werde einen Diener rufen, der Sie zu meiner Frau bringt.«

Gromgen Vogelsang sprang auf und verbeugte sich tief. »O Herr«, sagte er begeistert, »es wird mir eine Ehre und Freude sein, Eurer Königin dienen zu dürfen!«

Der König sah ihm lächelnd nach; erst als er mit Kelric allein war, erstarrte seine Miene in Kummer.

Der Zauberer beugte sich vor und legte eine Hand auf des Königs Arm. »Sie ist todkrank«, sagte er mitfühlend. »Warum habt Ihr nichts davon gesagt, Emhold?«

Der König blickte ihn mit den Augen eines verwundeten Tieres an. »Könnt Ihr Geisteskrankheit heilen?«, flüsterte er. »Vor mehr als dreißig Jahren, als ich achtzehn war, habe ich sie geheiratet. Ein Zauberer war damals am Hof, der mir sagte, was sie bedroht. Es würde wenige Wochen dauern, sagte er, und begänne mit körperlicher Schwäche und endete in Geistesverwirrung und Tod.« Er rieb sich die Augen. »Es tröstet mich nur, dass sie nicht leiden wird. Der Zauberer sagte, dass es etwas sehr Seltenes und nicht vererbbar sei.«

»Aha«, sagte Kelric langsam. »Und er hieß Melwin.«

Der König nickte. »Er besuchte mich vor acht Jahren das letzte Mal. Ich hörte seither nichts mehr von ihm. Er ist mir ein lieber und guter Freund.«

»Er erweckte das Lachen in mir«, flüsterte Kelric. »Daher die Vertrautheit zwischen uns ... er wusste um unsere Verwandtschaft, woher auch immer, und schuf dieses Band, damit wir einander erkannten.«

Der König war blass geworden. »Kelric«, fragte er stockend, »glaubt Ihr ... glaubt Ihr, dass wir Brüder sind?«

Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Verwandt, ja. Aber keine Brüder, nicht leibliche. Es ist so ähnlich wie bei Melwin, eine mystische Verbindung, die in ihm stärker lebt, er ist älter als wir und kommt aus Lindala, wo alle Fäden zusammenlaufen. – Nein, schweigt!«, rief er hastig, als er den König zum Sprechen ansetzen sah. »Sprecht diesen Namen nicht aus, ich bitte Euch!« Er erhob sich und wanderte nachdenklich auf und ab. »Melwin war ein Jahr nach meiner Ersten Prüfung bei Euch. Woher kommt Eure Frau?«

Emhold war plötzlich verlegen. »Ich weiß es selbst nicht«, gestand er. »Ich traf sie im Wald und lief hinter ihr her, und ich nannte sie Waldfee und bat sie, bis sie stehen blieb. Immer wieder fragte ich sie, wer sie sei, doch sie lachte nur, sie sei nun meine Waldfee, ich hätte selbst gewählt. Und weil sie mich ebenso liebte, wie ich sie, heirateten wir, und – Kelric, was ist mit Euch?«, rief der König erschrocken und sprang auf, als er den Zauberer wanken sah.

»Eure Frau ... wie heißt sie?«, fragte Kelric heiser.

»Talanee«, antwortete Elmhold.

Kelric seufzte leise. »Talanee bedeutet Himmelstochter«, flüsterte er. »In Eurem Dialekt. Es gibt noch zwei Dialekte, in denen Himmelstochter Rialda und Lydia heißt ... meine und Melwins Mutter.«

»Heiliger Fluss der Seelen, nein!«, rief Emhold sehr erschrocken. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

Kelric ergriff seine Arme. »Emhold, diese drei Frauen sind Menschen wie Ihr und ich, aber ihre Namen bedeuten eine Prophezeiung, eine Botschaft Elwins, die selbst unter Zauberern nahezu unbekannt ist. Es klärt das Band und die Verwandtschaft zwischen uns allen ... nur besteht da noch eine Verbindung, die Melwin erkannte ... aber welche?« Er schüttelte den Kopf und verschränkte grübelnd die Hände ineinander.

Der König stand blass und aufrecht neben ihm, dann sprach er langsam, fast mühsam: »Ich glaube, da kann ich Euch helfen. Fällt Euch nicht auf, dass ich kein Zauberer bin?«

Kelric hob den Kopf, Erstaunen in den Augen, weil er selbst bisher nicht darauf gekommen war.

Emhold fuhr fort: »Aber meine Tochter ... meine Tochter Gorwyna kann Gedanken lesen.«