Prüfung
Kelric hatte sein Wissen bewiesen. Die Fragen waren ohnehin viel zu leicht gewesen, fand er; seine anfängliche Aufregung hatte sich schnell gelegt, als die Prüfer ihn freundlich anlächelten und ihm beruhigende Worte zusprachen. Er befand sich in einem kleinen holzvertäfelten Raum in dem düsteren Kellergewölbe unter den Hauptgebäuden der Schule; in dem Zimmer gab es nur zwei nebeneinander gestellte Tische mit den Stühlen der Prüfer dahinter; der Prüfling stand davor und gab sein theoretisches Können preis. Die Tafel durfte er benutzen, aber Kelric verschwendete keinen Blick auf sie, sondern beantwortete mühelos und ohne langes Nachdenken alle Fragen, anfangs ein wenig zittrig, später ruhig und sicher. Danach erhoben sich die Prüfer, kamen um den Tisch herum und schüttelten ihm gratulierend die Hand, bevor sie sich zurückzogen und ihn allein ließen.
Kelric musste einige Zeit unruhig warten. Als er vorsichtig seine Gedankenfühler ausstreckte, erhielt er einen so heftigen Abwehrschlag des schon einmal erlebten alten Zaubers, dass er sich verstört und verschüchtert zurückzog. Schließlich kam ein Mann, den Kelric noch nie gesehen hatte; seine gedrungene, aufgeschwemmte Figur und die bleiche Haut verrieten, dass er sehr selten am hellen Tageslicht weilte.
»Kelric von Loïree«, sprach der Mann mit getragener, feierlicher Stimme, »du hast die Prüfung zum Zauberanwärter glänzend bestanden. Der schwerste Test jedoch liegt noch vor dir, und es ist deine Entscheidung, ob du den Weg beschreiten willst. Hier an dieser Stelle kannst du noch umkehren und ein anderes Leben führen, doch wenn du mir nun folgen willst, so wisse, dass du danach nie mehr dir selbst gehören wirst, sondern nach bestandener Zaubererprüfung den Menschen dienen und die geheimen Gesetze von Laïre einhalten musst. Was nun geschieht, verlangt strengste Geheimhaltung. Nur ein einziges Wort über dieses Gewölbe wäre schon dein Todesurteil.
Kelric von Loïree, ich frage dich zum zweiten Mal: Bist du bereit, mit mir zu gehen und den schweren Preis für deine Freiheit zu zahlen?«
Kelric spürte, wie würgende Angst ihm die Kehle umschloss. Wenn er nur wüsste, was ihn erwartete! Hatte er wirklich genug darüber nachgedacht? Wusste er, was er tat?
»Dies ist ein endgültiger Schritt«, fuhr der Mann fort. »Du kannst den Entschluss nie mehr ändern. Folgst du mir nun, wirst du für immer ein Diener Laïres und der Menschheit sein. Du bist dann ein Zauberer und damit über die meisten Völker erhaben, doch du darfst deine Macht niemals missbrauchen. Und du darfst niemals offenbaren, was hier geschieht. Dies ist das erste und einzige Tabu, das dir auferlegt wird, und zwar für immer.
Kelric von Loïree, ich frage dich zum dritten Mal: Willst du den endgültigen Schritt gehen?«
Plötzlich fiel alle Last von Kelric ab. Natürlich wollte er es, all die Jahre über hatte er genau darauf hingearbeitet, hatte gelernt und studiert, um eines Tages seinen Schwur zu erfüllen: Lerranee von dem Fluch des Gelben Gottes zu befreien. Und er dachte daran, dass ohne Ausnahme alle anderen vor ihm denselben Weg ohne Feigheit gegangen waren, und so sagte er ruhig:
»Ja, ich bin bereit.«
Der Mann nickte und trat mit einer dicken schwarzen Binde vor ihn hin, die er ihm über die Augen legte.
Kelric verzog missmutig das Gesicht. »Muss das sein?«, fragte er ungehalten.
»Ja, es ist meine Pflicht«, erwiderte der Mann, nahm ihn sanft am Arm und führte ihn durch viele verborgene Gänge, Stufen hinab und hinauf und wieder hinab, immer tiefer, bis Kelric in der Kühle zu frösteln begann. Schließlich hörte er, wie der Mann eine Tür öffnete und ihn in einen überraschend warmen Raum brachte, in dem der Rauchgeruch vieler Fackeln die Luft schwängerte.
»Wo bin ich?«, fragte Kelric laut und tastete nach der Augenbinde. Der Mann hinderte ihn behutsam daran und antwortete feierlich und nunmehr förmlich: »In Eurem Ruheraum für die nächste Zeit. Ihr werdet kurz schlafen. Wenn Ihr erwacht, ist alles geschehen.«
Kelric öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als er einen Schwamm zwischen den Zähnen fühlte, den der Mann ausdrückte. Eine scharfe, bittere Flüssigkeit rann ihm die Kehle hinunter, er verschluckte sich und hustete.
»Was soll das?«, rief er wütend. Sein Führer zog ihn schweigend zu einem Bett und drückte ihn darauf nieder. Im Niedersinken merkte Kelric, wie ihm schwindlig wurde, und er lallte verblüfft: »Ssie hhaben mir ein Bberuhigungsmittel gegeben ... wwas ...«
»Still!«, flüsterte der Mann, während er Kelric, der sich mit fahrigen Bewegungen wehren wollte, rasch und geschickt vollständig entkleidete und ihn sanft, aber nachdrücklich zwang, ruhig zu liegen. Kelrics Kopf wurde immer schwerer, die Zunge erschien ihm dick und angeschwollen und erschwerte die Atmung; die Glieder waren wie Blei, und er fühlte kaum noch das Bett unter sich. »Seltsam ... «, murmelte er; eine furchtbare Ahnung schoss ihm schnell wie ein Blitz durch den vernebelten Verstand und erhellte ihn kurz, aber dann schob sich matte Schläfrigkeit über das Denken, und Dunkelheit legte sich über die Augen, und er konnte nichts erkennen, obwohl ihm die Binde abgenommen wurde. Er versuchte zu sprechen, aber weder Mund noch Stimmbänder gehorchten ihm, und er fühlte lähmende Zufriedenheit. Von weiter, wattiger Ferne vernahm er undeutlich Geräusche und Stimmen, da waren auf einmal noch andere hinzugekommen, die etwas mit ihm taten.
Und dann erhellte plötzlich eine grelle Explosion in seinem Kopf die betäubten Gedanken, und in einer übermenschlichen Anstrengung bäumte er sich auf und stemmte sich gegen die Hände, die ihn festhielten; wie ein Rasender wand und drehte er sich, während ihm der fürchterliche Schmerz glühende Speere durch den Körper jagte, sich in seinen Lenden konzentrierte, indes heißes Blut seine Beine überströmte, und mit schriller, schmerzgepeinigter, überschnappender Stimme schrie er seine Not hinaus, als er begriff, was beinahe noch schlimmer als die Qual war, dass es seine Männlichkeit war, die sie ihm nahmen, damit er niemals Samen haben sollte, um neues Leben zu zeugen.
Stunden, vielleicht Tage wand Kelric sich in seinem Bett in Schmerzen und Fieber, in Wahn und Phantasien; nur ein einziger Gedanke hämmerte pausenlos in grausamer, leuchtender Schärfe in ihm: Ich bin kein Mann mehr, nie wieder ...
Er wütete wie ein Besessener, so dass sie ihn im Bett festschnallen mussten; er hörte weder ihre beruhigenden Worte noch sah er die besorgten Gesichter; sie mussten ihn zwingen, breiige Nahrung zu sich zu nehmen und viermal am Tag ein höllisches Getränk zu schlucken, das ihm die Eingeweide ausbrannte. Zweimal am Tag wechselten sie die Bettwäsche und wuschen seinen schweißüberströmten fiebrigen Körper und hielten ihn fest, wenn er sich unter entsetzlichen Schmerzen entleeren musste. Er schrie eine ganze Woche, bis das Fieber endlich sank und die Wahnvorstellungen schwanden, die Wunde schloss sich, und er kam wieder zu sich.
Sie hatten ihn losgeschnallt, und er fand sich allein in dem warmen, mit vielen Fellen und Teppichen ausgelegten kleinen Felsengewölbe tief unter der Erde. Mit zitternder Hand streifte er die Decke zurück, schob die Verbände beiseite und sah an sich hinab, betrachtete das, was von seiner Männlichkeit noch übrig war. Wie alle gesunden jungen Männer war er sehr stolz darauf gewesen, auf jede Regung, die zeigte, dass er erwachsen war, ein vollwertiger Mann, der eine Familie gründen und einer Frau Lust bereiten konnte.
Er bedeckte sich wieder und sank ins Kissen zurück; zitternd und wimmernd lag er wie ein erbärmliches Häuflein Elend in dem weichen Bett; nahm kaum die Hände wahr, die ihn sanft aufrichteten und ihm den Becher an den Mund drückten. Gehorsam, mit geschlossenen Augen trank er, er wollte niemanden sehen, nie mehr.
»Trink!«, sagte da eine vertraute warme Stimme. »Bald wird es helfen.«
Kelric riss die Augen auf und starrte in Melwins schönes, trauriges Gesicht.
Mit einem Aufschrei umklammerte Kelric den Freund und drückte sich bebend und weinend an ihn.
»Melwin!«, schluchzte er. »Melwin, Melwin!«
Der Magier hielt ihn fest umarmt und strich ihm über den Kopf, auf dem bereits die ersten weißen Haare sichtbar wurden. »Ich weiß«, flüsterte er. »Ich weiß ja, Kelric.«
»Dass ... dass du hier bist ... «, stammelte Kelric tränenerstickt. Sein abgemagerter Körper zitterte vor Schwäche.
»Ich sagte es doch, Kelric«, erwiderte Melwin sanft. »Ich versprach dir einst, dass ich bei dir sein werde, wenn du mich brauchst.«
»Ich will sterben«, hauchte Kelric. »O Melwin, warum, warum nur?«
»Ein grausames Schicksal, verursacht von Oloïn, zwingt uns dazu«, erklärte Melwin leise. »Er konnte uns nicht vernichten, aber er ist stärker als Elwin, und sein Fluch verstümmelt uns. Aber eines ist dadurch wahr und perfekt geworden: Wir sind wahrhaftig unangreifbar, nicht erpressbar, nicht aggressiv, unablenkbar, unsere Sinne nur auf unsere Aufgabe gerichtet. Durch unsere Kastration sind wir nicht mehr fähig, tiefe, leidenschaftliche Gefühle zu empfinden, die uns von unserer Aufgabe ablenken können. Zum Teil jedenfalls. Angreifbar sind wir gewiss nicht mehr. Wir können mit niemandem eine enge Verbindung eingehen, denn mit diesem Entsetzen leben wir allein, und wer solchen Schmerz erlebt hat, der empfindet nie wieder Furcht vor Folter. Wir haben tausende Mittel versucht, aber keines betäubte so sehr, dass die jungen Männer nichts gespürt oder begriffen hätten. Oloïn will es so, er hasst uns, und wir können nichts dagegen tun. Wenn wir unsere Männlichkeit behalten wollen, verlieren wir die Zaubermacht. So müssen wir uns für die Menschen opfern. Die Menschen glauben an unser Zölibat und jene Gründe, die Lord Sargon einst deiner Mutter erklärte. Aber sie dürfen niemals die Wahrheit erfahren, denn die Folgen wären entsetzlich.«
Kelric wimmerte leise. »Aber warum jetzt? Und nicht als Kind?«
»Oloïn hat natürlich seine grausame Freude an unserem Schmerz. Darüber hinaus aber wäre die Wahrheit rasch bekannt, denn du hättest weder eine tiefe Stimme noch wärst du normal behaart. Bis auf die Potenz haben wir nichts von unserer Männlichkeit verloren.« Melwin ergriff Kelrics kalte Hände. »Dieses Getränk, das du ständig bekommst, ist die DROGE. Sie hilft dir, den seelischen Schock zu überstehen. Es wird nur jene, dir bald vertraute Trauer in dir zurückbleiben, und sie kann dir auch die Einsamkeit nicht nehmen, aber sie hilft sie zu ertragen. Sie wird dir Ruhe und die Magie schenken, und sie wird dir den Mund über der Wahrheit verschließen. Außerhalb dieser Heiligen Räume können wir nicht darüber reden. Dank der DROGE werden wir auch älter als normale Menschen, aber sie beschert uns einen grausamen Tod, denn die letzten beiden Lebensjahre wirkt sie zersetzend. Doch das ist jetzt nicht von Bedeutung, denn bis dahin hast du ein langes, gesundes Leben vor dir.«
Melwin drückte seine Hände fest. »Kelric, du wirst es schaffen. Alle schafften es, keiner hat jemals aufgegeben, und du bist sehr stark. Sobald die Wirkung der DROGE vollends einsetzt, wird sie dir alles erleichtern. Später wirst du verstehen, weshalb wir Zauberer diesen blutigen grausamen Preis zahlen: dafür werden die Menschen überleben, und ihnen gilt unsere Liebe. Es ist unsere Bestimmung.«
Kelric seufzte tief. »Ich werde hassen«, flüsterte er. »O Melwin, ich werde hassen wie nie zuvor, wenn ich Zauberer bin. Diesen Gott, dem mein ganzer Lebenskampf gilt. Ich werde Oloïn immer hassen können.« Er setzte sich auf. »Du bleibst doch da?«, flehte er. »Du verlässt mich nicht?«
»Natürlich nicht, kleiner Bruder.« Melwin schluckte kummervoll, als er das unheilvolle Feuer in Kelrics blaugesprenkelten Augen sah. »Das weißt du doch.«
Kelric weinte still an Melwins Schulter, bis er erschöpft einschlief.
Melwin ließ ein Lager in Kelrics Zimmer aufstellen. Sie blieben Tag und Nacht zusammen; während Kelric die ersten Schritte unternahm, stellte Melwin überrascht und nicht ohne Bewunderung fest: »Du bist mir ja über den Kopf gewachsen, und ich gelte schon als groß! Du liebe Zeit, da merkt man die sieben Jahre doch! Du bist jetzt wirklich ein erwachsener und noch dazu sehr gebildeter Mann, wie ich natürlich längst hörte. Ich bin sehr stolz auf dich.«
»Mann?«, fragte Kelric bitter und verachtungsvoll.
»Ja, Mann, Kelric. Glaubst du denn, die Potenz deiner Hoden allein macht einen Mann aus? O nein, da gehört viel mehr dazu! Oder würdest du mich als unmännlich bezeichnen?«
»Nein ... im Gegenteil ...«
»Siehst du, und auch du hast dir eine gehörige Portion Männlichkeit bewahrt. So, wie du aussiehst, sprichst und dich bewegst ...«
»Das ist kein Trost«, unterbrach ihn Kelric.
»Doch, und ob! Jetzt fühlst du dich betrogen und bestohlen, und du weißt, dass du etwas versäumst. Aber bald werden diese Dinge uninteressant für dich sein; bis auf eine bestimmte Art von Liebe mir, Laïre und den Menschen gegenüber wirst du nämlich kaum mehr heftige Empfindungen haben. Du wirst Mitleid, Trauer und Sorge kennen, aber keinen niederen verzehrenden Hass, rasenden Zorn, Unbeherrschtheit, blutrünstigen Rachedurst und Mordlust. Und das erhebt dich über alle anderen, und das ist es, worum sie dich beneiden.«
»Aber ich werde immer einsam sein und niemals ein Kind mein eigen nennen dürfen.«
»Ja, das ist entsetzlich und grausam und eine ewige Trauer in uns. Ohne die DROGE würden manche deswegen vielleicht wahnsinnig. Aber dafür erlebst du in deiner Hingabe an die Magie eine Ekstase, wie du sie im Liebesakt nie empfinden könntest, und das wiegt alles auf und macht dich unendlich reich und glücklich. «
»Woher willst du das so genau wissen?«, fragte Kelric scharf. »Hast du es denn erlebt?«
Melwin schwieg einen Augenblick und sah zu Boden, dann sagte er ruhig: »Ja.«
»Was ...«, begann Kelric verblüfft. »Was heißt ja?«
»Kelric.« Melwin sah ihn an. »Wann hast du das erste Mal eine Erektion gehabt? Eine richtige, meine ich?«
»Wie? Äh ... ich war dreizehn oder vierzehn, glaube ich.«
»Nun, siehst du?« Melwin blickte versonnen in die Ferne. »Als ich hierher kam, war ich vierzehn. Bis zu den Höhleneingängen war ich den ganzen Weg allein gewandert. Ich kam von Lindala in das Grau Land, und da ich ein Junge war, wurde ich überall gastfreundlich aufgenommen. Einmal lud mich eine junge Witwe zu sich ein, die vielleicht zehn Jahre älter war als ich. Sie war ätherisch zart und lieblich, und wir unterhielten uns gut. Sie gab mir Wein, der mir natürlich zu Kopf stieg, und plötzlich, ich wusste nicht wie, umarmte und küsste ich sie unbeholfen, und sie wehrte sich nicht, sondern erwiderte meine Ungeschicklichkeit mit erfahrener Zärtlichkeit, und wir teilten das Lager, und zwar die ganze Nacht.«
Kelric starrte Melwin an. »Und wie war es?«, flüsterte er neiderfüllt.
»Unvergleichlich«, antwortete Melwin. »Es sind Gefühle, die man nicht beschreiben kann. Die reine Wollust, wenn ich mich mal so ausdrücken darf. Aber in der Vereinigung mit der Magie fand ich mehr Erfüllung und Freude. Ich habe meinen Schritt nie bereuen müssen, und an den leisen Schmerz bin ich gewöhnt.«
Kelric setzte sich still hin.
»Verstehst du?«, fuhr Melwin fort. »Körperlich sind wir unwiederbringlich Krüppel. Aber geistig gesund zu bleiben, liegt an uns, denn die DROGE unterstützt uns. Im Gegensatz zu uns sind die magieunbegabten Menschen seelische Krüppel, denn sie kennen die Erfahrung der geistigen Ekstase nicht – und glaub mir, in diesem Augenblick reagiert selbst dein Körper.«
Kelric sah stumm zu ihm auf, aber zum ersten Mal lag Leben in seinen nunmehr blau gewordenen Augen.
Später erzählte Kelric von seinen letzten Jahren. Melwin hingegen wich seinen Fragen aus; Kelric respektierte schließlich die Schweigsamkeit des Freundes und hakte nicht weiter nach. Dank Melwins Hilfe erholte er sich schnell und konnte bereits nach einer Sternenwanderung als gesund betrachtet werden. Er erkundigte sich nach seinen Freunden, die mit ihm die Prüfung abgelegt hatten, und erfuhr, dass sie alle noch eine weitere Sternenwanderung brauchen würden. Obwohl er darum bat, durfte er niemanden besuchen. Er streifte nun an manchen Tagen allein in den Gewölben umher, erkundete sie und unterhielt sich mit den Menschen, die freiwillig hier unten lebten und alle von besonderer Stille und Ernsthaftigkeit waren. So fand er sich eines Tages plötzlich allein in seinem Raum, das zweite Bett fehlte, und er erkundigte sich erschrocken, wo Melwin geblieben sei. Der angesprochene Mann lächelte.
»Er ist zum Lordmeister gegangen, Herr«, antwortete er. »Er wird Lord.«
Wenige Tage später stand Kelric vor einem mannshohen Spiegel und betrachtete sich neugierig, zum ersten Mal seit seinem Gang hier herunter, von oben bis unten. Ohne Selbstüberschätzung konnte er von sich behaupten, gutaussehend zu sein – er besaß zwar nicht Melwins aristokratische Schönheit, denn dazu waren seine Züge zu bäuerlich, von den Bergen geprägt; aber sein Antlitz war ebenmäßig, wie aus Marmor gemeißelt, und weder zu grob noch zu fein; sein Körper war hochgewachsen, schlank und muskulös, die Haut bronzefarben wie bei jedem Zauberer, die langen Haare nunmehr schneeweiß, die einst so dunklen Augen strahlten in einem tiefblauen mystischen Feuer. Er entdeckte Lebensfreude in seinem Blick, aber auch jene verhüllte Trauer, die sein Wissen zeigte.
Tief in Grübeleien versunken, über sein neues Leben nachdenkend, kehrte er an die Oberfläche von Laïre zurück und umarmte Fandor, der ihn schon erwartete und vor Freude Tränen in den Augen hatte. Sie wussten alle, wie einsam sie nun waren, und das verband sie so stark miteinander, dass sie keine Augen mehr für das kindliche weltliche Leben hatten, denn sie teilten dasselbe Leid, und sie fanden Trost in der Zuneigung zueinander. Es war nicht nur ihr Aussehen, das sie von den kaum Jüngeren unterschied; ihr ganzes Denken, die Einstellung, vor allem aber das Wissen trennten sie von den noch unschuldigen Kindern.
Kelric verspürte kein Bedürfnis, mit den anderen Schülern zu sprechen. Er wollte zuerst sich selbst kennen lernen und mit den Freunden zusammen nacheinander die Vier Türme besteigen, um dort die Hohe Kunst der Magie zu erlernen.
Lordmeister Marbon und Lord Melwin beobachteten Kelric, als er mit stillem Ernst, aber mit demselben Eifer wie als Junge wieder ans Lernen ging.
»Er ist erwachsen geworden«, sagte Marbon.
Melwin sprach: »Er hat geschworen, den Zustand zu ändern. Sein Hass auf Oloïn ist so stark, dass er alles überdauern wird. Er schwor, lieber bis an sein Lebensende lernen zu müssen, als den Versuch der Abschaffung unseres Zölibats nicht unternommen zu haben.«
Marbon betrachtete den neuen Lord. »Er gehört zu Eurer Aufgabe, nicht wahr? Ihr wart es doch, der Kelric den Sehenden zu uns brachte.«
Melwin lächelte leise. »Eigentlich war es eher Fergon der Stille. Ich beschimpfte ihn als Ziegenhirten, er aber liebte mich vom ersten Augenblick an, und ich empfand bald wie er. Er ist mir verwandter, als es mein Bruder je war.«
»Er ist uns allen nahe«, erwiderte Marbon. »Um ihn, da gibt es für uns kein Geheimnis. Aber er fühlt, denkt und lebt intensiver, als wir es je könnten. Ich sehe immer noch große Leidenschaft in ihm. Seine Macht ist vielleicht nicht größer als die Eure, Lord Melwin, aber er kann Gedanken lesen, was keiner zuvor jemals konnte. Und ich glaube, er wird uns noch eine Menge Überraschungen bereiten, denn er ist anders als wir alle, selbst Ihr.«
Melwin nickte.
»Und siehe, wenn dieser Sehende gekommen ist, dann wird die göttliche Auseinandersetzung sich zuspitzen, und die Entscheidung wird fallen, und es wird ein neues Zeitalter anbrechen, aber keiner wird wissen, was dann geschieht, denn die Prophezeiung wird sich erfüllen, aber das Ende ist offen«, zitierte er langsam und bedächtig, und ein stilles, seltsames Schmunzeln schlich sich in seine wissenden Augen.