Koboldark


In Labron mussten sie drei Tage in einem Gasthaus verbringen, denn Kelric hatte durch die Aufregungen und in einem schweren Sturm Fieber bekommen und war zudem noch landkrank geworden. Er hatte keinen staunenden Blick für die Hafenstadt übrig und wurde vom Schiff direkt zum Gasthaus verfrachtet. Während Melwin auf dem Markt um gute Pferde, Vorräte und Decken handelte, blieb Fergon bei dem Jungen und lenkte ihn durch Erzählungen ab.

»Es war ein bisschen viel auf einmal«, sagte er freundlich. »Zuerst die Trennung von deiner Heimat, die weite See, der Sturm und nun diese große Stadt, so eng mit ihren vielen Häusern und so laut ... aber bald sind wir wieder in der Wildnis, und dann wirst du sehr schöne Landschaften sehen. Hafenstädte sind nie besonders anheimelnd.«

Kelric lächelte ein wenig kläglich. »Was wird uns in Koboldark erwarten?«, erkundigte er sich.

Fergon hob die Schultern. »Das kann ich nicht vorhersagen. Meistens bin ich unbehelligt geblieben, aber im Augenblick herrscht ein wenig Unruhe auf Lerranee, und man kann nie wissen, was geschieht.«

»Könnten ... könnten wir uns nicht einfach hindurchzaubern?«

»Leider nein, Kind, Zum einen würdest du ein herrliches Abenteuer versäumen, und zum anderen beherrschen wir die Ortsversetzungen nicht. Das können nur Echte Zauberer, so wie die Annatai.«

»Wer oder was ist denn das?«

»Annata ist eine sehr weit entfernte, uralte Welt. Die Wesen dort sehen so ähnlich aus wie wir, aber sie sind keine Menschen, und sie können andere Welten besuchen. Ihre Macht ist für uns unvorstellbar.«

»Oh. Woher wisst Ihr das?«

»Vor Äonen lebte einst Féamar der Große auf dieser Welt, ein mächtiger Zauberer, wie es bisher keinen mehr gab. Ihm allein gelang es, in den Blutbergen einen Drachen lebend zu fangen ...«

»Einen Dr...?! Igitt.«

»Es gibt nur wenige, und sie verlassen die Blutberge nur sehr selten. Der Drache, von dem ich sprach, winselte um seine Freiheit, denn diese Geschöpfe können keine Gefangenschaft ertragen und sterben, und so verlangte Féamar all sein Wissen als Lösegeld, und um ihn zur Wahrheit zu zwingen, versenkte er ein Bein in einer nahen Quecksilberquelle. Der Drache gab rasend vor Schmerz sein gesamtes Wissen preis. Da es damals noch keine Bücher, sondern nur mündliche Überlieferungen gab, ist viel davon verlorengegangen. Aber das Wissen von fernen Welten blieb uns erhalten. Niemand weiß mehr, wie Féamar es schaffte, einen Drachen zu fangen, aber dafür haben wir die Kenntnis erhalten, dass es unendlich viele Welten in Ishtrus Traum gibt, und eine davon ist Annata, von der jeder Drache weiß. Es ist eine sehr alte und sehr berühmte Welt.«

»War einer von ihnen je hier?«

»Nein, Kelric. Unsere Magie entstammt einem uralten Geschlecht, aber diese Geschichte wirst du in Laïre hören.«



Koboldark war ein blühender Traum von gewaltigen lichten Auwäldern und verspielten Tälern; die mächtigen Bäume besaßen helle, gefleckte Birkenstämme und ein weitausladendes starkes Gezweig, an dem neben den hellen Blättern das ganze Jahr hindurch, selbst im kurzen Winter, weiße Blüten und süße rote nahrhafte Früchte hingen. In den Wäldern wuchs kurzes dickes sattgrünes Gras, an dunkleren Stellen ein weicher Moosteppich, der blau blühte; es gab gewaltige Walderdbeer und Heidelbeerkolonien und Brombeersträucher, die skurrilen und wohlschmeckenden Tsangwurzelgehölze und wenige Nadelbeersträuche; in den romantischen Tälern mit hellem hohen Gras blühten die zauberhaftesten Blumen. Kelric konnte sich kaum mehr vor Begeisterung fassen; dieses Zauberreich war nahezu unbeschreiblich, und er konnte sich gut vorstellen, dass hier viele geheimnisvolle magische Völker lebten. Fergon erzählte von dem einen oder anderen Wesen, dem er in seiner langen Wanderungszeit begegnet war; aber zumeist ließen sie sich nicht blicken, denn sie vertrugen sich untereinander genauso wenig, wie sie Menschen mochten.

Kelric tobte jauchzend in der herrlichen Landschaft umher; er war froh, sich endlich frei bewegen zu können, außerdem fürchtete er sich immer noch vor den großen starken Pferden, die mit ihm machten, was sie wollten, seit sie gemerkt hatten, dass er nicht reiten konnte; und überdies wurde sein Sitzfleisch in den unbequemen harten Sätteln zu stark strapaziert. Nach der langen Einöde auf See konnte er sich an diesem Märchen gar nicht genug satt sehen; aus den Fabeln des Le-gendenerzählers kannte er solche Gebiete natürlich, aber er hatte nie recht an sie glauben können. Sein Heimweh war völlig verflogen, die Heimat hatte er schon beinahe vergessen, und in seinem kindlichen Herzen fühlte er sich als der Eroberer dieser Welt. Fergon schien sich über seine Ausgelassenheit zu freuen, denn er mäßigte das Tempo zu bequemem Schritt, was den schönen schneeweißen Rössern einerseits gefiel, weil sie so gemütlich im Gehen von dem einen oder anderen naschhaften Kräutlein nippen konnten, aber andererseits wären sie gern ein wenig herumgetollt, und sie bedachten den übermütigen Jungen mit neidvollen Blicken.

Nach einigen Stunden aber war Kelrics Ausdauer erschöpft, und er ließ sich müde ins Gras fallen. Fergon und Melwin unterhielten sich leise, während er schlief; und als er erwachte, zu neuen Taten aufgelegt, brachte der junge Zauberer die kleine Stute zu Kelric und hob ihn in den Sattel.

»Du kannst schließlich nicht die ganzen Tage laufen«, erklärte er. »Wir sind nur auf der Durchreise. Und darum lernst du jetzt reiten.«

Kelric musterte misstrauisch den hübschen Kopf der Stute, die sich mit aufleuchtenden Augen zu ihm umsah, und er zauste unbehaglich die weiße Mähne. »Ähem ... und wenn ich Angst habe?«, fragte er.

Melwin meinte freundlich: »Ich fürchte, dann geht sie mit dir durch.«

»Schöne Aussichten«, brummte Kelric. »Ich will wieder runter, bitte!«

»O nein, Kleiner, du bleibst oben! Du musst ihr nur zeigen, wer die Autorität hat und ihr Herr ist, dann ist sie brav wie ein Lämmchen. So, und nun los! Halte sie gut am Zügel und lass ihr nichts durchgehen; sie möchte gerne ein wenig galoppieren«, sagte Melwin bestimmend.

»Sie grinst ... sie grinst mich an!« behauptete Kelric erbleichend. »Hilfe, jetzt geht es los ... das schaukelt ja so, ich falle gleich!«

»Ganz ruhig!«, mahnte Melwin. »Ganz ruhig!«

Kelric lächelte kläglich, während die Stute langsam lostrabte, und versuchte, Melwins Anweisungen durchzuführen; einige Zeit klappte es in verbissener Konzentration ganz gut, bis er einmal nicht aufpasste. Das Pferd machte sofort einen Bocksprung und ging durch, als Kelric einen schrillen Entsetzensschrei ausstieß; wenige Augenblicke später lag er im weichen Gras. Melwin lief eilig zu ihm und tastete ihn ab; als er sah, dass dem Jungen nichts geschehen war, hob er ihn trotz seines verzweifelten Protestes sofort wieder in den Sattel und übersah mitleidlos die ver-schwimmenden Augen. Kelric fiel immer wieder hinunter, aber bevor er sich von dem Schrecken erholen konnte, saß er bereits wieder auf dem bockenden Tier. Alles Flehen und Bitten half nichts, Melwin gab weiterhin ungerührt und befehlsgewohnt ruhige Anweisungen; er hatte schnell be-merkt, dass Kelric richtig zu reagieren begann; nur hatte der Junge noch zuviel Angst, was das Pferd weidlich ausnutzte.

Als er das fünfte Mal am Boden lag, packte Kelric schließlich der Zorn, zuerst auf Melwin, der so gemein zu ihm war und überhaupt kein Mitleid hatte, und dann auf das Pferd, das ihn immer noch auslachte. Fergon lächelte, als er Kelrics verkniffenes Gesicht und die zornsprühenden dunklen Augen sah; der Junge wollte sich auch nicht von Melwin helfen lassen, sondern kämpfte sich schimpfend und äch-zend selbst hoch in den Sattel und presste die Schenkel zusammen. Melwin, der ein Schmunzeln kaum mehr verbergen konnte, rief ihm wieder die Befehle zu, und er führte sie genau aus. Die Stute gab nach einem schwachen Bocksprung und einem letzten wütenden Umherhopsen schließlich auf, und Kelric führte sie stolz und strahlend im Kreis herum.

»Na?«, rief Melwin. »Immer noch Angst?«

»Nein!«, lachte Kelric. »Jetzt ist es schön!«



In den nächsten Tagen hatte Kelric keine Zeit, auf seinen Muskelkater zu achten, denn er lernte richtig reiten, was ihm sehr viel Spaß machte, und außerdem war er mit der Beobachtung seiner Umwelt beschäftigt: Er entdeckte nun, vom kleinsten Krabbelkäfer angefangen, tausenderlei Tritte im weichen Boden, von denen viele aufregende Namen hatten, die ihm Fergon mit Vergnügen nannte. Mit der Zeit erblickte Kelric unzählige kleine Nager in den Bäumen, huschende Mäuse und Kaninchenartige am Boden, viele Rehwildarten und andere ihm unbekannte Bewohner der Wälder; einmal konnte er sogar die gewaltige Geweihspitze und das lange Ohr eines Riesenelks erhaschen; oftmals, vor allem in der Dämmerung, hörte er das Jaulen von Füchsen und das heisere Bellen von Waldkatzen; nur die ganz großen Raubtiere und die Wölfe sah und hörte er nie, worüber er allerdings nicht unglücklich war. Es gab nur wenige Stunden in der Nacht, in denen völlige Stille herrschte, denn die Vögel erwachten früh und schliefen spät ein; manche von ihnen, besonders die kleinwinzigen, waren so zutraulich, dass sie sich wie Schmetterlinge für kurze Zeit auf den Menschen oder den Pferden niederließen, fröhlich piepsten und sich putzten, bevor sie ihren Weg fortsetzten.

Einmal erschaute Kelric auf einem Ast dicht über sich ein ganz sonderbares Tier, etwa kaninchengroß mit wolligem schwarzblauen Fell und einem langen weißen Greifschwanz, mit vier kräftigen kurzen Beinen, einem runden Kopf mit hellblau-schwarzer Gesichtsmaske und einer schwarzen schnuppernden Knopfnase, mit großen Löffelohren, die zumeist lässig herabhingen, aber bei Neugier steil aufgestellt wurden – nämlich in diesem Moment, als große runde, violette Augen Kelric ruhig und interessiert musterten.

Der Junge starrte gespannt zu dem Wesen hinauf, das trotz seines putzigen Aussehens irgendwie Würde ausstrahlte, und das vor allem durch seine Augen faszinierte, denn in ihnen lag nicht die natürliche Wildheit und Klarheit eines Tieres, sondern sie waren sehr still und tief, von großer Sanftmut und – Wissen.

Der Baumbewohner verharrte nur einen winzigen Augenblick lang völlig reglos, während sich die Blicke der beiden verschiedenartigen Wesen trafen, dann machte das Tier eine leise, kaum merkliche Bewegung und war wie durch Zauberhand verschwunden, ohne dass ein Blatt raschelte oder sich auch nur bewegte.

»Was war das?«, flüsterte Kelric.

»Ein Wompet«, erklärte Melwin leise neben ihm. »Ein kluges, sehr scheues Tier, das uns Menschen liebt, denn es sucht häufig unsere Nähe oder warnt uns vor Gefahr mit einem schrillen Pfiff. Aber niemals kam es einem Menschen näher als uns jetzt. Wir wissen nichts über diese Geschöpfe, und woher der Name Wompet stammt, weiß keiner mehr.«

Fergon, der um sich gesehen hatte, sprach dazwischen:

»Ich bin dafür, das Nachtlager aufzuschlagen. Es ist spät, und die Pferde bedürfen einer Rast.«

»Wie lange brauchen wir noch?«

»Bis wir Hungerland erreichen? Etwa drei Tage. Siehst du den Südstern oben am Himmel aufblinken? Wenn der Alte Mann heute Nacht ganz nah bei ihm steht, haben wir die dritte Sternenwanderung seit Beginn der Reise hinter uns. Eine lange Zeit, aber dann geht es schneller.«

»Hungerland? (Schauder) Was ... äh ... was erwartet uns da?«

»Eine fahlbraune Kieselsteppe und Felsen. Ein hügeliges Karstland, unwegsam und steinig, mit einem höhlendurchzogenen Felsengebirge in der Mitte, aber da kommen wir nicht hin.«

»Und was lebt dort?«

Die Zauberer tauschten einen Blick miteinander. Zögernd antwortete Fergon: »Warte es ab, Junge! Alles zu seiner Zeit.«

Kelric schwieg, aber er spürte eine dunkle Wolke in seinem Verstand. Vorsichtig ließ er seinen Geist nach den Gedanken der Magier tasten, aber sie hatten es rasch gelernt, ihren Verstand vor seinem Zugriff verschlossen zu halten.



In der Nacht konnte Kelric nicht einschlafen. Ruhelos lag er auf dem Rücken und starrte mit weitgeöffneten Augen zu dem pechschwarzen Himmel hinauf, der aus unzähligen blitzenden kleinen Lichtern zu ihm herabzublinzeln schien. Gedanken wie Nebelschleier durchzogen seinen aufgewühlten Verstand, der Furcht vor dem empfand, was in ihm schlummerte und was vor ihm lag: ein Weg voller Gefahren und Bestimmungen. Er erinnerte sich wieder an Melwins Erzählung, in der der Alte Zauberer vorgekommen war, und wie jedes Mal überlief ihn der eiskalte Schauer eines schwarzen Grauens, wenn er daran dachte. Er hatte mehrmals versucht, von Melwin Auskunft über die Sagengestalt zu erhalten, aber der junge Zauberer war jedes Mal verschlossen, geradezu abweisend geworden. Kelric hatte einmal das Gefühl gehabt, in Melwins Augen den Spiegel eines verborgenen Schreckens zu sehen, ein Geheimnis, das nicht einmal Fergon kannte. Die Vorstellungen stürmten wie Nachtmahre auf ihn ein, und er spürte ihre Schatten neugierig um sich herumhuschen; er seufzte leise, weil er nichts verstehen konnte, und schickte seinen Geist in das schläfrige Land hinaus, dessen Schlummermelodie ihn in den Schlaf singen sollte ...

Und plötzlich fuhr er hoch. In einiger Entfernung war sein Geist auf ein fremdes Wesen geprallt, das irgendwo in Not war und litt und dessen Schmerz und schrille Angst ihn wie einen Schraubstock umklammerten.

Hilfehilfehilfehilfehilfe!!!

Was ... was ..., dachte er erschrocken. Wer ruft da?

Hilfehilfehilfehilfehilfe!!!

Was ist denn? Wo bist du? Antworte doch!

Auauauauau ... ahh ... hilfehilfehilfehilfe!!!

Kelric sprang verstört hoch und überlegte hastig, ob es nicht besser sei, Melwin und Fergon zu wecken, aber die immer dringlicher und greller werdenden Hilfeschreie übertönten jeglichen vernünftigen Gedanken, und kopflos wie ein aufgescheuchter Hase rannte der Junge in die Dunkelheit hinein, obwohl er die Richtung nicht wusste. Aber seine Beine trugen ihn mit schlafwandlerischer Sicherheit auf einen Wald zu, dem schreienden Wesen entgegen. Je näher er kam, desto peinigender fühlte Kelric Schmerz und Panik in sich, und er presste aufstöhnend die Hände an die Ohren, was alles noch verschlimmerte, denn nun hörte er seinen eigenen keuchenden Atem wie fauchendes Buschfeuer und sein Herz wie rasende Trommeln pochen. Er versuchte anzuhalten, um Luft zu schöpfen, aber wie magisch angezogen musste er weiterrennen, und es begann ihm in den Ohren zu rauschen und zu dröhnen, roter Nebel flimmerte ihm vor den aufgerissenen Augen, und er prallte mehr als einmal heftig gegen Bäume und stieß sich den Kopf blutig, dornige Büsche rissen ihm Arme und Beine auf, die Füße verfingen sich in verschlungenen Wurzeln und knickten schmerzhaft um.

Erschöpft und abgekämpft erreichte er endlich eine kleine Lichtung, und hier prasselten die Hilferufe wie spitze Hagelkörner auf seinen Verstand ein, so dass er nach Atem ringend stehen blieb und voller Schrecken auf eine primitive Tierfalle starrte, in deren scharfen dornigen Klammern ein Wompet im Todeskampf lag. Das Tier, das mit seinen starken Krallen den Boden aufgewühlt und moderndes Blattwerk zerfetzt hatte, lag still, als es den Jungen bemerkte, und blickte mit geweiteten, schmerzerfüllten Augen zu ihm auf.

Hilf mir! Bitte!

Du ... du hast geschrien?

Ja. Nur einen Augenblick habe ich nicht aufgepasst ... es zerquetscht meine Schulter.

Halt still, Kleines! Ich befreie dich.

Kelric kniete bei dem Wompet nieder und versuchte die Klammern auseinander zu drücken. Die Anstrengung trieb ihm das Wasser in die Augen, und er verspürte ein schreckliches Stechen in der Brust.

Ich schaffe es nicht.

Du musst! Drück sie nur ein wenig auseinander ... dann schlüpfe ich hinaus.

Kelric presste die Lippen aufeinander und knirschte mit den Zähnen. »Ich kann es nicht!«, schluchzte er laut auf. »Ich bin zu klein und zu schwach!« Zitternd wischte er sich Schweiß und Blut von der Stirn.

Der Wompet sah still, mit einem seltsamen Ausdruck in den dunkelvioletten, sternspiegelnden Augen zu ihm auf. Lass nur. Es macht nichts. Ich danke dir, dass du gekommen bist. Erlöse mich!

Kelric starrte das kleine Wesen an, dann schüttelte er stumm und verbissen den Kopf und atmete tief durch, bevor er den letzten Versuch unternahm. Die Kraftanstrengung war so groß, dass ihm schwarz vor Augen wurde, alles drehte sich, und er kippte um.



Als er wieder zu sich kam, spürte er eine kleine zarte Zunge auf dem Gesicht. »He!«, fuhr er hoch. »Du bist frei?«

Der Wompet schien zu lächeln, als er leicht die Lefzen von den Zähnen zurückzog. Ja, Kelric. Du hast es geschafft. Du bist ein Held.

Kelric strahlte vor Freude. »Bist du sehr schwer verletzt?«

Nur ein wenig. Jetzt, da ich frei bin, werden die Wunden schnell heilen. Mein Name ist übrigens Wogryn.

Der Junge kratzte sich verblüfft die Nase. »Ihr Wompets seid wohl Zauberwesen?«, fragte er.

Ja, Kelric. Wir sind Tiere von ganz besonderer Art. Du bist der Erste, mit dem wir sprechen können. Auf ganz Lerranee beherrscht kein Mensch das Gedankenlesen, und mit anderen Völkern wollen wir nicht verkehren. Dank eines göttlichen Geschenks ist dir diese Gabe angeboren. Mein Onkel, den du heute Nachmittag trafst, erzählte uns von dir und deinem Wunsch, mit uns Freundschaft zu schließen. Ich schulde dir mein Leben und werde dich daher fortan begleiten.

»Wirklich?«, schrie Kelric begeistert.

Normalerweise hat ein Junge in seinem Alter eine kräftige, kaum zu übertönende Stimme; aber seine nächsten Worte gingen in einem ohrenbetäubenden Brüllen unter, und noch während er erschrocken hochfuhr, brach in den Büschen und Baumwipfeln um ihn herum die Hölle aus. Er schrie laut auf vor Angst, als mittelgroße, dichtbepelzte Geschöpfe mit furchterregenden dämonischen Tiermasken sich mit lautem Geschrei, wedelnden Armen und aneinanderschlagenden Jagdwaffen um ihn scharten.

Wewewer ist das?

Waldmenschen, Kelric. Sie legen die Fallen aus und sind jetzt entsprechend böse, weil du mich befreit hast. Sie sind nicht nur ungehobelte Wilde, sondern auch Kannibalen. Sie fressen praktisch alles, was sie erwischen. Wogryn stieß einen schrillen Pfiff aus. Flieh, Freund! Ich hole Hilfe!

Während Kelric kreischend in die eine Richtung davonstürzte, lenkte der Wompet die Waldmenschen ab und rannte entgegengesetzt davon; ein Teil der Truppe folgte ihm, der andere heftete sich an Kelrics Fersen.

Die Angst (Kannibalen! Ich will nicht gefressen werden!) verlieh Kelric Flügel, und er raste hakenschlagend und flinker als ein Reh vor den Verfolgern her, die ihn durch die Dunkelheit nur schwer ausmachen konnten und sich in ihrer Gier gegenseitig behinderten.

Der Junge allerdings stürmte kopflos immer tiefer in den Irrwald hinein und sah weder nach links noch nach rechts. Erst als ihm die Erkenntnis ins Bewusstsein drang, dass nichts mehr hinter ihm prasselte, sondern Stille um ihn war, hielt er schwitzend und schluchzend inne und stellte entsetzt fest, dass er sich hoffnungslos verlaufen hatte.

Es kann kein herzzerreißenderes Bild geben als einen verzweifelt weinenden kleinen Jungen, der ganz allein an der tiefsten Stelle eines großen, überall gleich aussehenden Waldes steht, an Leib und Seele zitternd, mit zerrissener Kleidung und vielen kleinen blutenden Wunden, das Gesichtchen von Schmutz und Tränen verschmiert, zu Tode erschöpft und niedergeschmettert durch die Erkenntnis, dass er nicht träumt.

Schluchzend und wimmernd tapste das Kind durch die fremde, feindliche Umgebung, die es mit einem eiskalten Hauch umwob, mit tausend leuchtenden Raubtieraugen durch die Finsternis beobachtete, mit gierig geifernden Rachen auf es wartete, in angespannter lauernder Haltung, bis es zusammenbräche und seine Zeit gekommen wäre.

In solch einer Verlorenheit mag auch in des Tapfersten Brust kein Heldenherz schlagen, und Kelric wurde immer winziger in der mächtigen schaurigen Unwirtlichkeit, in der er zwischen echten unheimlichen Geräuschen und schaudernder Einbildung nicht mehr unterscheiden konnte; sein Schritt wurde immer zaghafter, sein Stimmchen immer leiser.

Jeden Augenblick erwartete er, von Gespenstern oder anderen schrecklichen Unholden oder auch nur von wilden Tieren angefallen und zerfleischt zu werden; er zuckte unter jedem Rascheln zusammen und erschrak vor seinen eigenen Füßen. Schließlich erreichte er eine Lichtung, und ein lauter Seufzer entrang sich ihm, als er das vertraute Sternenlicht über sich sah; ein kleiner Hoffnungsschimmer in seiner verzweifelten Lage. Er wollte schon wieder ein wenig Mut fassen, als er bei dem tiefen Grollen vor sich erstarrte. Drei mächtige Schatten lösten sich aus Baumverstecken und näherten sich ihm in gebückter lauernder Haltung; die verschiedenen monströsen zusammengesetzten Raubtiermasken verliehen ihnen ein ungeheuerliches fratzenhaftes Aussehen. Im matten Sternenlicht sah Kelric, dass die Waldmenschen zwar dicht behaarte Körper hatten, aber darüber noch dicke Pelze von Bären und Katzen trugen. Aus den ausgefransten Mündern troff der Speichel, und die Augen funkelten durch die Maskenschlitze in gierigem Feuer. Kelric begriff, dass sie ihn lebend in ihr Lager bringen wollten, und überlegte sich, ob er noch fliehen konnte.

In diesem Augenblick begannen die Bäume im ganzen Umkreis zu pfeifen, und zwerghafte Wesen mit leuchtenden Augen schwangen sich schwirrend an Schlingpflanzen durch die Luft und schlugen im Vorbeisausen mit mächtigen Keulen gezielt auf die empfindlichen Hinterköpfe der Waldmenschen. Bevor deren Leiber dumpf auf den Boden prallten und Kelric einen Entsetzensschrei ausstoßen konnte, wurde er von drei, vier der Wesen gepackt, empor gerissen und im Lianenflug durch die Bäume entführt.

Kelric verschwamm die Umgebung vor Augen, und er verlor halb das Bewusstsein, bis er sich auf einem Plateau hoch über dem Erdboden auf einem riesigen Baumwipfel wiederfand und staunend auf eine hellerleuchtete, verschlungene Koboldstadt schaute; es gab etwa zehn solcher Bäume, die die doppelte Dicke und mehr Höhe als alle anderen hatten, die dicht nebeneinander standen und ideal Platz für eine ganze Siedlung boten. Unzählige Leitern und Brücken führten von Haus zu Haus und von Platz zu Platz, zum Erdboden hinunter und zu anderen Bäumen hinauf.

Die Kobolde waren nicht einmal einen Meter groß und von ziemlich magerer Statur mit überlangen Armen und lächerlich dünnen Beinen; die Gesichter, von einer wilden struppigen schwarzen Haarmähne umrahmt, waren klein und runzlig, mit Hakennasen und boshaft blinzelnden Augen. Sie trugen die unterschiedlichste Fellbekleidung und Stofffetzen, und sie besaßen als Waffen kleine Speere, Keulen und scharfe Messer. Alles in allem waren es ungehobelte hässliche Geschöpfe, und Kelric begriff schnell, dass er vom Regen in die Traufe gekommen war. Sie kreischten und lachten zu seiner Begrüßung, ziepten und zerrten ihn an den Haaren und piesackten ihn mit quietschendem Vergnügen. Sie wichen ein wenig zurück, als die lächerlichste Gestalt von allen erschien: der »Koboldmjin! Koboldmjin!«, wie sie schrien, mit einem weit schlabbernden, viel zu großen Umhang, den er wohl einmal einem Reisenden abgenommen hatte, und einem Zepter als Zeichen der Königswürde, einem ausgebleichten Knochen mit einem daran befestigten Rubin. Mit schnatternden Stimmen verbeugten sich die Untertanen mehrmals vor ihrem Herrn, der mit hoch erhobenem Kopf zwischen ihnen hindurchstelzte und Kelric mit zahnlosem Mund angrinste.

»Sieh da, sieh da, was für ein hübsches Kerlchen, ja, in der Tat!«, fistelte er mit hoher Stimme, und seine Untertanen begannen laut zu klatschen und Hochrufe auszustoßen.

Kelric musterte den Koboldmjin schweigend; er begriff schnell, dass er sich in sein Schicksal ergeben musste, wenn er die kleinen boshaften Geschöpfe nicht zu neuen Spielen reizen wollte. Der Mjin erklärte ihm nun, dass er als Dank für seine Rettung den Kobolden als Sklave zu dienen hatte, und er klärte ihn langsam Punkt für Punkt über seine Pflichten und Aufgaben auf und berichtete auch gleich die Strafen bei Befehlsverweigerung. Den lautesten Beifall erhielt sein letzter Vorschlag, doch gleich seinen guten Willen und seine Geschicklichkeit zu beweisen, indem er ihnen allen zur Feier seiner Ankunft das Essen auftragen solle.

»So seht ihr aus«, sprach eine kräftige tiefe Stimme ruhig dazwischen, und es trat verdutztes Schweigen ein; die runden Augen der Kobolde wurden noch kugeliger, als sie so spät erst der großen schlanken Gestalt hinter Kelric gewahr wurden; der Junge, der rasch herumfuhr, erkannte zu seiner unendlichen Erleichterung und Freude Melwin, wenn er auch ein wenig vor ihm erschrak, denn dies war nicht der fröhliche junge Mann, den er kannte, sondern ein großer und mächtiger Zauberer, von einer schimmernden Aura umgeben, ehrfurchtgebietend in seiner stolzen Haltung, der tiefblaue zornige Blick furchteinflößend; das edle Gesicht wurde von den zuckenden flackernden Flammen der Feuer schemenhaft beleuchtet und erschien so geheimnisvoller und gebietender. Die Kobolde waren vor Entsetzen erstarrt.

»Der Junge gehört mir«, erklärte Melwin in kaltem unerbittlichen Befehlston. »Gebt ihn mir!«

Der Koboldmjin faßte sich endlich und quietschte in tollkühnem Mut: »Aber dies ist Koboldark, unser Reich, und Ihr steht auf meinem heiligsten Besitz! Der Kleine gehört jetzt mir, jawohl!« Er raffte seine Mantelschleppe unordentlich zusammen und fuchtelte zur Bekräftigung seiner Worte mit seinem Zepter herum. »Ich kann Euch verhexen!«

»Mjin«, sagte Melwin sanft. »Ich wiederhole mich nicht gern.«

Der Kobold, der sicher wusste, dass er der Macht eines Heiligen Wanderers unterlegen war, drehte sich einmal um sich selbst, verknitterte sein Gesicht zu einem verhutzelten Blatt und begann laut zu plärren. »Aber ich will ihn haben!«, quäkte er. Die anderen Kobolde brachen in Tränen aus, als sie den Kummer ihres Königs sahen.

»Es nutzt nichts«, fuhr Melwin gleichbleibend ruhig fort.

Der Mjin wandelte bereits wieder seine Stimmung zu einem letzten Versuch. »Nutzt nichts! Nutzt nichts!«, kreischte er wütend. »Da könnte jeder daherkommen und mich herumkommandieren! Wer seid Ihr denn überhaupt, Ihr?«

Melwin begann zu lächeln. »Ich bin Melwin«, antwortete er.

Die Kobolde wurden so blass wie Gespenster, die sich selbst im Spiegel begegnen. »Me Melwin!«, ächzte der Koboldmjin, dann sprang er entsetzt in die Luft. »Hilfe, Hilfe, Melwin!«, schrie er und versuchte seinen Mantel zur Flucht zusammenzuraffen, aber er verfing sich im Lauf und fiel der Länge nach hin. Die anderen Kobolde stoben voller Schrecken in alle Richtungen davon. Melwin lachte leise, hob die Arme und sagte einen Spruch: Es erschienen vier winzige Leuchtgeister mit blitzgeladenen Besen in den Händen, die hinter den kreischenden Kobolden herjagten.

Kelric sprang auf und warf sich weinend in Melwins Arme. »Ich ha ha hab mich verlaufen!«, heulte er. »Und ich ha-ha-hatte solche Angst!«

Der junge Zauberer drückte ihn fest an sich, streichelte das dunkle Haar, küsste das zerkratzte und verschmierte Gesicht und betrachtete bewundernd die mächtige Beule auf der Stirn.

»Ich weiß«, sagte er leise und zärtlich. »Aber jetzt ist ja alles gut. Was glaubst du, was ich für Angst hatte, bis ich dich endlich fand! Du bist ein tapferer kleiner Kerl, Kelric. Dein Wompet schrie uns aus dem Schlaf und beschrieb durch viele Gesten, was geschehen war. Der ganze Wald ist in Aufruhr deinetwegen, darum konnte ich dich überhaupt finden. Das Tierchen ist in Sicherheit bei Fergon im Lager, und da gehen wir jetzt auch hin. Komm, ich trage dich.«

Kelric umklammerte Melwins Hals und schmiegte sich an seine Schulter. »Du bist aber stark, Melwin«, murmelte er schläfrig.

Der Mann lachte leise. »Du auch, kleiner Bruder«, flüsterte er. »Du auch.«

Vorsichtig stieg er den Baum hinab, das Kind fest in den Armen haltend, und lief rasch und leichtfüßig in die Dunkelheit davon.