Ankunft in Laïre


Die Zaubererschule war ein aus vielen einzelnen großen und kleinen Gebäuden bestehender riesiger Komplex, der durch unzählige offene Säulenwandelgänge untereinander verbunden war. Es gab viele Innenhöfe mit exotischen Pflanzen und besonderen Vogelarten, wie sie nur im Süden vorkommen; beinahe eine eigene kleine Welt für sich bildeten die aneinanderliegenden Gemüse, Wein und Obstgärten und die Tierzüchtungen. Viele alte Zauberer und jene, deren Begabung nicht so stark war, sowie besonders sorgfältig ausgewählte Menschen aus dem Grau Land besorgten die Wirtschaft. Stoffe und alle häuslichen Einrichtungsgegenstände bis auf wenige spezielle Ausnahmen wurden selbst hergestellt. Vier hohe Türme standen an den Kanten der Außengebäude in alle vier Himmelsrichtungen; wollte man von einem Turm zum nächsten gelangen, musste man schon tüchtig ausschreiten, um nicht länger als eine Stunde zu brauchen. Diese Türme waren nur für Zauberer zugänglich; in ihnen wurde den jungen Männern das Besondere Wissen bis zur zweiten Prüfung vermittelt, ehe sie in die Bruderschaft aufgenommen waren. Kelrics Begeisterung und frohe Erwartung wuchsen mit jedem Schritt, den er der Schule näher kam. Schon längst hatte er festgestellt, dass dieses Land anders war als alle Gebiete von Lerranee: Hier lag kein Zauber in der Luft, sondern das Reich selbst lebte mit seinem eigenen Herzschlag; er spürte, wie er beobachtet, geradezu abgetastet worden war, bevor er ein herzliches Willkommen fühlte.

Die Schule war das Herz von Laïre und sein Gehirn. Mit unzähligen Augen war Kelrics Ankunft längst beobachtet worden; die Stadt, die wie ein gigantischer Rätselwächter in der Mitte des Tales lag, bemerkte alles, was sich ihr näherte; sie fühlte, ob es Freund war oder Feind, fremd oder vertraut, und sie begrüßte jeden auf eine andere, nur ihm bekannte Art. Kelric spürte mehrals Magie; ihm war, als hörte er das Pochen des Herzschlags, als sähe er das Heben und Senken der Atmung; es schien, als bewege er sich in einem riesigen Organismus, der unbesiegbar, von niemandem abhängig war und jeden, dem er das Eintreten erlaubte, zu einem Teil seines Selbst machte, ohne ihm die Persönlichkeit zu rauben.

Als hätte er seine Gedanken erraten, sprach Melwin: »Ja, dies ist unser Reich. Kein Fremdwesen wagte sich jemals hierher, kein Gott schüttete seinen Zorn hierüber aus. Laïre ist ein heiliger Ort, wahrscheinlich das freieste Land von Lerranee. Es wurde vor Jahrtausenden unter unsäglichen Mühen und Entbehrungen erbaut, und die Zauberer gaben einem jeden Stein ein eigenes Leben, und als sie starben, vereinten sie sich in Laïres Atem. Wir alle, die wir hier leben und erzogen werden, sind bereit, jeden Preis für seine Macht und seine Lebenserhaltung zu zahlen, ohne jemals dafür spüren zu müssen, dass dies ein Gefängnis sei. Laïre ist wir, und wir sind Laïre. Es ist ein Riese, der sehr langsam wächst in seiner Unsterblichkeit, aber eines Tages wird es der Herrscher von Lerranee sein, ein König, der dient.«

»Und auch ich«, murmelte Kelric völlig gefangen, »werde ein Teil davon sein. Ich bin stolz, wenn ich meinen Atem geben darf.«

Fergon sagte leise: »Nun bist du schon ein Teil von uns, Kelric, denn wir spüren bereits deinen Pulsschlag. Und wenn deine Ausbildung beendet ist, wirst du ein Teil von Laïre sein und sein warmes Blut in allen Gebieten der Welt in dir fühlen; es wird dir Kraft und Trost geben.«

»Lerranee liegt vor dem Nebelgebirge«, schloss Melwin. »Laïre ist eine eigene Welt.«



Der Türsteher vor dem Haus von Lordmeister Marbon war ein Grau Mensch; er verbeugte sich leicht vor den Ankömmlingen und sagte lächelnd: »Herr Fergon und Herr Melwin, welch eine unerwartete Freude, Euch so bald und so gesund wiederzusehen! Mein Herr wird überrascht sein, wenn ich Eure Ankunft nach zwölf Sternenwanderungen Eurer Abreise bereits wieder melde.«

Fergon legte eine Hand auf Kelrics Schulter. »Dieser Junge war der Grund unserer vorzeitigen Rückkehr, Teng. Lord Sargon beauftragte uns, ihn herzubringen.«

Der Mann musterte Kelric ebenso wie der Junge ihn, der recht beeindruckt von Teng war: Er war groß und sehr muskulös, die Haut von kupferner Farbe, das kurze Haar steingrau wie die Augen. Der Kopf war mächtig, die Nase wie ein Schnabel gebogen, der Mund kräftig. Er trug eine weite lange Hose, und der nackte Oberkörper war mit kostbarem Schmuck behängt. Er trug keine Waffe.

Teng grinste den Jungen mit einem Pferdegebiss freundlich an und ging dann hinein, um dem Herrn Meldung zu machen.



Lordmeister Marbon war ein hochgewachsener Mann von unbestimmbarem Alter, der eine enorme Autorität und Würde ausstrahlte. In seinen weisen Augen lagen Güte und Wärme und jene ungewisse Tragik, die alle Zauberer so geheimnisvoll machte. Kelric stand schüchtern zwischen Fergon und Melwin und brachte kaum einen Ton zur Begrüßung heraus. Fergon übernahm es, alle Erlebnisse zu erzählen, und Lordmeister Marbons Augen ruhten währenddessen auf Kelric, der fühlte, wie ein fernes, stilles Vertrauen in ihm erwachte, gepaart mit noch unergründlichem Verständnis und Zuneigung.

Nach Fergons Bericht trat Marbon einen Schritt vor, und Kelric sah sich plötzlich ihm allein gegenüber.

»Du kannst Gedanken lesen?«, lautete die erste Frage.

»Ja, Herr. Wollt Ihr einen Beweis?«

»Nein. Ich lese in deinen Augen die Wahrheit. Kelric, ich möchte dich bitten, zu niemandem von deiner ungewöhnlichen Begabung zu sprechen. Es ist ein Geheimnis, das wohl gehütet werden muss. Kann ich mich auf dein Wort verlassen?«

Kelric wurde rot und neigte den Kopf. »J ja, Herr«, stotterte er. »Ich schwöre es.«

Marbon lächelte unmerklich. »Mein Junge, du tust es nicht umsonst. Ich selbst will dir all mein Wissen geben.« Er hob seinen Löwenkopf. »Ja, Fergon, was meint Ihr?«, fragte er.

Fergon räusperte sich verlegen. »Verzeiht, Lordmeister«, sagte er ehrerbietig. »Ich verlor die Beherrschung, aber ich war überrascht – freudig überrascht.«

Marbon musterte die beiden Zauberer. »Ich stelle eine starke Zuneigung fest«, bemerkte er.

Melwin nickte. »Ja, mein Lord. Kelric ist – ungewöhnlich und so sehr liebenswert. Dass Ihr ihn selbst ausbilden wollt ... mein Glück darüber findet keine Worte.«

Marbon lächelte nun offen. »Meine Freunde, ich glaube, Ihr zieht einen falschen Schluss. In Kelric schlummert eine Kraft, wie sie seit Jahrtausenden nicht mehr vorgekommen ist. Sie darf nicht in Laïre verschwendet werden, denn die Welt braucht ihn. Die Bedrohung wird immer größer. Nein, als mein Nachfolger käme nur ein Mann wie Ihr, Melwin, in Frage. Aber bis dahin vergehen noch fünfzehn Jahre, wenn Elwin mir wohlgesonnen bleibt.« Er wandte sich wieder Kelric zu. »Du bist ein wenig spät im Jahr gekommen, aber es sind noch fünf Neuankömmlinge seit vorgestern hier. Da morgen der Ruhende Tag ist, an dem wir nicht arbeiten, hast du genügend Zeit, dich hier umzusehen und bekannt zu machen. Übermorgen wirst du dann im Hauptgebäude an einer Einführung teilnehmen; und dann werden wir weitersehen.«

Kelric sah sich unruhig nach Melwin um, der neben ihn trat; ein heiliges Feuer leuchtete plötzlich aus dem schönen Antlitz, in das sich die Spuren von Hungerland eingegraben hatten. »Es wird eine harte, aber wunderbare Zeit werden, Kelric«, sprach er leidenschaftlich. »Ich möchte sie nie missen.«

»Hör auf ihn!«, murmelte Marbon versunken. »Er ist unser vollkommenes Idealbild. Keiner von uns kann je so sein wie er.« Dann lächelte er. »Du kannst nun gehen, Kelric, und deine Kameraden kennenlernen.«

Kelric ging folgsam und erleichtert nach draußen.



Die Zauberer unterhielten sich noch einige Zeit über verschiedene Dinge, bis Melwin einen Verdacht aussprach:

»Lord Marbon, Ihr spracht von Kelrics Talent als seit Jahrtausenden nicht mehr vorgekommen. Hegt Ihr die Hoffnung, dass er eines Tages die Macht von Lindala brechen wird?«

Marbon sah dem jungen Mann direkt in die Augen; eiserne Entschlossenheit beherrschte seine Züge, seine Hand ballte sich grimmig zur Faust. »Diese Sehnsucht habe ich«, gestand er ruhig. »Der Alte Zauberer muss endlich vernichtet werden!«



»Na?«, fragte Teng, als Kelric mit verdutztem Gesichtsausdruck draußen erschien. »Nun hast du einen ordentlichen Schrecken abbekommen, was?« Er nickte zufrieden, als der Junge verstört zu ihm aufsah. »Denk dir nichts«, fuhr er freundlich fort. »So ergeht es allen. Ich sehe euch Kerlchen nun schon seit zehn Jahren ankommen und bleich das Haus des Lordmeisters verlassen. Lass dich also bloß nicht von den anderen beeindrucken. Die hatten genauso große Angst wie du, nur überspielen sie das mit einer großen Klappe und versuchen dich einzuschüchtern. Siehst du, gleich da hinten am See, da sind sie alle, einer eingebildeter und verrückter wie der andere!«

Kelric lächelte plötzlich, »Sie sind bestimmt der beste Freund von allen, oder?«

Teng lachte schallend. »Nun ja, wir alle vom Bedienungspersonal. Wir geben euch zu essen und putzen eure Nasen. Und damit du's gleich weißt: Wir sagen alle du zueinander. Klar?«

»Klar!«, lachte Kelric befreit und sprang rasch zum See davon.



Sie erwarteten ihn schon alle; und er setzte seine wichtigste und erwachsenste Miene auf, stellte sich geradeheraus vor, begrüßte sie alle zusammen und wollte dann ihre Namen wissen. Die Jungen sahen ihn leicht verblüfft an, denn so ein forsches Auftreten hatten sie nicht erwartet; dann stellten sie sich vor und fragten ihn, wie es beim Lordmeister gewesen war.

»Schrecklich«, gestand Kelric freimütig. »Ich habe mir vor Angst beinahe in die Hose gemacht. Aber Teng hat mir geholfen, indem er mir sagte, dass ihr alle genauso wie ich geschlottert habt.«

Wiederum herrschte erstaunte Stille, dann brachen alle in lautes Gelächter aus; die ihm am nächsten standen, schlugen ihm auf die Schulter und zogen ihn in ihre Mitte.

»Und hat er dir auch zum Abschied gesagt, dass du ihn sicherlich dann sehen wirst, wenn du was angestellt hast?«, wollte einer wissen.

»Nein«, erwiderte Kelric. »Er will mich später selbst unterrichten.«

Zum dritten Mal herrschte jähe Stille. Dann lachte der Knabe, der ihn angesprochen hatte, Fandor hieß er, verächtlich und rief: »Kannst du vielleicht was Besonderes, weil der Lordmeister das tun will?«

Kelric zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Aber ich habe zum Beispiel einen Wompet gezähmt.«

Die einen glotzten ihn an, die anderen flüsterten aufgeregt miteinander.

»Das gibt's doch gar nicht!«, schrie Fandor aufgebracht. »Wompets sind unzähmbar! Du willst bloß angeben!«

»Ich kann's«, behauptete Kelric ungerührt und drehte sich zu Melwin um, der sich lächelnd einen Weg zu ihm bahnte. »Stimmt es etwa nicht, Herr Melwin?«

Erwartungsvoll hingen alle Augen an dem Zauberer, der noch stärker lächelte. »Es ist wahr, Jungs«, bestätigte er. »Er hat es tatsächlich geschafft. Kelric kommt aus Loïree.«

Hunderte von Jahren später erinnerte man sich immer noch an jene Anekdote von dem zehnjährigen Kelric, der innerhalb weniger Augenblicke eine ganze Horde gleichaltriger Lümmel viermal zum Schweigen brachte.

»Hähä«, machte Fandor schließlich verblüfft und verwirrt; dann streckte er Kelric eine schmutzige Hand hin und grinste über das sommersprossige Jungengesicht. »Aus Loïree also«, wiederholte er. »Mann, ich glaube, da hast du uns eine ganze Menge Abenteuer zu erzählen, und die wollen wir alle bis in die kleinste Kleinigkeit hören!«

»Jawohl!«, jubelten die anderen und schlossen den Kreis enger.

»Halt, halt!«, versuchte Melwin den Lärm zu übertönen. »Langsam, ihr Kerlchen! Erst zeige ich ihm sein Zimmer.«

»Ich komme mit«, erklärte Fandor und drängelte sich rücksichtslos durch die Menge, unablässig auf Kelric einredend. »Morgen lernst du alle kennen, und ich zeige dir die erlaubten Räume von Laïre, und dann ... « Plötzlich hatte er einen Einfall. »Herr Melwin, neben mir ist eine Kammer frei, da könnte Kelric doch ... oder?«

»Das ist eine gute Idee, Fandor«, stimmte Melwin zu. »Du kannst ihm helfen, sich einzugewöhnen.«

Den Rest legten sie schweigend zurück, und Kelric stellte voller Freude fest, wie hell und freundlich die Gebäude auch innen waren, hübsch eingerichtet, mit vielen Teppichen und Pflanzen; die Wandelgänge mit den Marmorböden und Säulen lösten geradezu herzklopfende Ehrfurcht in ihm aus. Die Schlafhäuser der Kinder hatten fröhlich bemalte Wände und strapazierfähige Möbel. Jedes Kind hatte einen eigenen kleinen Raum, in dem gerade ein hartes Bett, ein Stuhl und ein schmaler Schreibtisch Platz hatten. Kelric hatte von seinem Fenster aus einen herrlichen Blick auf einen als kleinen Park angelegten Innenhof mit gepflegten Wegen und einem Springbrunnen in der Mitte. Er befand sich im Erdgeschoss eines dreistöckigen Gebäudes; die Häuser der Zauberer lagen auf der anderen Seite des Hofes; zentral in der Mitte erhob sich alleinstehend die mächtige Bibliothek. Laïre vereinte auf wunderbare Weise Fröhlichkeit und Würde miteinander; nichts war hier niederdrückend oder machte den Eindruck von Kargheit. Kelric war hingerissen, sein ganzes Gesicht strahlte, und er hätte am liebsten laut gejubelt, als er Melwins kummervolles Gesicht bemerkte, und da erschrak er.

»Fandor«, sagte Melwin in diesem Augenblick, »würdest du uns bitte einen kleinen Moment allein lassen?«

»Natürlich«, nickte der Junge. »Ich warte in meiner Kammer nebenan.«

»Melwin«, fragte Kelric ängstlich, als sie allein waren, »was ist denn?«

Der junge Mann seufzte. »Ich muss mich verabschieden, Kelric«, sprach er leise.

Kelric hatte das Gefühl, als bliebe ihm das Herz stehen.

»Nein ...«, brachte er schließlich hervor.

»Ich muss, Kelric. Es zieht mich fort. Ich werde morgen in aller Frühe abreisen.«

»Aber – aber Ihr habt Euch doch so gefreut ...«

»Ja ... aber ... Kelric, du kannst das jetzt noch nicht verstehen, aber ich habe hier einfach zu viele Erinnerungen, die mich schmerzen. Und dann ist da noch die Sache von ... Hungerland.«

»Wir haben doch alles geteilt«, flüsterte Kelric.

»Fast, Junge, zum Glück nur fast. Ich weiß ja. Aber ich muss mit mir selbst ins Reine kommen, und dazu brauche ich eine lange Wanderschaft. Und ich habe einen Auftrag.«

Kelric senkte den Kopf. »Wie lange ... wie lange werden wir uns nicht sehen?«

»Viele Jahre, Kelric.«

Der Junge warf sich aufschluchzend in die Arme des Zauberers.

»Aber wir werden uns wiedersehen?«, weinte er.

»Natürlich, Kelric«, antwortete Melwin rau. »Ich liebe dich doch.«

»Ich liebe Euch auch«, flüsterte Kelric.

Melwin fuhr fort: »Fergon bleibt noch einige Zeit hier, um zu sehen, wie du dich eingewöhnst. Mach mir keine Schande, Söhnchen, ja? Nach allem, was wir durchgestanden haben.« Er löste Kelric von sich und strich ihm über den Kopf. »Du bist etwas Besonderes«, sagte er. »Ich hatte einen älteren Halbbruder, der starb, als er so alt war wie du. Er hatte nicht deine Kraft. Nun bist du mein kleiner Bruder, Kelric. Ich komme wieder, verlass dich darauf. Wenn du mich brauchst, werde ich da sein. Leb wohl!«

»Lebt wohl!«, krächzte Kelric.



Als Fandor hereinkam, lag er schluchzend auf seinem Bett.

»He, he!«, sagte er erschrocken. »Was ist denn jetzt los?«

Kelric setzte sich auf und wischte die Tränen fort. »Er geht fort«, sagte er niedergeschlagen. »Er lässt mich einfach allein.«

»Ach so.« Fandor setzte sich neben ihn. »In diesem einen Jahr, seit ich nun hier bin, habe ich über Herrn Melwin mehr gehört als über den Lordmeister.« Er schaute sich um, setzte eine Verschwörermiene auf und flüsterte Kelric dann vertraulich zu: »Er kommt ja wie ich aus Lindala, und nicht nur ein Gerücht sagt, dass er der Sohn des alten Königs Lindhelm sei, sein Zweitgeborener. Er kam mit vierzehn Jahren nach Laïre, ohne je zu verraten, woher er genau stammte, und jetzt ist er bereits seit zwei Jahren ein Zauberer, obwohl er erst zweiundzwanzig ist. Er lernte in sechs Jahren Tag und Nacht das, wozu wir zwölf Jahre brauchen. Er ist eine Ausnahme seit Jahrhunderten. Man munkelt, dass er der nächste Lordmeister werden soll, aber er will es sicher nicht. Er flieht alle hohen Ämter. Er sucht auf seinen Wanderungen ein unbekanntes Ziel und weiß Dinge, die niemand je sieht.«

Kelric dachte an Hungerland und schwieg.

»Aber er wird wiederkommen«, tröstete Fandor ihn weiter. »Irgendwann wird seine Sehnsucht nach Laïre so groß, dass er eines Tages wieder da ist, als wäre er nie fortgewesen. Du wirst sehen. Und jetzt gehen wir essen. Du hast bestimmt Hunger, oder? Dann können wir weiterreden.«



Melwin saß unterdessen still beim Lordmeister, der ihn zu sich gerufen hatte. »Melwin«, begann Marbon ruhig, »ich fragte nie nach Eurer Herkunft. Alles an Euch ist geheimnisvoll, und ich weiß nicht, welche göttliche Eingebung mir vor acht Jahren befahl, Euch gewähren zu lassen. Wollt Ihr mir nicht endlich die Wahrheit sagen?«

Melwin sah gequält zu ihm auf. »Herr«, bat er, »zwingt mich nicht! Ich darf nicht sprechen.«

»Ihr tragt eine schwerere Last als wir«, sagte Marbon leise. »Was habt Ihr gesehen, Melwin? Was wisst Ihr nur?«

Melwin schüttelte das Haupt. »Ich bitte Euch, habt Vertrauen!«, erwiderte er. »Alles was ich tue, geschieht für Laïre. Ich habe von Gott einen Auftrag erhalten, den ich ausführen muss. Dafür muss ich falsche Gerüchte und Euer Misstrauen in Kauf nehmen. Ich verehre Euch, Herr. Ich bitte um Euren Segen, wenn ich morgen gehe.«

»Den habt Ihr immer. Vielleicht seid Ihr wirklich der Gottgesandte, aufgewachsen in Reichtum auf einem Schloss, um die Armut begreifen zu lernen. Melwin bedeutet nicht umsonst Der-von-Gott-Geliebte, und Elwin ist mit Euch. Geht in Frieden und kehrt gesund wieder!«