Heimkehr nach Loïree
Trotz des eisigen Vorfrühlingswindes blühten in den Felsvorsprüngen weiße und rote Wanderblumen; geschickt in geschützten Nischen versteckt, vorwitzig unter Überhängen und um Ecken lugend.
Kelric blieb stehen, auf seinen langen Wanderstab gestützt, und betrachtete den schmalen, sich wurmartig schlängelnden Höhenweg vor sich, von dem ihm jede Biegung bekannt und vertraut vorkam. Viele Augenblicke verweilte er bei den leuchtenden Blumen, deren Blätter ihm zur Begrüßung zuwinkten; er konnte der Aufforderung nicht widerstehen und begann sein altes geliebtes Spiel, mit dem er vor mehr als neununddreißig Jahren jeden Morgen begrüßt hatte. Er hob den Kopf, als ein Stein dicht über ihm herabpolterte; auf einem schmalen Grat erhob sich die mächtige hohe Silhouette eines uralten Weißthars mit bis zur Erde reichendem Bart und spiralförmig gedrehten Hörnern. Kelric streckte ihm vorsichtig die Hand entgegen.
»Komm her«, flüsterte er. »Komm her, Thar, und erzähl mir von hier! Ist die Bergwelt noch so, wie ich sie verließ?«
Ein Licht leuchtete in den gelben Augen des Tieres auf, als es langsam und vorsichtig herabkam und sich mit vorgerecktem Kopf der offenen Hand näherte, in der Salzkörner wie Edelsteine glitzerten. Zart und behutsam leckte es die Hand des Zauberers, während ganz in der Nähe das keuchende Bellen eines Gebirgsmuntjaks erklang; am Himmel kreiste hoch pfeifend ein Pfeiladler. Der Thar warf dem Menschen noch einen gutmütigen, freundlichen Blick zu, bevor er langsam und majestätisch die Felsen erkletterte und verschwand. In den Augenwinkeln des Mannes erschienen viele Lachfältchen, sein Mund lächelte ebenfalls, und er fühlte plötzlich eine Befreiung in sich, ein Aufatmen, als wäre die Tiefenluft der letzten Jahre schwer und dick gewesen. Hier oben war die Luft anders, rein und klar, ihre Unversehrtheit von immerwährenden Nebeln verhüllt; der Himmel war tiefgrün und schien viel näher über dem Betrachter zu sein.
Kelric spürte die stürmische Kälte kaum, die an seiner Kleidung zerrte und versuchte, ihm die Kapuze vom Haupt reißen; er stand still wie eine große Wächterstatue und atmete tief die vertraute Bergluft, in der er den ersten würzigen Duft von Kräutern roch, sog die Lungen voll, sah voller Glück auf all die Felsen, die teilweise dicht und pelzartig mit Moos bewachsen waren, auf dem wiederum im Sommer süß duftende Blumen blühten. Den Sommer vor Augen, betrachtete er glücklich die weiter oben halb gefrorene, noch ein wenig jammervolle, ärmliche und nasskalte Bergwelt, die ganz grau und nackt mit dicken Nebelfetzen bedeckt war. Ihm schien es die schönste und reichste Gegend der Welt zu sein, und er lauschte verzückt den verschiedensten Lauten: dem Ruf des Adlers, dem rauen Krächzen der Raben, dem Bimmeln der Halsglöckchen von leise meckernden Hausziegen, die jetzt auf die Weiden getrieben wurden, dem leisen Rascheln von Wildtieren, die ihre Laub und Nadellager verließen und einen ersten Erkundungsgang unternahmen.
Er war zu Hause! Kelric konnte es kaum glauben, dass er nach so vielen Jahren mühelos hergefunden hatte und das erwartete Glück des Wiedersehens empfand; er erinnerte sich klar und deutlich an seine hier verbrachte Kindheit, und frohe Erwartung folgte ihm dichtauf, als er langsam weiterging, den Stab munter aufsetzend, das weiße Löwenhaupt hierhin und dorthin wendend.
Nach der zweiten Biegung erreichte er den verbreiterten Hauptweg zum Dorf, das sich wie vor Jahren still und verträumt seinen Blicken darbot; zwar kannte er keinen der Menschen mehr, die er sah, aber sie bewegten sich alle noch mit gleicher Gemächlichkeit; sie waren unverändert in der Kleidung, die Gesichter typisch wettergegerbt und ernst, aber nicht mürrisch.
Die Menschen blieben stehen, als sie den großen Mann den Weg herabkommen sahen, den sie sofort als Zauberer erkannten; er trug die typischen blauen und grauen Farben der Bruderschaft: enge Beinkleider mit einem seitlich geschlitzten knöchellangen Überwurf, kniehohe schwarze Stiefel, einen breiten Gürtel aus Silber mit einer langen Messerscheide und kleinen Beuteln, eine Halskette mit dem verschlungenen Runensymbol von Laïre und einen weiten dunklen bodenlangen Umhang, dessen Kapuze das Gesicht halb verdeckte. Die Arbeit ruhte augenblicklich, so ein Anblick bot sich nicht alle Tage, und staunende Augen blickten ihm ehrfürchtig nach, als der Heilige Wanderer langsam durch ihre Mitte ging, in so selbstverständlicher Haltung, als wäre er hier zu Hause.
Kelric störte sich nicht an den scheuen Blicken und dem leisen Geflüster; er war es längst gewöhnt, nirgends ohne Aufsehen erscheinen zu können. Er wusste um seine starke Ausstrahlung und die strahlende Aura von Mythos und Trauer, die selbst nachts in dunklen Straßen noch auf ihn aufmerksam machten. Die Welt und seine mächtigsten Feinde wussten stets, wo er sich aufhielt; das war immer so gewesen, auch als er noch mit Melwin umhergezogen war.
Als Kelric vor dem Haus des Dorfvorstands innehielt, nahmen die Menschen ihre Arbeit wieder auf. Die Neugier erhob sich stets nur kurz über die strengen Gesetze, die vor allem distanzierte Höflichkeit geboten.
Kelrics Herz zog sich zusammen, als er den alten grauhaarigen Mann auf der Bank vor dem Haus sitzen sah, pfeiferauchend, geduldig sein Greisentum genießend. Er blickte auf, als der Zauberer vor ihm stehen blieb; in seinen dunklen, von violetten Altersflecken gesprenkelten Augen zeigte sich ein kurzer Funken regen Interesses, als der für ihn Fremde seine Kapuze zurückschlug und sein gütiges, von einem starken, sanften Willen beherrschtes Gesicht zeigte, mit tiefblauen unergründlichen Augen und einer schneeweißen, über die Schultern herabfallenden Löwenmähne. Seine glatte Haut hatte einen schimmernden Goldbronzeton. Kelric wusste, wie andere ihn sahen, und dass nichts an ihm mehr an den kleinen Jungen von damals erinnerte, blass und dunkeläugig. Es war unmöglich, dass man ihn erkannte.
»Gott Elwin zum Gruß, Heiliger Wanderer«, sagte der alte Mann ehrerbietig. »Gesegnet sei unser Dorf, von solchem ehrwürdigen Besuch geehrt zu werden.«
»Ich grüße Sie, mein Herr«, erwiderte Kelric lächelnd. »Glück auf meinem Weg, der meinen hungrigen Magen zu einem freundlichen Dorf führte.«
Der Greis erhob sich langsam und winkte mit der Hand, die die Pfeife hielt. »So kommt in unsere bescheidene Hütte und nehmt ein einfaches, aber gutes Mahl zu Euch!«, forderte er den Zauberer munter auf. »Nehmt jedoch Euren Zauberstab mit hinein, denn Kinder sind neugierig und verspielt und kennen keinen Respekt.«
Kelric betrachtete sinnend seinen treuen, schmutzigen, abgenutzten Stab. Es hätte vermutlich nicht viel Sinn gehabt, seinem Vater zu erklären, dass dies nichts weiter als ein normaler Wanderstock war. Symbole waren für die Menschen, die er beschützte, sehr wichtig. Die Magie verlor dadurch einiges an Schrecken und wurde besser verständlich. Gehorsam nahm er den Stab mit hinein und stellte ihn gleich bei der Tür ab.
Im Haus war alles nahezu unverändert. Wie bei ihm damals, als er noch ganz klein gewesen war, saß das Großmütterchen auf der Ofenbank und nähte; der Unterschied zu heute lag nur darin, dass diese alte Frau seine Mutter war, sein Bruder nunmehr der Hausvorstand und die krähenden Mädchen und Knaben schon die Kinder seines ältesten Sohnes.
Sie begrüßten ihn freundlich und scheu; er ließ sich ohne zu zögern an seinem gewohnten Platz am Tisch nieder und bat den Greis, sich neben ihn zu setzen. Die Frau seines Bruders, die älter geworden war, aber immer noch so schön wie damals aussah, bewirtete ihn ernst und still mit raschen geschickten Händen, die auch ganz im Vorbeigehen einmal einem ungezogenen Kind einen Klaps geben konnten. Kelric überlegte sich, wie alt wohl seine eigenen Kinder schon sein könnten, aber dieser Gedanke erweckte Schmerz in ihm, und er schob ihn beiseite. Sein Bruder ließ sich ebenfalls am Tisch nieder; seine Frau zog sich still in eine der oberen Kammern zurück. Die Mutter beobachtete ihn von ferne.
Kelric dachte: Sie erkennt mein Aussehen nicht, aber sie spürt ein Band. Ihre Gedanken sind verwirrt und ratlos. Kurz entschlossen stand er auf und trat auf sie zu, während er aus einer Tasche ein seltsames Ding zog. »Dies«, erklärte er, »sind Augengläser aus geschliffenem Glas. Ich sehe, dass Sie kurzsichtig sind. Probieren Sie sie aus.«
Die Alte blickte unsicher und misstrauisch zu ihm auf.
Kelric versicherte: »Es ist kein Hexenwerk, sondern eine neue Errungenschaft aus Laïre. Wir können für nahezu jede Augenschwäche bestimmte Gläser herstellen. Versuchen Sie es nur, Sie werden sehen, wie es hilft.«
Seine Mutter gehorchte zögernd, und das faltenreiche Antlitz nahm einen so überraschten und verblüfften Ausdruck an, dass Kelric ihr impulsiv über das sorgfältig hochgesteckte graue Haar strich.
»Sehen Sie?«, lächelte er. »Plötzlich ist die Welt wieder klar.«
»Wahrhaftig«, hauchte sie, und ein leuchtendes Strahlen erhellte ihr runzliges Gesicht. »Wie kann ich Euch danken?«
Kelric winkte ab. »Ihre Freude ist mein Dank, Frau.«
Sie kicherte und vertiefte sich begeistert in ihre Arbeit, nicht ohne von Zeit zu Zeit zum Tisch zu schielen, wo Kelric wieder Platz genommen hatte und nun mit gutem Appetit die Mahlzeit verzehrte.
Man unterhielt sich über allgemeine Dinge des Berglebens, und Kelric merkte schnell, dass die Familie ein Kummer quälte; aber er war einfühlsam und erfahren genug, um zu wissen, dass man solche Dinge nicht gleich ansprach; er wollte lieber warten und später vielleicht in ihren Gedanken lesen, wenn sie gar nicht damit herausrücken sollten. Schließlich trat eine Gesprächspause ein, in der Kelric überlegte, wie er sich zu erkennen geben konnte; er hatte die leise Furcht, dass er als Sohn vielleicht gar nicht mehr willkommen war.
Er lehnte sich zurück, zündete sich ebenfalls eine Pfeife an und fragte dann beiläufig: »Haben Sie eigentlich nur diesen einen Sohn, Herr?«
»Nein«, antwortete der Alte. »Ich hatte noch zwei jüngere Söhne, die vor Jahren bei einem Lawinenunglück ums Leben kamen. Außerdem habe ich zwei prächtige Töchter, die in andere Dörfer heirateten.« Er verstummte.
Kelric tat das Herz weh.
Sein Bruder runzelte die Stirn. »Vater!«, sagte er scharf.
Der Kopf des alten Mannes sank ein wenig nach unten, er zögerte, bevor er schließlich murmelte: »Und dann ... dann gibt es da noch ... «
Er brach wieder ab, als die alte Frau hinter ihm leise zu schluchzen begann, und fuhr mit der Hand nervös über die Tischplatte. »Geht das schon wieder los!«, brummte er. »Sie hat es nie verwinden können, und darum spreche ich nie darüber.« Er sah endlich zu Kelric hoch, direkt in seine Augen. »Ja, ich habe noch einen Sohn«, gab er schließlich ruhig zu.
Kelrics Bruder atmete auf. »Wurde auch Zeit«, knurrte er. »Erzähl schon, Vater, und sei nicht so unhöflich!«
»Ist er in Ungnade?«, fragte Kelric schnell. »Dann tut es mir leid, wenn ich daran rührte. Verzeihen Sie bitte meine Frage, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«
»Unsinn«, sagte sein Bruder böse. »Sie sollten stolz sein, aber sie schämen sich ihrer scheinbar niedrigen und unwürdigen Herkunft, weil sie die Eltern eines sehr berühmten Mannes sind. Sie schämen sich, weil ein armer Ziegenhirt sehr groß geworden ist ... Ihr wisst vielleicht nicht, wie gering dieses Volk sich hier vorkommt.«
»Das kommt vom Standesdünkel der Tiefenländer«, sagte Kelric. »Lord Melwin beschimpfte das Bergvolk auch einmal als Ziegenhirten.«
Die Augen der beiden Männer leuchteten auf. »Ihr kennt Lord Melwin?«, rief der Bruder.
»Natürlich.«
»Lord Melwin war vor Jahren einmal kurz zu Gast bei uns. Er ist ein sehr edler großer Mann, und wir empfanden viel Ehrfurcht. Aber er war sehr freundlich.«
»Und da Ihr ihn kennt«, strahlte der Alte plötzlich, »habt Ihr sicher auch einmal Lord Kelric gesehen, der mit Lord Melwin viele Jahre durch die Welt zog und die Feinde das Fürchten lehrte. Es heißt, er ... er durchwanderte die ganze Welt, nur nach Hause kam er nie.« Die letzten Worte sprach er niedergeschlagen aus, und Traurigkeit schimmerte in seinen Augen.
Kelric fühlte sich immer elender. Hatte er das Recht, sich nach neununddreißig Jahren zu offenbaren, in denen er seinen Eltern nicht einmal eine Nachricht hatte zukommen lassen? Er hatte nicht gewusst, dass Melwin hier gewesen war, denn sie hatten sich vor zehn Jahren getrennt und seither nicht mehr wiedergesehen. »Lord Kelric führt seit Jahrzehnten einen erbitterten Kampf gegen den grausamen Gott Oloïn«, sagte er langsam. »Er konnte nicht kommen, weil er seine Familie nicht in Gefahr bringen wollte.«
»Lord Melwin sagte etwas ähnliches«, nickte sein Bruder. »Er berichtete uns alles über Kelric und über die brüderliche Freundschaft zwischen ihnen. Es ist verständlich, dass er nicht kommen konnte, bei der Aufgabe, die er hatte.«
Der Alte hatte Tränen in den Augen. »Trotzdem wünsche ich mir sehnlich, dass er einmal zurückkehrt, und sei es nur für wenige Stunden.«
Kelric klopfte seine Pfeife aus und legte sie auf den Tisch. »Und Sie?«, fragte er den Bruder. »Ist das auch Ihr Wunsch?«
»Mehr als alles«, antwortete dieser. »Er war acht Jahre jünger als ich und ging oft heimlich mit auf die Weiden. Er war so lebhaft, ein richtiger Springinsfeld, und brachte uns oft zum Lachen.«
Kelric starrte auf die Tischplatte. »Vater ... Bruder«, sagte er dann leise, »er ist nun zurückgekehrt.« Er hob langsam das Haupt und starrte in die weitaufgerissenen Augen der Männer; dann stand er auf und stellte sich so, dass er auch seine Mutter sehen konnte, die ihn ebenfalls sprachlos anstarrte.
»Ich bin so müde«, flüsterte er. »Der Kampf zehrte alle meine Kräfte auf, und ich sehnte mich nach Ruhe ... nach euch. Ich konnte es nicht mehr ertragen, euch nicht wenigstens einmal wiedergesehen zu haben.«
»Was ... was ... «, brachte der Bruder endlich stotternd hervor. »Ihr ... du ... du bist Kelric?«
»Ja, ich bin Kelric«, nickte der Magier. »Lord Kelric der Sehende, den sie den Herrn der Gedanken nennen, als Ziegenhirt geboren und zu einem mächtigen Zauberer von Lerranee geworden. Aber immer noch bin ich ein Mensch, der sich nach seiner Familie sehnt, und nach einem Ort der Ruhe.«
»Kelric!«, schrie der Bruder und vergaß alle Scheu, sprang auf und umarmte ihn stürmisch, lachend und weinend. »Mein kleiner Bruder, dich kann man doch gar nicht mehr erkennen!«
Kelric erwiderte die Umarmung, bevor er seinen Vater an sich drückte und zuletzt seine Mutter in die Arme schloss, sie küsste und sich dann umsah.
»Ich bin so froh, dass ihr mich aufnehmt«, sagte er leise. »Bei euch werde ich die Kraft zurückbekommen, den Kampf fortzusetzen.«
Die Nachricht von Lord Kelrics Heimkehr wurde rasch im ganzen Dorf bekannt, und der Zauberer sah sich bald von vielen Leuten umringt, denen er bei ihren kleinen Sorgen helfen sollte. Kelric stellte den Menschen gern seine Kräfte zur Verfügung; bei dem, was er sonst zu leisten hatte, war dies eine angenehme Abwechslung und Erholung, ohne dass er dabei ganz aus der Übung geriet. Er stellte bald fest, dass sich hartnäckig der Aberglaube um seine Stab hielt, so dass er ihn schmunzelnd behielt, anstatt ihn zu verheizen, wie er es vorgehabt hatte. Sein Bruder, der inzwischen die Wahrheit wusste, lachte mit ihm.
Kelric fühlte sich mit den geruhsamen Tagen, fern aller schwermütiger Gedanken, zusehends jünger werden. Trotz der lebensverlängernden und kraftspendenden DROGE hatte er die Last der vergangenen anstrengenden Jahre gespürt und diese Pause gebraucht, und so setzte er sich abends gern an das große Feuer in der Dorfmitte, ließ sich von Frühlingsstimmung durchströmen und erzählte Geschichten von sich und Melwin. Manchmal konnte er fast selbst nicht mehr glauben, was er da berichtete, obwohl er nichts erfand; aber er wusste, dass die Dorfleute ohnehin keinen Unterschied zwischen Legende und Wirklichkeit sahen, wenn schon ein normaler Wanderstab in ihren Augen in der Hand eines Zauberers zu einem magischen Instrument wurde. Da Kelric die ersten zehn Jahre seiner Kindheit bei ihnen gelebt hatte, scheuten sie sich längst nicht mehr, ihm ihre Zuneigung und Verehrung offen zu zeigen und ihm zu sagen, welch ein lebendiger Mythos von Vollkommenheit er war. Ja, Vollkommenheit. Ganz Laïre bewunderte ihn als das Idealbild des Zauberers, obwohl seine Macht geringer war als Melwins. Aber es war die Gedankenkraft, die ihn auszeichnete, und sein unbeugsamer Wille. Er hatte so manches Jahr unterrichtet, bevor es ihn wieder weiterzog, neuen Gefahren und Abenteuern entgegen. Und stets war Melwin an seiner Seite gewesen, sie hatten zusammen gekämpft und gelitten; so manche Nacht hatte der eine am Lager des anderen Wache gehalten, um dem Tod den Zutritt zu verwehren. Kelric wusste heute nicht mehr, welche Bedeutung jede einzelne Narbe hatte. Doch tief eingebrannt hatte sich in ihm das schreckliche Grauen, als er zuletzt zum Schwert gegriffen hatte, zusammen mit Melwin; mit blutigen Klingen hatten sie dagestanden, um sich herum ein Schlachtfeld von getöteten Geschöpfen, die das gebrochene Sonnensymbol ihres Gottes Oloïn auf der Brust eingebrannt trugen. Sie hatten lange verharrt und sich angesehen, erwacht aus einem wahnsinnigen Blutrausch, der sie wie ein tollwütiger Wolf angefallen und infiziert hatte, ihnen die Magie gestohlen und stattdessen Kampfwut eingegeben hatte. Sie hörten Oloïns fern hallendes grausames Gelächter, als sie zusammenbrachen und sich übergaben, bis sie nur noch Galle spien. Schluchzend, dem Irrsinn nahe, hatten sie sich aneinandergeklammert und Elwin angefleht, das Blut von ihnen zu nehmen und sie nie wieder einer solchen List erliegen zu lassen.
Ja, sie hatten beide versagt, die angeblich vollkommenen Zauberer, hatten alle Lehren missachtet und die Gesetze gebrochen, und das Entsetzen war so groß gewesen, dass sie nach Laïre geflohen waren und sich einige Sternenwanderungen in dem Heiligen Gewölbe eingesperrt hatten.
Danach war es nie mehr wie früher gewesen, und sie hatten sich getrennt, um jeder auf seine Weise Sühne zu leisten und mit der Schuld fertig zu werden, die sie niemals wirklich abgelten konnten.
Zehn Jahre waren seither vergangen. Die längsten und einsamsten Jahre in Kelrics Leben, aber auch die Zeit der Läuterung, die seinen Entschluss nur noch mehr festigte. Deshalb war er nun hierher gekommen, auch wenn er womöglich die Familie dadurch in Gefahr brachte. Aber er wollte etwas abschließen, bevor sein Kampf in die endgültige und wichtigste Phase trat.
»Was denkst, du, mein Sohn?«, fragte der Vater in Kelrics Gedanken hinein, und Kelric sah auf.
»Ich denke, es wird Zeit mir zu sagen, was euch bedrückt«, antwortete Kelric.
Der alte Mann machte ein erschrockenes Gesicht und wollte widersprechen, aber Kelric kam ihm zuvor: »Bitte, Vater, zwing mich nicht, in deinen Gedanken zu forschen, was es ist! Ich gebe euch bis heute Abend Zeit, und dann will ich alles erfahren.«
Er stand auf und ging davon, zu seinem Lieblingsfelsen, um allein zu meditieren. »An meinen Händen klebt Blut«, murmelte er, während er still dastand und über die zerklüfteten Berge und tiefen Täler blickte. »Dennoch ist auch dies nur eine weitere Prüfung, die mich zwingt, meinen Schwur zu erfüllen.« Er wollte Bitterkeit empfinden, aber er konnte es nicht, heute nicht mehr. Er war zu alt und zu ruhig geworden; die Ruhe hatte schließlich seine Zwiespältigkeit besiegt und konnte jetzt nicht einmal mehr durch die Erinnerung an das Entsetzen seiner mordenden Hände erschüttert werden.
Mit der Begegnung und dem baldigen Abschied von seiner Familie sollte seine Sühnezeit und Läuterung beendet sein. Danach wollte er nichts anderes mehr fühlen als seine Hingabe und die Liebe an seine magische Kraft, der er gehörte und die ihm neben grenzenloser Einsamkeit auch das höchste Glück schenkte.
Melwin hatte ihn dazu gezwungen; er hatte viel entsetzlichere Dinge erlebt und wusste unendlich mehr als Kelric, doch das Massaker hatte ihn an sich selbst so sehr zweifeln lassen, dass er eine Entscheidung traf.
»Bin ich ein Ungeheuer oder ein Mensch?«, hatte er vor zehn Jahren Kelric gefragt. »Ich habe gemordet und mich deswegen kasteit, doch heute sehe ich es als Erfahrung und nichts sonst an, und es treibt mich weiter. « Er hatte Kelric umarmt und Abschied genommen. »Ich muss mich jetzt meiner Bestimmung zuwenden und die Lösung finden«, hatte er gemurmelt. »Es wird Zeit ... ich werde Wege gehen, die nie zuvor ein Zauberer betrat. Ich muss nun allein bleiben, Kelric, unsere Wege trennen sich. Du musst allein zu dir finden und lernen, dir selbst zu verzeihen, und deine Macht in die richtige Bahn zu lenken. Erst dann werden wir uns wiedersehen.«
»Pass auf dich auf, Melwin«, war alles, was Kelric dazu sagen konnte. Es war, als würde ihm das halbe Herz herausgerissen.
Sie hatten sich getrennt und bis heute nie mehr wiedergesehen, auch keine Nachrichten waren zugesandt worden. Obwohl Kelric inzwischen gelernt hatte, die Einsamkeit zu lieben, verging kein Tag, an dem er nicht an Melwin dachte und ihn vermisste.
Es tröstete ihn, zu erfahren, dass Melwin vor einiger Zeit ebenfalls hier gewesen war. So wusste er, dass der Freund niemals wirklich fort war, sondern in gewisser Weise immer noch an seiner Seite.
Als Kelric Betroffenheit spürte, drehte er sich um. Etwa zwanzig Männer, darunter Bruder und Vater, standen auf dem Felsen unter ihm, die lange Zeit geduldig gewartet hatten; doch als er immer noch länger reglos und in völliger Bewegungslosigkeit wie eine Statue dagestanden hatte, war ihnen angst geworden. Vielleicht begriffen sie endlich, wie kindlich der Respekt vor einem toten Stück Holz war und wie unbegreiflich ein Zauberer, der sich unbeobachtet glaubte.
»Ihr wollt mich führen«, sagte er ruhig.
»Wir wollten nicht stören«, sagte sein Vater schüchtern. Seine Miene war so erschrocken wie die der anderen.
Diese unschuldigen Kinder, dachte Kelric in leiser Nachsicht und ein wenig neidvoll. Ich muss bald aufbrechen, es wird Zeit.
»Gehen wir!«, sprach er und stieg zu ihnen hinab, einen kurzen Blick auf den Felsen zurückwerfend. Er wusste, dass er ihn nie wiedersehen würde.
Sie geleiteten ihn einen steilen Hang hinauf, durch unwegsames Gelände in der Nähe der Sommerweiden, bis sie vor einem großen Höhleneingang verharrten.
»Da drinnen lauert es«, begann einer. Ein anderer murmelte von hinten: »Ein Chitai.«
Kelric musterte einen nach dem anderen. »Ein Alb?«
»Ein kameren Chitai«, berichtigte sein Vater. »Er frisst unsere Ziegen und vergewaltigt die Frauen. Was kann man tun?«
»Nichts. Warten«, entschied Kelric und verschwand in der Höhle. Er folgte einem langen gewundenen Gang tief ins Innere des Berges; muffiger Tierdunst und der abscheuliche Gestank von verwesendem Fleisch wiesen ihm den Weg. Kelric erkannte, dass kein Chitai, sondern ein Kwam hier lebte, eine Art Dämonentier, das die Menschen so lange tyrannisieren würde, bis es nichts mehr zu holen gab. Vorsichtig tastete er sich weiter voran, bis er weit hinten das Lager des Wesens entdeckte, das durch das grünlich schimmernde Licht phosphoreszierender Wände nicht sehr appetitlich erhellt wurde, denn man konnte so die bleichen Knochen und blutigen Fellreste, die vor dem schmutzigen Hort lagen, nur um so deutlicher erkennen.
Ein schlurfendes und schmatzendes Geräusch, das sich langsam aus einem Seitengang näherte, bewies, dass jener riesige unförmige Fellhaufen auf dem Lager von einem treuen Sklaven bewacht wurde. »Ein Alpenschneck«, murmelte Kelric, als der monströse, vom Körper abgesetzte hellblaue Kopf einer Riesenschnecke erschien, gefolgt von einem gleichfarbigen gewaltigen, fetten und schleimigen Körper, der von einem roten stacheligen Haus geschützt wurde. Der Alpenschneck besaß neben zwei Stielaugen und vier Tastorganen äußerst scharfe, leise klickende Kiefer und zwei außerordentlich starke lange Tentakel, die am Halsansatz saßen. Eine glitzernde leuchtendgelbe Schleimspur hinterlassend, bewegte das Untier sich langsam auf Kelric zu.
Der Zauberer überlegte kurz, wie er den Schneck am besten überwältigen könnte; er erinnerte sich, dass es einen Fressfeind gab; den Rüsselsauger, der diese Tiere mit Vorliebe anstach und aussaugte. Vielleicht würde es genügen, wenn er sich in einen solchen Beutefänger verwandelte; er hatte lange das Gestaltwechseln geübt und machte sich manchmal sogar einen Spaß daraus. Rasch murmelte er den Spruch, der vom Ursprungswort bis zum heutigen Rüsselsauger ging, und fühlte, wie er zusammenschrumpfte und sich in ein grauschwarzes Panzertier mit einem dornartigen scharfen langen Rüssel verwandelte, das neben dem gewaltigen Leib der Riesenschnecke wie ein Huhn neben einem Pferd aussah. Dennoch zuckte der Schneck sichtlich zurück, als sein Todfeind mit freudig quäkender Stimme auf die vermeintliche Lieblingsspeise zueilte; sein Rüssel begann dabei heftig zu rotieren. Der Schneck, der seine Schutzschale und die Weichteile schon angebohrt sah, schlug hilflos mit den Tentakeln um sich, während er sich zur Flucht wendete und schlurfend durch den Gang zu entkommen suchte. Der Rüsselsauger piekte ihn in den Saugfuß, um seine Flucht zu beschleunigen, und lief dann wieder zurück. Kelric lachte, als er seine eigene Gestalt wiederhatte, während sich in diesem Moment der Besitzer der Höhle, aus tiefem Schlaf aufgestört, brüllend aufrichtete.
Es war ein haariges Monsterwesen mit einer nackten geifernden Gesichtsfratze, prankenähnlichen Klauen und starken Hinterbeinen, die einen aufrechten Gang erlaubten. Es war knapp doppelt so groß wie ein Mensch, ungeheuer gefräßig und von gewaltiger geschlechtlicher Begierde nach weiblichen Lebewesen. Trotz seines Aussehens und der tierischen Lebensweise war es ein intelligentes böses Ungeheuer.
Als der Kwam seinen Gegner erblickte, lachte er donnernd. »Lord Kelric, welche Ehre!«, dröhnte er. »Komm her, lass dich umarmen!«
Kelric wich einen Schritt zurück, als ihm der tödliche Hass des Kwam entgegenschlug, und er zuckte zusammen, als das Wesen sich ganz aufrichtete und ein riesiges Symbol einer gebrochenen gelben Sonne auf der Brust zeigte.
»Elwin!«, schrie Kelric und erkannte entsetzt die Falle, in die er ahnungslos getappt war. »Nein! Nein!« Schon spürte er, wie sein Blick an dem Symbol hängen blieb, sein Körper wurde magisch angezogen, die Hände erhoben und ballten sich unter dem grausamen Zwang des Gelben Gottes, der ihn bis hierher verfolgt hatte.
»Elwin!«, wiederholte Kelric flehend. »Hilf deinem Diener, dass ich meine Hände nicht erneut mit Blut besudle!«
»Aber so komm doch, wenn du dich so danach sehnst!«, höhnte der Kwam. »Komm und kämpfe und trinke mein Blut! jeder Mord, den deine Hände begehen, bringt dich Oloïn näher! Komm nur, komm nur, er braucht deine Kraft, und dafür gibt er dir alles wieder, was du verloren hast!«
Kelric presste die Hände an die Ohren. »Nein, nein!«, stöhnte er. »Das ist eine Lüge!«
Der Kwam lachte brüllend und kam immer näher.
»Mein Bruder!«, fauchte er herzlich. »Komm her, mein Herzblatt, und lass dich zerquetschen! So viele meiner Gefährten hast du mit deinen Kräften vernichtet, und ich sehne mich nach Rache! Aber Oloïn will dich lebend, denn nur durch dich kann er die Menschen vernichten, und er hält mich zurück – aber nicht mehr lange, überleg also schnell!«
Plötzlich wechselte die Stimme zu einem entsetzlichen tiefen Bass, als der Gott selbst durch den Geist sprach: »Große Herrschaft und unzählige Freuden harren deiner – wenn du erst deine Männlichkeit wieder hast! Höre, dein Gott spricht zu dir, der die Wahrheit kennt, denn er selbst verlangte den Preis, und nur er kann dir alles wiedergeben!«
»Nein!«, keuchte Kelric. »Mein Gott ist Elwin, nicht du, du Sonnendämon! Hebe dich hinweg von mir, du Scheusal, mich bekommst du nicht! Ich bade meinen Leib nicht mehr in Blut ...«
»So stirb!«, schrie der Gott außer sich und gab das Dämonentier frei, das sich mit orkanartigem Gebrüll auf Kelric stürzte.
Die vor der Höhle Wartenden hörten tumultartigen Lärm, unterschiedliche Schreie und schreckliches Getöse. Voller Grauen drängten sie sich zitternd und bebend zusammen und erschraken unwillkürlich, als jähe Stille eintrat. Wie gelähmt verharrten auch sie, keiner wagte schon zu überlegen, was sie nun tun sollten.
Nach einiger Zeit taumelte Kelric ans Licht; er sah erschöpft, aber unverletzt aus. Die Männer umringten ihn eilig und fragten besorgt, was geschehen sei. Kelric machte eine zufriedene Geste und öffnete die Hand, auf deren Fläche ein kleines dunkelpelziges Kugelwesen krabbelte und leise »Mimimimimi« machte.
»Was ist denn das?«, fragte der Vater verblüfft.
»Das«, antwortete Kelric, »ist, beziehungsweise war euer schrecklicher Unhold. Ich habe ihn in ein Pelzwuselchen verwandelt, eine Tierart, die im Grau Land häufig vorkommt.«
Die Männer sahen sich verwirrt an und brachen dann in lautes Gelächter aus. »Und er kann sich nicht mehr zurückverwandeln?«
»Nein, das ist der eigentliche Trick«, antwortete Kelric nicht ohne Genugtuung. »Da macht sich meine Lehrzeit bezahlt – und natürlich ein gutes Gedächtnis. Ich habe seinen Urnamen verändert, und wer den nicht weiß, kann ihm nicht helfen. Sein Gott Oloïn kann dagegen auch nichts tun, denn er darf mir wohl seine Angehörigen entgegenschicken, sie jedoch nicht neu erschaffen. Hier, schenkt ihn euren Kindern! Die Pelzwuselchen sind ein wenig dumm, aber sehr possierlich, robust und zutraulich.«
Fröhlich kehrte die Gesellschaft ins Dorf zurück, und man richtete ein Fest zu Ehren des Zauberers aus.
Kelric teilte am darauffolgenden Morgen seiner Familie mit, dass er sich nunmehr verabschieden müsse. Sie waren traurig, aber nicht überrascht; allen war klar gewesen, dass der Tag des Abschieds kommen würde. Sie versuchten trotzdem, ihn wenigstens noch für ein paar Tage zum Bleiben zu überreden, aber er lehnte ab und sagte Lebewohl, so schwer es ihm auch fiel, denn er wusste, dass es ein Abschied für immer war.
Aber er musste fort, vor den Versuchungen des Gottes fliehen; nun nicht mehr Jäger, sondern Gejagter in seinem eigenen Kampf.