Umriss der Geschichte von Lerranee


Fandor weckte Kelric am zweiten Morgen zu ungewohnter Stunde; er verzehrte lustlos das reichhaltige Frühstück, war aber Fandor für seine freundschaftlichen Bemühungen dankbar und wurde richtig fröhlich, als Fergon ihn aufsuchte. Sie unterhielten sich angeregt auf dem Weg zum Einführungsraum; hier verabschiedete Fergon sich freundlich und wünschte Kelric alles Gute. Fünf andere Jungen gleichen Alters saßen bereits auf den schmalen Stühlen, ein wenig blass und sicherlich nicht weniger nervös als Kelric. Der Raum selbst war wohl der kleinste der ganzen Schule und bereitete in seiner typischen schulmeisterlichen Nüchternheit auf die anderen Klassenzimmer vor. Kelric konnte sich nicht vorstellen, viele Stunden ruhig an einem Platz sitzen zu müssen und dem Lehrer aufmerksam zuzuhören. Nach einigem Zögern stellte er sich vor und setzte sich dann neben einen kleinen dicken Jungen, der Tarmin hieß und unterbrochen kandierte Früchte in sich hineinstopfte.

»Glaubsch du, ich kann die nachher mit insch Schimmer nehmen?«, nuschelte er mit vollem Mund.

Kelric stiebitzte sich eine Kirsche und erwiderte kauend: »Ich glaube nicht. Fandor sagt, dass sie streng Disziplin wahren. Lass es also lieber bleiben.«

Tarmin betrachtete unglücklich seinen halbvollen Beutel, steckte ihn dann seufzend unter die Bank und versuchte, den klebrigen Mund und die verpappten Finger sauber zu bekommen. Die anderen Jungen lachten ihre Nervosität hinaus; Kelric sah, dass sie alle die gleichen dunklen Kittel trugen, und entschloss sich Fandor zu fragen, bei wem man die Kleidung erhielt.

Schließlich kam ein Lehrer, der noch recht jung war und fröhlich aussah; er stellte sich als Herr Celion vor und bat die Jungen um ihren Namen und einen kurzen Lebenslauf. Als die Reihe an Kelric war, lächelte der Zauberer: »Ah, Kelric, von dir spricht bereits die ganze Schule. Ich denke, du erzählst uns deine Geschichte in der Pause nach dem Mittagessen, denn keiner will sie versäumen. Wir wollen uns erst einmal der Zukunft zuwenden.« Er lehnte sich halb an seinen Tisch und faltete die Hände. »Meine jungen Freunde, ihr seht einer harten, aber sehr schönen Zeit entgegen. Zunächst werdet ihr fünf Jahre lang in ganz allgemeinen Dingen unterrichtet, die die Welt und ihr Leben betreffen. Denn nur wer die Dinge beim Namen kennt, kann auch ihren Ursprung erforschen und dadurch Macht über sie erlangen. Ein Zauberer muss über ein perfekt fundiertes Wissen verfügen, wenn er sich die Magie untertan machen will. Dieses Wissen befähigt uns nicht nur zur richtigen Anwendung der Magie, sondern auch dazu, die Menschen in weitgehend friedlicher Weise vor allem Unbill zu schützen. Durch unsere Kunst sind wir nicht gezwungen, das Schwert zum tödlichen Streich zu erheben. Wir töten nur dann, wenn es dem Grundsatz der Hilfe entspricht. Aber das werdet ihr später noch lernen. Nach fünf Jahren jedenfalls beginnt die zweijährige magische Ausbildung, in der ihr vor allem Konzentration erlernt und die Strömungen und Ursprünge aller Dinge zu erfassen und zu verändern suchen werdet. Wenn ihr siebzehn seid, habt ihr die Erste Prüfung vor euch, die euch gestattet, endlich die Magie in der Praxis anzuwenden. Aufgrund eurer ausführlichen Ausbildung wird euch das nicht schwer fallen, aber es kostet viel Kraft, und ihr werdet lernen, die Magie nur im Notfall einzusetzen. Wenn ihr diese Prüfung macht, gibt es kein Zurück mehr, aber darüber braucht ihr jetzt noch nicht nachzudenken.

Anschließend beginnt die intensive magische Ausbildung von weiteren fünf Jahren – bei manchen dauert sie nur drei Jahre –, dann macht ihr die Zweite Prüfung und dürft euch fortan Zauberer nennen. – Ja, Tarmin?«

»Aber was ist, wenn man die Prüfungen nicht besteht?« Der Dicke stellte die Frage, die alle beschäftigte.

Celion lächelte. »Keine Angst. Die Prüfungen sind auf jeden Einzelnen genau zugeschnitten, es gibt kein Versagen. Und nicht jeder muss ein Heiliger Wanderer werden. Laïre braucht viele Hände für die Schüler und die Wirtschaft. Wäre es schlimm für dich, eine solche Arbeit zu übernehmen?«

Tarmin strahlte. »Nee«, erwiderte er. »Ganz und gar nicht.«

Die anderen lachten.

Celion fuhr ernster fort: »Einigen von euch werde ich später den Geschichtsunterricht geben, aber vorab möchte ich euch schon in Kurzfassung die Urlegende erzählen.« Er unterbrach sich kurz, um die Jungen zu mustern, deren Gesichter allesamt den Ausdruck angespannter Erwartung zeigten. Kelric rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her, seine Blicke durchbohrten den Lehrmeister, damit er endlich redete.



Vor vielen Äonen, als Ishtrus Traum noch jung war und die EINHEIT noch bestand, gab es einmal eine Riesenwelt, die man das Weltenreich nannte. Viele große Völker lebten auf ihr und sogar den acht Monden, die sie mit Sonnenseglern bereisten, deren Macht und Größe bis heute unerreicht ist. Das Weltenreich war einzigartig im Gefüge des Alls, und seine Melodie drang bis in die entfernten Tiefen.

Doch dann geschah, was niemals geschehen durfte, die EINHEIT wurde getrennt und das Gefüge kam ins Wanken, und es entstanden Regenbogen und Finsternis, und der Ewige Krieg begann. Auch die Völker des Weltenreichs nahmen daran teil, doch wurden sie alle während des Feuersturms vernichtet, als die Schlafende Schlange erwachte und begann, Ishtrus Traum zu zerstören. Bis der Meister der Mächte eingriff, war es schon fast zu spät, viele alte und große Mächte nicht nur des Weltenreichs hatten ihr Leben verloren. Die Melodien mancher Gegenden des Alls sind für immer verstummt, und auch in Weltenreichs Lied waren viele Töne zerstört.

Aber der Meister der Mächte hatte die endgültige Vernichtung aufgehalten, was ein bitterer Trost war, jedoch auch eine neue Hoffnung. Ein zweiter Traum begann, und die Überlebenden mussten neu ordnen, was noch übrig war.

Nur zwei der vielen Götter Weltenreichs, Elwin der Sanfte und Ringwe der Feine, kehrten nach der Großen Wandlung und Erneuerung zurück auf die verwaiste Welt und fingen die letzten Klänge ein, die gerade davon schweben wollten. Als sie gerade daran gingen, die Melodie neu zu weben und an die Schöpfung zu denken, erschien ein dritter Gott, Oloïn der Gelbe, der für die Finsternis gekämpft hatte und keine Welt mehr besaß. Er wollte Weltenreich für sich allein, denn die Gefolgschaft seiner Völker, die die Vernichtung überlebt hatten, war noch groß, und in seiner Gier nach Macht wollte Oloïn eine starke Bastion der Finsternis auf Weltenreich gründen.

Elwin und Ringwe verteidigten erbittert ihre Welt, aber Oloïn gab nicht nach, und so wurde der Kampf immer schrecklicher und gewaltiger, und plötzlich zerbarst Weltenreich im Chaos der Mächte in unzählige kleine Splitter. Ihr sterbendes Licht glühte nochmals auf wie eine Sternwolke, und aus ihr hervor kam ein großer Splitter, rund wie eine Welt, der funkelnd wie ein Stern in die Außenlande zu fliehen versuchte. Die beiden Götter des zerstörten Weltenreichs hielten den Splitter an und sahen, dass er groß genug für eine Welt war und dass sein Name aufgrund seiner Herkunft nur Lerranee, Sternwolke, lauten konnte, und dass dieses letzte Erbe Weltenreichs bewahrt werden musste. Aber immer noch wollte Oloïn alles für sich allein, und der Kampf wurde fortgesetzt, und schließlich konnte der Gelbe Gott Ringwe mit seiner finstren Macht binden, und er verbannte ihn auf eine unbekannte Insel mitten im heutigen Kalaga Meer, weit entfernt von unserem Kontinent. Elwin erkannte bald, dass er allein den Gelben Gott niemals besiegen konnte, und da er keinen anderen Ausweg mehr wusste, gab er Oloïns Herrschaft schmeichelnd nach, bis jener so eingelullt war, dass Elwin ihm listenreich die Hälfte der Macht über den Kontinent abrang, den jener soeben für seine Völker vorbereiten wollte. Oloïn bemerkte später seine Dummheit und geriet in schrecklichen Zorn darüber; wieder brach er den Frieden, trieb Elwin zurück und besetzte den ganzen Kontinent mit seinen Völkern. Elwin musste kummervoll Oloïns Taten zusehen, ohne sich selbst oder dem gefangenen Ringwe helfen zu können, bis eines Tages zwei schwerkranke, sehr alte Männer zu ihm kamen.

Sie hießen Milmadan und Gornedan und nannten sich die Gründer der Ersten Menschheit. Elwin aber erschrak, als er in ihnen Eldaron und Eldamar erkannte, den Zorn der Götter und den Held aus Eisen, die zu den größten Helden des Ewigen Krieges auf Seiten des Regenbogens zählten und dafür mit ihrer Unsterblichkeit bezahlt hatten. Sie sprachen zu Elwin dem Sanften, dass sie bald sterben müssten, aber zuvor wollten sie noch das Menschenvolk einer ebenfalls sterbenden Welt retten, das sie einst dort gegründet hatten. Elwin versprach ihnen sofort Hilfe und sammelte seine Kräfte, und als die Gelegenheit günstig war, schenkte er ihnen die heutigen Drei Königreiche, Laïre und einen Teil des Grau Landes. Zusammen mit den Brüdern errichtete er einen Schutz gegen Oloïns Zerstörungswut, vertrieb dessen dunklen Völker und brachte die wenigen Überlebenden der Ersten Menschheit nach Lerranee. Dies sind unsere Vorfahren.

Eldaron und Eldamar zogen in Frieden davon auf immer. Oloïn aber vermochte seine Niederlage nicht zu verwinden, und wieder brach ein Kampf aus, in dessen Verlauf magische Gegenden wie das Regental und die Salzwüste entstanden. Der Kampf dauert an bis heute, und Elwins Macht wird immer schwächer, und der Tag wird kommen, an dem wir alle um unser Leben werden kämpfen müssen, wenn sich zuvor nicht eine Legende erfüllen wird, deren Ende offen ist. Denn solange es Zauberer gibt, haben wir Hoffnung, uns behaupten zu können. Oloïn versucht oft, uns zu verführen, um uns zu seinen Dienern zu machen, aber wir streben nicht nach Macht, und durch unser einsames Leben können wir nicht erpresst werden.



Celion machte eine kurze Pause. Kelric saß da mit offenem Mund und leuchtenden Augen. Die Bedeutung der Zauberer war noch viel größer, als er jemals angenommen hatte.

»Wie alle Völker sind auch wir Gast auf dieser Welt«, fuhr Celion fort, »und es ist unsere Aufgabe als Zauberer, die Menschen ohne Magie vor dem Hass von Oloïns Völkern zu schützen. Und dennoch sind auch wir bedroht, denn ein Feind erwuchs aus unseren eigenen Reihen, der seine persönlichen Ziele verfolgt. Er dient weder Elwin noch Oloïn, nur sich selbst.«

Kelric beugte sich nach vorn. Seine Hände waren vor Aufregung schwitzefeucht. Nun erhielt er die Antwort auf seine Fragen nach dem geheimnisvollen Alten Zauberer, dessen war er sicher. Der, dessen Name nicht öffentlich genannt werden durfte ...

»Er erhielt seine Ausbildung vor dreitausend Jahren, und man nannte ihn Aranwir den Eisigen, denn er beherrschte den Eiszauber wie kein anderer, und seine Macht war so groß, dass man glaubte, er würde der beste aller Lordmeister. Aber er kehrte in sein Heimatland Lindala zurück und zwang den damaligen König Lindhelm unter seinen Willen, um sein eigenes Reich zu errichten, und bald wurde sein Name verflucht, und niemals mehr wird er außerhalb von Laïre ausgesprochen. Aranwirs Charakter war von Anbeginn böse, und seine wachsende Machtgier ließ ihn unvorstellbar grausame Dinge tun, und das bis zum heutigen Tag. Ja, er lebt heute noch! Niemand weiß, wie das möglich ist, und man nennt ihn nun den Alten Zauberer. Er ist Laïres persönlicher und schrecklicher Feind, denn er tötet rücksichtslos alle Zauberer, die gegen ihn zu Felde ziehen. Keiner von ihnen kehrte mehr wieder.«

»Ist er denn wirklich so mächtig?«, fragte ein Junge zitternd.

»Er war und ist der Größte. Seine Macht konnte selbst den Tod besiegen, und sein Verstand ist voller Eis, ohne Gefühle. Er tötet alle, die ihm begegnen. – Kelric ... was ist denn?«

Der Junge saß sehr bleich, mit geweiteten Augen da.

»Melwin ... «, flüsterte er. »Er kommt doch aus Lindala ... «

Celion nickte. »Aranwir lebt völlig verborgen in einem abgeriegelten Teil des riesigen Schlosses Lefrad, das beinahe eine Stadt für sich ist. Melwin erzählte mir, dass er ihn einmal ganz von weitem an einem Fenster vorbeigehen sah. Niemand bekommt Aranwir zu Gesicht, nicht einmal seine Bediensteten. Bis heute wissen wir nicht, welche genauen Ziele er verfolgt. Wir wissen nur, dass er unser Feind ist.«

»Dann ist Melwin doch König Lindhelms Sohn?«, fragte Kelric.

»Nein, höchstwahrscheinlich nicht«, meinte Celion. »Das Gerücht hält sich hartnäckig, aber Lefrad ist groß, wie gesagt, und hat viele Bewohner. Wäre Melwin der Prinz, würde Aranwir ihn kennen und hätte ihn längst getötet, denn seine Macht ist sehr groß.« Er lächelte und verschränkte die Hände ineinander. »Für heute wollen wir es damit genug sein lassen. Genießt den letzten freien Tag, und seid heute Abend pünktlich beim Lordmeister! Ich wünsche euch alles Gute.«

Tarmin hob erneut die Hand und fragte schüchtern: »Und wenn einer gar nicht Zauberer werden will?«

Celion musterte ihn, dann erwiderte er freundlich: »Wir sind doch keine Sklaventreiber. Du wirst sehen, dass du dich hier bald wie zu Hause fühlen wirst.«

»Ja, Herr«, sagte Tarmin kläglich. »Ich hoffe, Ihr habt recht.«

Kelric starrte ihn entgeistert an, dann brüllte er los: »Wie kann man nur so ein schwabbliger Weichling sein! Sitzt da wie ein Wickelkind und greint nach der Mama!«

Tarmin glotzte ihn mit aufgerissenen Augen an und begann tatsächlich zu heulen. Ein Tumult entstand, als die anderen gemeinsam über ihn herfielen.



Celion verschwand unbemerkt und schloss leise lächelnd die Tür hinter sich. Auf dem Gang begegnete er einem älteren Lehrer, der verwundert dem Lärm lauschte.

»Was ist denn da los?«, fragte er.

»Die Neuen prügeln sich«, berichtete Celion. »Der Dicke hat sich wie erwartet Ärger eingehandelt. Der Lordmeister will ihn zum Verwalter ausbilden lassen.«

»Zum Verw ...?! Ich glaube, Marbon wird alt.«

»O nein! Der hat noch die scharfen Augen eines Himmelsstürmers. Tarmin ist völlig verzogen, aber seine Kameraden helfen ihm schon. Sie werden bald einträchtig nach einem Brunnen suchen, um die erhitzten Gemüter zu abzukühlen. Kelric ist dabei, und der Junge hat einen klaren Verstand.«

»Wie ist er so?«

Celion hob die Schultern. »Zwiespältig wie Melwin. Ich spürte seine Kraft, aber er machte keinen Versuch, meine Gedanken zu lesen. Fergon erzählte, dass er bereits Magie anwenden kann.«

»Hmm«, brummte der ältere Zauberer. »Er ist also tatsächlich ungewöhnlich. Marbon hofft vielleicht nicht zu Unrecht, dass er Aranwir vernichten wird.«

Celion wandte den Kopf zurück. »Wenn der Lordmeister da nur seinen Willen nicht unterschätzt«, murmelte er ahnungsvoll.



»Was hast du denn angestellt?«, prustete Fandor los, als er Kelric mittags mit einem blutunterlaufenen linken Auge an einem Brunnen entdeckte.

»Ich hab mich geprügelt«, grinste Kelric. »Hat Spaß gemacht.«

Fandor lachte schallend. »Und wer hat gewonnen?«

»Keiner. Wir haben alle blaue Augen. Wir mussten irgendwann so sehr lachen, dass wir nicht weitermachen konnten. Was ist – gehen wir essen?«

»Natürlich, alle warten schon auf dich. Hör mal, wenn ich dir beim Aufholen des Stoffes helfe, könntest du doch in meine Klasse kommen. Du bist schon viel weiter als die Anfänger, und mir tut die Übung gut. Ich komme mit zum Lordmeister, wenn du willst.«

»Gern, Fandor. Ich muss lernen. Viel lernen.«

»Nanu?«

Kelric nickte ernst; ein seltsames Feuer brannte in seinen Augen. »Herr Celion hat uns Lerranees Urgeschichte und vom Alten Zauberer erzählt. Aranwir ist eine Gefahr, die Laïre selbst bekämpfen kann, denn er wurde hier ausgebildet. Aber der Kampf gegen Oloïn ist eine andere Sache, und genau gegen ihn werde ich antreten, sobald ich Zauberer bin, immer wieder, um den Menschen Frieden zu geben.«

Fandor blickte ihn erschrocken an.