24. Von Bestimmung und Hoffnung
Ich kniete unweit der Soltarstatue auf einer steinernen Bank. Mit der Hilfe zweier Tempeldiener hatte ich mich meiner Rüstung entledigt, und mein Arm lag nun vor mir auf einem polierten steinernen Tisch. Meine Hand lag über eine Ecke des Tisches hinweg auf einer Erhöhung im Stein. Blutiger Branntwein floss in einer Rinne ab, um unter dem Tisch in einer Schale aufgefangen zu werden.
Mir gegenüber saß ein alter Mann in den Gewändern eines Adepten Soltars, er hatte die Wunde soeben mit Branntwein gewaschen und überprüfte sie nun mit geschickten Fingern. Nach der Waschung mit dem Branntwein war es keine Erholung, seine Finger in der Wunde zu spüren und wieder atmen zu können. Ich mochte Schmerzen nicht.
»Hhm. Havald ist Euer Name, sagtet Ihr?«
Ich nickte.
»Ich fürchte, es sieht schlecht aus für Euch. Er hat Eure Adern und die Sehnen darunter zertrennt. Die Wunde wird schwären, und Ihr werdet die Hand verlieren. Seht, Eure Finger sind schon bläulich. Ich werde amputieren müssen.«
Ich schloss die Augen. Götter, was sollte das? Hätte ich amputieren wollen, hätte Seelenreißer mir den Gefallen erwiesen!
»Heilt die Wunde!«
Er zog eine Augenbraue hoch und sah mich erstaunt an. »Soll ich Euch die Adern und Sehnen wieder zusammennähen? Wie stellt Ihr Euch das vor?«
Ich fing seinen Blick ein und hielt ihn, während ich mit der anderen Hand in eine Tasche griff und ein Döschen auf den Rand des Tisches legte, ein Döschen, auf dessen Deckel das Zeichen Soltars prangte. »Genau so, wie ich es sagte, Priester. Den Rest wird Soltars Gnade mir schenken.« Ja. Spätestens in dem Moment, wenn Seelenreißer erneut ein Leben nahm. Aber das erzählte ich ihm wohl besser nicht.
Seine Augen weiteten sich, als er das Döschen sah. Mit zitternden Fingern öffnete er es, sah die gekrümmte goldene Nadel und das Garn in der weißen Paste.
»Das … das ist … Wo habt Ihr das her?«
»Ein Geschenk eines Tempels unseres Gottes«, sagte ich. »Nun fangt an. Lasst Soltar Eure Hände führen und vertraut seiner Weisheit mehr als Eurer.«
Er tat nichts, sah mich nur an. »Wer seid Ihr?«, fragte er dann leise.
»Im Moment bin ich jemand, der so lange vor sich hinbluten wird, bis er eher bei Soltar ist als Ihr. Und wenn Ihr nicht anfangt, werde ich ihm sagen, was ich davon halte.«
Er sah mich überrascht an, dann lächelte er. »Das darf ich ja wohl nicht geschehen lassen, oder?« Er ergriff die goldene Nadel mit der linken Hand, schloss die Augen, atmete tief durch und begann, ohne die Augen zu öffnen, mit seinem Handwerk.
Ich wusste nicht, wie lange ich so dasaß. Ich hielt still, während die Nadel auf und ab ging, ich dachte nichts, leerte mich, damit ich nicht zuckte und die Arbeit des Priesters zunichte machte. Mein Blut tropfte weiter in die Schale, und fast war es, als schliefe ich.
Ein anderer Priester gesellte sich zu uns, nahm zu meiner Rechten Platz und beobachtete das Werk des Chirurgen.
»Es ist lange her, dass Ihr das Haus Eures Gottes betreten habt«, sagte er nach einer Weile. Er hatte recht. Vor über zweihundertundfünfzig Jahren hatte man mich rituell gewaschen und mir die Totenmesse gelesen. Seitdem hatte ich mich nicht mehr unter dem Dach befunden, das mir bis dahin mein Leben lang Zuflucht gewährt hatte.
»Ja, das ist eine lange Zeit«, sagte er. »Aber ich hoffe doch, Ihr betet regelmäßig? Die Götter möchten verehrt werden. Sie sind alle etwas eitel.«
Wer mochte nicht angebetet werden? Die Menschen strebten danach, warum nicht auch die Götter? Es war ihr Recht, wenn sie Wunder wirkten, konnten sie auch mal einen Dank erhalten. Eitel … eine seltsame Formulierung, ich hätte sie nicht gewählt, aber vielleicht stimmte es.
Regelmäßig gebetet hatte ich nicht. Ein Mal alle zweihundertundfünfzig Jahre galt wohl nicht als regelmäßig. Oder nur, wenn ich wieder so lange wartete. Ich lachte leise in mich hinein, Blutverlust ließ einen seltsam euphorisch werden. Nicht zu fassen, dass der kleine Bastard es fertig gebracht hatte, mich derart zu verletzen.
»Der Dieb hat nur seine Aufgabe erfüllt. Er lebt, um zu stehlen«, sagte der andere Priester sanft. »Aber er tat mehr als das. Er brachte Euch unter das Dach Eures Gottes. Vielleicht war dies die einzige Bestimmung des Diebs.«
Eine armselige Bestimmung, dachte ich. Selbst einem Dieb gönnte ich mehr. Ich hätte früher oder später schon noch einen Tempel aufgesucht, auch ohne den Dieb.
»Aber es wäre an einem anderen Tag gewesen. Und manche Tage sind anders als andere. Sagt, hat Euch das heilige Garn auf Euren Reisen geholfen?«
Ja. Ich hatte viele Wunden empfangen, die nur wieder zusammenwuchsen, weil das Garn sie heilte. Es war, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Gottesgeschenk, und auch Zokora hätte in jener Bärenhöhle nicht überlebt ohne dieses Garn. Der Priester vor mir nähte weiter, ich sah, wie eine sauber genähte Ader sich schloss, bewunderte seine feine Arbeit und auch die Feinheit der Nadel. Wenn er den Faden durch seinen Stich zog, legte er dort einen Hauch der Paste auf, denn der Faden war in die Salbe eingelegt gewesen. Ich konnte fast zusehen, wie die Naht heilte.
»Ihr teilt dieses Geschenk Eures Gottes auch mit anderen, die seine Gnade benötigen? Das ist gut so«, sagte der Priester. »So ist es gedacht. Aber, um auf den Dieb zurückzukommen, er brachte Euch heute hierher. Denn Ihr werdet benötigt. Weniger Ihr selbst als das heilige Garn.«
Der Priester vor mir nähte nun die Haut zusammen, ich war beeindruckt, wie schnell er so weit gekommen war. Meine Finger kribbelten und verloren nun die fahlblaue Färbung. Er war mit Sicherheit der beste Chirurg, dem ich je begegnet war.
»Er folgte Eurem Rat. Seine Augen sind noch immer geschlossen. Und ja, es ist ein Meisterwerk der Heilkunst … Doch Größeres wird von ihm verlangt werden, denn seht, was im Eingang des Tempels geschieht.«
Ich schaute auf und sah über das gebeugte Haupt des Priesters hinweg eine Handvoll Leute in den Tempel stürmen. Eine alte Frau, eine Großmutter, aber noch rüstig, in kostbare Gewänder gekleidet, ihr Gesicht von Gram verzehrt, Panik in ihren blassen Augen, eilte voraus. In ihren Armen lag eine junge Frau, kaum älter als ein Dutzend und vier, blutüberströmt und leblos.
Hinter ihr her eilten Wachen, die sich hastig ihrer Schwerter entledigten, und ein hoch gewachsener Mann mittleren Alters. Sein Gesicht ähnelte dem des Mädchens und der alten Frau.
Selbst auf die Entfernung sah ich den zerfleischten Körper; die Wunde war noch schlimmer als die, welche Zokora in der Bärenhöhle erlitten hatte.
»Es gibt seit einigen Tagen«, fuhr der Priester mit seiner ruhigen Stimme fort, »eine Sensation auf diesem Markt. Ein Bestienhändler stellt einen Greifen zur Schau. Dieses majestätische Tier ist ein erbärmlicher Anblick. Seine Schwingen wurden gestutzt, sein Schnabel mit Bolzen durchbohrt – das erlaubt ihm nur noch ein beschränktes Öffnen des Schnabels –, seine Augen sind meist mit ledernen Kappen verbunden, sodass das Leid in ihnen die Menschen nicht erreicht. Eine schwere Kette hält ihn an einem Pflock, der ungeschickt zwischen die Platten des Marktes getrieben wurde. Als einer der Männer, die ihn füttern, ihn mit einem Stock schlug, zuckte das Tier zusammen und riss den Pflock aus dem Boden. Der Mann, derselbe Mann, der eben jenen Bolzen vorher unauffällig gelockert hatte, tat dies, als die jüngste Tochter des Emirs das arme Wesen bewunderte und gerade verkündete, dass sie dem Greifen die Freiheit schenken wolle. Doch dieses arme Geschöpf wusste nur, dass der Pflock sich löste. Kann man es dem Tier verdenken, dass es blind in die Freiheit flüchten wollte?«
Wohl kaum, dachte ich und beobachtete, wie die alte Frau sich suchend umsah und ihr Blick auf unser kleines Tableau fiel. Sie konnte von ihrer Warte aus gut erkennen, dass hier ein Chirurg an der Arbeit war.
»Es war ihr Schicksal, dass sie dem armen Tier im Weg stand. Zuerst warf der Greif sie nur um, aber der Mann hielt ihn an der Kette zurück und zwar so, dass der Greif über der wehrlosen jungen Frau stand. Dann stach er mit einer Lanze auf den Greifen ein und brachte das Tier zur Raserei. Es wusste nicht, wen es mit seinen Krallen zerriss. Das Ergebnis seht Ihr hier. Der Greif ist nun ohne sein eigenes Verschulden eine menschenmordende Bestie und der Mann ein Held, weil er den Greifen bezwang. Die Tochter des Emirs steht nun an der Schwelle zu Soltars Reich. Alles kam genau so, wie es geplant war.«
Woher wusste der Priester das alles? Es machte keinen Unterschied. Priester wussten viel, und vieles unterlag dem Schweigebann. Selbst wenn sie, wie in diesem Fall, von einem geplanten Verbrechen erfuhren. Dann musste es hart sein zu schweigen.
Der Priester hatte gerade den letzten Stich getan, als die alte Frau uns erreichte. Sie hielt ihm ihre Enkelin entgegen; ich verstand nicht, was sie sagte, es war, als hätte sie keine Stimme, obwohl ich sah, wie ihr Mund sich bewegte.
Ich machte Platz, und die Tochter wurde auf den Chirurgentisch gelegt, von dem der Priester und ich nur eine Ecke in Beschlag genommen hatten. Ich sah nun aus nächster Nähe die fürchterlichen Wunden.
»Nur ein Wunder kann sie retten, Herrin!«, rief der Priester mit Verzweiflung in der Stimme. »Jeder in Gasalabad verehrt die Essera Faihlyd, so auch ich! Ich würde mein Leben geben, um sie zu retten, allein … ich kann nicht!«
Er rang verzweifelt die Hände, und seine Miene sagte, dass er jedes Wort so meinte. Ich sah, wie die alte Frau in sich zusammensackte und ihr Sohn neben sie trat, um sie zu stützen. Noch bewegte sich der jugendliche Brustkorb, noch hielt das Leben die Essera Faihlyd an diesem Ort. Doch die Wunden waren fürchterlich und ich teilte die Ansicht des Priesters: Bald würde die junge Sera vor unserem Gott stehen.
Ich sah den Gram auf den Gesichtern aller um uns herum. So jung wie sie war, hatte diese Frau die Herzen der Menschen doch erobert. Wer war sie, dass sie schon so viele so tief berührte?
Ich betrachtete ihr Gesicht genauer und fand eine Antwort. Manchen Menschen gaben die Götter etwas ganz Bestimmtes. Es war nicht an einer Einzelheit festzumachen, aber andere Menschen erkannten es, wenn sie es sahen. Es gab Menschen, in deren Antlitz man für sich Hoffnung finden konnte. Hoffnung, das letzte Geschenk der Götter an die Menschen.
Der andere Priester war nicht mehr zu sehen, hatte mit mir Platz gemacht, er war wohl hinter mich getreten. Von dort hörte ich seine ruhige Stimme.
»Ein Mensch hat für sie dieses Schicksal vorgesehen. Götter planen anders, und wie für Euch ist auch für sie die Zeit noch nicht gekommen. Nun wisst Ihr, warum ein Dieb Euch heute in dieses Haus brachte. Ihr könntet nun den Chirurg daran erinnern, dass er heute schon einmal ein Wunder gewirkt hat. Es wird ihm die Zuversicht und den Glauben geben, den er für dieses Werk benötigt. Tut dies, indem Ihr ihm mit Eurer geheilten Hand ein ganz bestimmtes Döschen reicht …«
Ich beugte mich vor und berührte die Schulter des Chirurgen. Er sah zu mir – alle sahen zu mir –, als ich ihm mit meiner rechten Hand eine goldene Nadel und ein Döschen reichte. Nur ein feiner Strich an meinem Handgelenk war von seiner Operation noch zurückgeblieben, seine Augen weiteten sich, als er das sah.
»Priester«, sagte ich. »Beginnt Euer Werk, Soltar wird Euch leiten. Und ihr alle, auch die Familie, weicht zurück, damit ihr das Werk des Chirurgen und unseres Gottes nicht behindert.«
Man sah mich an, entfernte sich von dem blutigen Tisch, unter dessen Fuß eine Schale mit Blut überfloss. Der Priester schloss die Augen, ergriff das Gefäß mit dem Branntwein und fing an, die Wunden zu waschen.
Langsam erhob ich mich, alle Augen waren auf die Hände des Priesters gerichtet, niemand sah auf mich, als ich im Stillen meine Sachen an mich nahm und mich abseits des Geschehens wieder ankleidete. Eine Gruppe von Priestern hatte sich mittlerweile zu dem Chirurgen begeben, kniete hinter ihm und sang leise eine Lobpreisung an den Herrn des Todes, eine Totenmesse für diese junge Frau.
Als ich fertig angekleidet war, sah ich mich im Tempel um. Ich konnte einen ganz bestimmten Priester nicht erblicken. Also begab ich mich vor die Stufen, die zu Soltars verhüllter Figur führten.
»Ich danke Euch, Herr.« Natürlich erhielt ich keine Antwort. Aber ich lächelte, als ich mich abwandte und durch das Tor sein Haus verließ. Ich ging die Stufen des Tempels hinunter und massierte die kribbelnden Finger meiner rechten Hand.
Drinnen hörte ich die Priester singen.
Das Döschen ließ ich zurück, denn das Garn darin, so wusste ich, würde aufgebraucht sein, wenn die Essera Faihlyd ihre Augen wieder öffnete.