2. Das Maß der Vernunft

 

Als Leandra und ich in den Gastraum zurückkehrten, hießen uns die prasselnden Feuer in den beiden Kaminen an den Längswänden willkommen. Holgar saß an seinem Tisch und murmelte irgendetwas in seinen Becher. An einem anderen Tisch saßen Janos und Sieglinde, zusammen mit Zokora und Varosch, der sorgfältig Zokoras Schwert polierte. Torim, ein Bergarbeiter, und Ulgar, ehemals eine Wache Holgars, saßen auch dabei. Sie spielten Würfel um einen Einsatz aus Kupferpfennigen. Hinter der Theke stand Eberhard auf einem Schemel und wischte die Oberseite der Fässer hinter der Theke ab, während Maria die Tische putzte.

Kennard saß an dem Tisch, den Leandra und ich gern benutzten. Als wir hereinkamen, sah er auf und lächelte.

»Maria, Tee für uns alle«, sagte er zu der Tochter des Wirts. Sie lächelte ihm zu, nickte und eilte in die Küche. Kaum dass wir uns gesetzt hatten, war sie schon wieder zurück und brachte auf einem Tablett eine irdene Teekanne und drei Schalen.

Als ich Kennard das erste Mal gesehen hatte, war er mir als ein Mann erschienen, der wohl gut und gern drei Dutzend und zehn Jahre erlebt hatte. Er war groß und schlank, besaß die Schultern eines Athleten und die Bewegungen eines Tänzers. Wie schon häufiger dachte ich beim Anblick seines Gesichts, dass ich ihm schon einmal irgendwo begegnet war, aber noch immer fiel mir nicht ein, wo.

Sein Haar hatte die Farbe von altem Eis und obwohl voll, war es militärisch kurz geschnitten, seine grünen Augen waren aufmerksam und funkelten oft amüsiert. Tiefe Lachfalten strahlten aus den Winkeln seiner Augen, die Nase hätte zu einem Adler gepasst, und das energische Kinn mit seinem schmalen Mund machte das Ganze zu einem Gesicht, das Energie und Durchsetzungsvermögen zeigte. Dennoch war es glaubhaft, dass er ein Gelehrter war: Die Spitzen der Finger seiner linken Hand waren eingefärbt mit Tinte, und er schrieb viel in eines seiner Bücher.

Ein seltsamer Mann, dieser Kennard. Aber er war mir sympathisch, und er lachte gern und häufig.

»Ihr schnitzt gerade die Königin?«, fragte er und deutete auf das Stück Holz, das ich auf dem Tisch zurückgelassen hatte.

»Könnt Ihr sie schon erkennen?«, fragte ich ihn, während Leandra vorsichtig die grobe Figur aufnahm und von allen Seiten betrachtete.

»O ja«, sagte er lachend und sah bedeutsam von mir zu Leandra.

»Hast du mich als Modell gewählt?«, fragte Leandra.

»Welch besseres Modell könnte ich finden«, sagte ich und deutete im Sitzen eine galante Verbeugung an.

»Wer wird die schwarze Königin?«

»Da fragt Ihr noch?« Kennard warf einen Blick hinüber zu Zokora. »Da gibt es wohl wenig Auswahl.« Er zog an seiner Pfeife. »Wenn Ihr wollt, übersetze ich Euch nun gern die Passage mit der Beschreibung des Tores und der Muster, die es braucht, um aktiviert zu werden.«

»Denkt Ihr, wir können es noch benutzen nach der langen Zeit?«, fragte Leandra.

Kennard verzog abschätzend das Gesicht, während ich vorsichtig das Logbuch aus meinem Wams holte. »Vieles von dem, was Askannon erschuf, ist noch immer wirksam. Warum nicht auch die Tore? Wissen kann es niemand, denn außer Euch besitzt niemand mehr die Steine, um es herauszufinden.«

Er nahm das Logbuch mit einer Ehrfurcht entgegen, die zu dem Respekt eines Gelehrten gegenüber alten Dokumenten passte, aber noch öffnete er es nicht, sondern ließ lediglich die flache Hand auf dem alten Leder ruhen.

»Zwei Dinge solltet Ihr noch wissen, Havald. Als Askannon seine Krone niederlegte, übertrug er die Regierung der alten imperialen Stadt auf den Kommandanten der Bullen, den Herzog. Dieser ist sein Statthalter und regiert immer noch nominell im Namen des Imperators. Wenn Ihr Euer Ziel erreicht, würdet Ihr großes Wohlwollen ernten, gebt Ihr ihm dieses Buch.« Er sah Leandra ernst an. »Das andere betrifft zum größten Teil Euch, Maestra. In den sieben Königreichen ist die Verwendung von Magie oft verpönt. Ihr habt gesehen, was Balthasar mit dem Bergarbeiter tat, als er ihm die Seele raubte. Es ist schwer, zwischen sauberer Magie und den dunklen Künsten eines Nekromanten zu unterscheiden. Die Menschen in den sieben Reichen fanden eine einfache Lösung: Sie verbrennen gern jeden, der ansatzweise magische Fähigkeiten besitzt. In vier der sieben Reiche ist das Wirken von Magie verboten und führt zum Scheiterhaufen.«

»Und in der imperialen Stadt?«

Kennard lächelte. »Auch dort begegnet man Magie mit Misstrauen, wird sie aber kaum verbieten können. An der Stadt selbst haftet zu viel Magie.«

Wohl war mir bewusst, dass Holgar im Hintergrund die ganze Zeit vor sich hin gebrabbelt hatte, aber wenn er nicht zu laut wurde, war ich fähig, ihn zu ignorieren. Andere wohl nicht, denn das Poltern eines umgestoßenen Stuhls und das Geräusch fallenden Geschirrs hinter mir ließ mich herumfahren.

Varosch war aufgesprungen und hatte den Händler gepackt, die Faust zum Schlag erhoben.

»Ihr seid alle blind!«, rief der Händler und versuchte verzweifelt, sich Varoschs zu erwehren. »Sie hat euch alle behext! Ich sage Euch, es wird Euch genauso gehen wie meinem Freund Rigurd! Auch er lag zwischen ihren Lenden, und seht, was es ihm eingebracht hat!«

Varosch traf den Händler mit der Faust, und dieser taumelte zurück, fiel fast über einen Stuhl. Er wischte sich den blutigen Mund ab und blitzte den Wächter an. »Einen wehrlosen Mann schlagen, ja, das könnt Ihr!«

Varosch trat den Stuhl zur Seite, und Holgar flüchtete hinter einen der großen Tische. »Ja, schlagt mich, schlagt zu, mein Freund, zeigt, wie sie Euren Verstand benebelt und Euer Blut zum Kochen bringt!« Fast gelang es ihm, Varoschs nächstem Schlag auszuweichen, aber nur fast; der Händler schwankte, prallte gegen die Wand und entging mit knapper Not dem folgenden Angriff des aufgebrachten Mannes. Holgars Wange war aufgeplatzt und blutig, Varosch sah aus, als wolle er ihn zu Brei schlagen, aber der Händler schien mir in der Tat wie von Sinnen. Einen wutentbrannten Mann weiter anzustacheln zeugte in meinen Augen nicht gerade von Vernunft. Wenn niemand eingriff, dann konnte das ein übles Ende nehmen. Die meisten anderen waren wohl gewillt, dem Spektakel zuzusehen, Mitleid konnte Holgar ja kaum erwarten. Ich hatte selten jemanden gesehen, der sich leichter die Missgunst anderer zuzog, als diesen Händler. Ich erhob mich, um dazwischenzugehen.

»Seht ihr nicht, dass sie nichts anderes ist als eine Hure? Sie liegt bei jedem, der ihr gefällt, wie eine läufige Hündin«, rief Holgar.

Varosch stieß ein unartikuliertes Knurren aus und wäre Holgar wohl über den Tisch hinweg an den Hals gegangen, hätte ich ihn nicht zwischenzeitlich erreicht und ihn im letzten Moment zurückgehalten.

»Sie ist ein Ungeheuer!«, schrie Holgar lauthals. Der Mann kannte einfach kein Ende. »Seht ihr denn nicht, was sie tut? Dort habt ihr den Beweis!«

Er zeigte mit seiner blutverschmierten Hand in eine Ecke des Gastraums, wo eine Person saß, die wir alle gern übersahen.

Es war eine hübsche Frau, mit langen, geflochtenen braunen Haaren und einem markanten Gesicht. Sie war sorgsam gekleidet und saß aufrecht da, jede Falte ihres Gewands fiel so, wie sie sollte, wie dekoriert. Wie jeder andere von uns versuchte auch ich sie nicht zu beachten, wenn Zokora sie fütterte, wusch und ankleidete, all dies direkt hier im Gastraum. Vielleicht kannte Zokora wirklich kein Schamgefühl, aber ich vermutete, dass es ein subtiler Teil der Strafe war, die Zokora sich für sie ausgedacht hatte.

Diese Frau hatte vor nicht ganz zwei Wochen mit einer Armbrust Zokoras Liebhaber, den Händler Rigurd, erschossen.

Und wäre Zokoras eigener Schuss seinerzeit daneben gegangen, hätte diese Frau mein Leben beendet; ich hatte also ebenfalls wenig Grund, diese namenlose Frau zu mögen. Zokora aber hatte sie genau in dem Moment mit einem Pfeil aus ihrem Blasrohr getroffen, als sie mir die Kehle durchschneiden wollte. Das war während unseres letzten verzweifelten Ansturms auf den unterirdischen Tempel gewesen, wo der Nekromant Balthasar die Magie beschwor, die uns alle getötet hätte.

Niemand von uns wusste, welches Gift Zokora auf ihren Blasrohrpfeil gestrichen hatte, doch seine Wirkung war beängstigend. Wenn Zokora den Arm ihrer Gefangenen anhob, so hielt diese ihn so, stundenlang mitunter, bis Zokora ihn wieder für sie senkte.

Eine lebensgroße Puppe. Das Einzige, was das Gift nicht berührte, waren die Augen. Und vor allem diese Augen machten die Frau so attraktiv: wunderschöne bernsteinfarbene Augen, aus denen Verzweiflung, Angst und Hoffnungslosigkeit einen flehend ansprangen.

Jedes Mal wenn sich Zokora ihrer mit diesem scheinbar liebevollen Lächeln annahm, sie wusch oder neu kleidete, ihr die Haare kämmte oder sie fütterte, konnte man die Stimme der Dunkelelfe hören, wie sie ihrem Opfer genauestens beschrieb, welche Folter bevorstand. Wie andere zog auch ich es vor, nicht anwesend zu sein, wenn sich Zokora um ihre Gefangene kümmerte, dennoch hörte ich oft genug diese leise Stimme. Bis jetzt hatte sich Zokora nicht mit einer Silbe wiederholt. Das, was die Elfe mit solch offensichtlicher Vorfreude und Genugtuung beschrieb, wäre ein schlimmes Ende für jeden Menschen, grausam, aber doch ein unwiderrufliches Ende. Aber Zokora war im Stande zu heilen. Dieser namenlosen Frau, der einzigen Überlebenden aus Balthasars Gruppe, standen Jahrzehnte der Folter bevor. Folter und anschließende Heilung und wieder Folter. Immer wenn ich daran dachte, wurde mir schlecht, zumal ich Zokora jedes Wort glaubte. Doch die Dunkelelfe hatte nicht nur mich darauf hingewiesen, dass sie nach ihrem eigenen Recht handele und uns Menschen auch keine Anweisungen gebe, wie wir mit unseren Gefangenen zu verfahren hätten. Die tiefen Höhlen unter der Erde waren es, welche die Dunkelelfen für sich beanspruchten und als ihr Reich bezeichneten, und dort in den eisigen Tiefen hatte Zokora diese Gefangene gemacht.

Dennoch, mehr als ein Mal hatte ich schon mit dem Gedanken gespielt, die Frau mit einem Dolchstoß zu erlösen.

»Holgar, das gibt Euch nicht das Recht, so über sie herzuziehen«, sagte ich, während Varosch unter meinen Händen um seine Fassung rang. »Sie ist uns nur fremd, wie wir ihr fremd sind«, fügte ich beruhigend hinzu. Doch Holgar war der Vernunft nicht zugänglich.

»Sie hat auch nicht das Recht, Menschen zu versklaven! Bei den Göttern, sie gibt es offen zu! Und seht Varosch hier, einst einer der ruhigeren und besonneneren Männer meiner Wache. Nun ist er außer sich, weil sie ihn zwischen ihre Beine nahm, noch bevor Rigurd in seinem Grab lag. Seht die Mordlust in seinen Augen. Welchen Beweis braucht Ihr noch, dass sie ihn verhext hat?«

Diesmal brauchte ich all meine Kraft, um Varosch zurückzuhalten, doch ohne die Worte der Dunkelelfe wäre es mir vielleicht nicht gelungen.

»Varosch«, erklang Zokoras ruhige Stimme. »Halte ein. Er ist es nicht wert.«

Ich spürte, wie Varosch sich zur Ruhe zwang. Ich sah ihn an. »Kann ich Euch loslassen?«

Er nickte. »Ihr könnt, Ser Havald. Auch wenn ich nichts lieber täte, als dieser gehässigen Krähe den Schnabel zu stopfen.«

Ich nahm meine Hände von seinen Schultern. »Zokora hat recht. Und glaubt mir, es ist nicht weise, sich von solch gehässigen Worten provozieren zu lassen. Ihr folgt nur seinem Spiel, wenn Ihr Euch darauf einlasst. Hört lieber auf Eure Vernunft …«

»Ihr seid wahrlich der Richtige, um so etwas zu predigen. Ihr seid der anderen Elfenhure nicht weniger verfallen als Varosch der seinen!«, brüllte Holgar dazwischen.

Ich glaube, letztlich zog mich Janos von Holgar weg. Ich achtete nicht darauf, wer es war, zu sehr genoss ich es, endlich meiner Wut freien Lauf zu lassen. Viel zu lange schon versprühte dieser kleine, bösartige Mann ungestraft sein Gift. Hätten mich Janos und Varosch nicht gebremst, ich hätte ihn womöglich erschlagen. So aber konnte ich ihn nur einmal treffen, dann zogen mich die anderen zurück.

Mein Schlag war glücklich gesetzt. Holgar schloss sein grobes Schandmaul und rutschte, seines Bewusstseins beraubt, hinter den Tisch.

»Ser Havald. Denkt an die Vernunft«, hörte ich Varosch sagen.

Janos lachte. »Ja, Ser Havald, zeigt Weisheit!«

Ich funkelte Janos an, aber ich hätte wissen müssen, dass er sich nicht beeindruckt zeigen würde. Einen Kopf kleiner als ich, war er ungleich massiger, und selbst als er einen Banditenanführer gemimt hatte, hatte ihn der Schalk nie ganz verlassen. Seine einzige Antwort war ebenfalls schallendes Gelächter.

Ich schüttelte ihre Hände ab, richtete mein Gewand und warf ihnen beiden einen Blick zu, der sie veranlasste, noch lauter zu lachen. Dann wandte ich mich hoheitsvoll um und kehrte zu Leandra und Kennard zurück. Unter seinem Tisch fing Holgar an zu schnarchen.

»Fühlst du dich nun besser?«, fragte Leandra mit eisiger Stimme, als ich mich niedersetzte. »Glaubst du, es gefällt einer Frau, wenn man sich wegen ihr prügelt wie ein räudiger Köter?«

»Er hat dich Hure genannt.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Hätte ich jeden erschlagen, der mich so nannte, wäre die Kronburg zu Illian nun entvölkert. Es ist sinnlos, kleinen Menschen Verstand einhämmern zu wollen. Du erweist mir jedenfalls keine Ehre, wenn du so reagierst.«

»Gut. So siehst du es. Aber ich habe ihn nicht geschlagen, um dir einen Gefallen zu tun, sondern um meinetwillen. Dieser Hund verpestet hier seit Tagen die Luft … Irgendwann ist es dem geduldigsten Menschen zu viel.«

»Und du bist wahrlich ein Muster an Geduld«, sagte sie, aber sie lächelte wieder. Ihre Hand fand die meine. »Vergiss ihn. Und folge deinem eigenen Ratschlag.«

Kennard räusperte sich. Er hatte inzwischen reichlich ungerührt das Buch des Sergeanten studiert. »Da der Hund nun schnarcht, vermag ich vielleicht Euer Interesse zu wecken. Es geht um den Weg zum nächsten Tor.«

»Ich höre.«

Kennard wies mit dem Stiel seiner Pfeife nach Norden. »Das nächste Tor, für das die Steine passen, befindet sich in der Donnerfeste.«

Ich sah ihn an und stöhnte. »Nein, nur das nicht! Genauso gut könnte es sich auf einem der Monde befinden.«

Das Gebirge, vor dem der Gasthof Zum Hammerkopf lag, war als die Donnerberge bekannt. Der Pass durch die eisigen Höhen trug ebenfalls diesen Namen, Donnerpass, und die alte Feste, die hoch über dem Pass in den Felsen gebaut war, kannte man als die Donnerfeste. Vor Jahrhunderten schon war der einzige Zugang zu dieser Festung, welche einst den Pass bewachte und den Barbaren den Zugang zu den drei Reichen verwehrte, weggebrochen. Nur ein Adler konnte die alte Festung noch erreichen, selbst einer Bergziege wäre die Wand zu steil.

Ich konnte Leandras Ernüchterung spüren, als wäre es meine eigene. Bei jedem Schritt tauchten neue Widrigkeiten auf.

»Habt Ihr die Feste schon einmal gesehen, Meister Kennard? Sie liegt mitten in einer Steilwand. Eine hohe Mauer aus glattem Stein verschließt den Pass, eine Mauer so hoch und stark, als hätte ein Titan sie gebaut, und darin ist dann das Tor zum Pass. Es heißt, es hätte Jahre gedauert, in dieses Tor ein Loch zu schlagen, das groß genug ist, einen Wagen passieren zu lassen. In Zeiten des Winters ist das Tor unter Schnee und Eis begraben, aber nie reicht der Schnee an die Krone dieses Walls oder an die Feste heran.«

»Es gibt Wege, die steilste Wand zu erklimmen«, sagte Kennard. »Man muss sie nur suchen und finden.«

Ich ließ mich in meinen Stuhl zurückfallen und griff nach meinem Becher Wein. »Ich weiß nicht, wie lange die Festung schon nicht mehr zugänglich ist, aber es gibt mehr als genug Geschichten über sie. Wir wissen ja nun, wer sie erbaute, dieses Rätsel ist also gelöst, aber sie gilt immer noch als verwunschen. Es heißt, dass niemand, der sie je betrat, sie auch wieder verließ. Geister soll es dort geben und Ungeheuer, die in den alten Mauern hausen.«

»Ich frage mich nur, wer davon erzählt hat, wo doch niemand je wieder herauskam«, sagte Kennard mit einem feinen Lächeln.

Ich hasste es, wenn jemand seine Argumente derart mit Logik verzierte. Es klang dann immer so … vernünftig.

»Ebenso gut könnten wir versuchen, den Pass doch zu überqueren. Ein sinnloses Unterfangen.«

»Vielleicht nicht«, sagte Leandra. »Die Feste liegt an der höchsten Stelle des Passes, das ist richtig, aber von hier aus am ersten Fünftel des Weges.«

»Es wird schwierig genug sein, überhaupt so weit zu kommen. Die Kälte wird unser größtes Problem sein, der Schnee wird uns ermüden, und wenn uns ein Sturm überrascht, wird man uns erst im Frühjahr finden. Dieses Schicksal hat hier schon so manch anderen Reisenden ereilt.«

»Hhm«, meinte Kennard. »In diesem Buch gibt es Hinweise auf einen Gang, der von hier zur Feste führen soll.«

»Das sind gut zwanzig Meilen«, sagte ich. »Niemand baut einen Gang, der so lang ist.«

»Das ist auch nicht nötig«, hörte ich Zokoras Stimme. Sie war an unseren Tisch getreten. Ich schaute zu ihr hoch und empfand, wie schon häufig, ihre Schönheit als verwirrend. Wäre nicht die dunkle Farbe ihrer Haut, sie und Leandra hätten Schwestern sein können. Beide besaßen sie die feinen Linien ihrer elfischen Vorfahren, schmale, gerade Nasen, edel geschwungene Lippen, hohe Wangenknochen … Gesichtszüge, die man in Fresken an alten Tempelwänden fand oder auch auf den Büsten längst vergangener Herrschergeschlechter. Vielleicht war Schönheit nicht das richtige Wort, eher wäre Charakter angebracht, es war die Summe der Einzelteile, die mich so berührte. In einem solchen Gesicht Zokoras kalte Augen zu sehen erschien mir immer als befremdlich, als müsste es anders sein, als müsste auch ihr Blick jene Wärme zeigen, die so oft in Leandras violetten Augen stand. Aber Zokoras Augen waren schwarz wie Kohle oder dunkelste Nacht. Nur selten hatte ich in ihnen eine Regung gesehen. Einmal sah ich Wut, Schmerz und Hass in ihnen, und damals hatten sie unheilvoll in dunklem Rot geglüht.

Viel mehr als das jedoch irritierte mich ihre Fähigkeit, immer wieder unbemerkt in meinen Rücken zu gelangen. Ich könnte schwören, sie wusste das ganz genau und tat es absichtlich, auch bei nichtigen Gelegenheiten. So wie jetzt. Warum, bei den Göttern, konnte sie nicht einfach, wie jeder andere Mensch auch, zu uns treten?

»Wie meint Ihr das?«, fragte Leandra und rückte auf ihrer Bank zur Seite, um Zokora Platz zu machen.

Die Dunkelelfe setzte sich geschmeidig wie eine Katze. »Der gesamte Vorläufer dieses Gebirges ist von Höhlen durchzogen«, erklärte sie. »Einst staute sich hinter den Donnerbergen ein altes Meer. Es suchte und fand seinen Weg durch den Stein, die Höhlen unter uns zeigen die Spuren dieses gewaltigen unterirdischen Stroms.«

Ich erinnerte mich an die glitzernden Höhlen mit ihren vereisten, mächtigen Säulen. Ich nickte: Nur Wasser hatte die Kraft, solche Katakomben zu formen.

»Ihr habt selbst Teile des Wegs gesehen, von dem der Kerl hier spricht.« Zokora sah Kennard herausfordernd an, aber der lächelte bloß.

»Richtig«, stimmte Leandra ihr zu. »Wir haben Spuren von Steinmetzarbeiten gesehen und einmal eine Brücke. Aber manches war auch von Zwergenhand.«

»Die Zwerge sind noch länger verschwunden als die Legionen dieses Reiches, von dem du dir wohl noch immer Rettung versprichst«, ergänzte die Dunkelelfe.

»Woher wisst Ihr das alles?«, fragte ich sie.

Zokora sah mich an. »So wie du deinen Weg auf der Oberfläche findest, finde ich meinen in den Höhlen. Ich kenne das dunkle Land. Glaub mir, die Zwerge sind schon sehr lange fort. Sie haben nur ihre Wächter zurückgelassen.«

Nur. Ich erinnerte mich an die untoten Zwerge, die Jahrhunderte nach ihrem Tod, von Magie bewegt, noch immer das zu schützen suchten, für das sie ihr Leben gegeben hatten. Ich war dankbar dafür, dass andere vor uns die meisten dieser Untoten beseitigt hatten.

»Von ihnen sollte es nicht mehr viele geben«, sagte ich hoffnungsvoll.

Leandra beugte sich vor und musterte Zokora. »Ihr schlagt also vor, dass wir diesem alten Weg folgen sollen? In der Hoffnung, dass er noch intakt ist und uns in die Nähe oder gar in die Feste hineinführt?«

»Er mag verschlungen sein, aber ich bin mir sicher, dass er kürzer und leichter zu passieren ist als der Weg an der Oberfläche. Hier oben ist Schnee, dort unten Eis. Ich mag Eis lieber, es ist fest, und behandelt man es mit Respekt, bleibt es, wo es bleiben soll, und rollt nicht mit Getöse über einen hinweg.« Sie schüttelte sich leicht, als ob sie frieren würde.

»Habt Ihr schon mal in einer Lawine gesteckt?«, fragte ich sie erstaunt.

»Fragen, Havald. Immer wieder Fragen! Warum stellst du Fragen, deren Antworten ohne Bedeutung für dich sind?«

»Ihr habt meine Neugierde geweckt«, antwortete ich ehrlich.

Sie schüttelte den Kopf. »Menschen färben ab. Ich rede nun schon selbst zu viel. Wenn ihr diesen Weg geht, werde ich euch führen. Das war es, was ich euch sagen wollte.« Sie erhob sich. »Varosch fragt nichts. Das gefällt mir besser«, fügte sie bedeutungsvoll hinzu und sah zu ihrem Liebhaber hinüber.

Ich hielt sie mit einer Geste auf. »Es war nicht nur Wissbegier. Wenn wir uns zu diesem Pass begeben, besteht auch für uns die Gefahr, in eine Lawine zu geraten. Wenige überleben das. Könnt Ihr mir sagen, wie Ihr diesem weißen Grab entrinnen konntet?«

Sie musterte mich einen Moment lang. Dann nickte sie. »Schwimmen.«

Wir sahen ihr nach, wie sie zu dem anderen Tisch zurückging.

»Sie hat gute Ohren«, bemerkte Kennard.

»Sie folgt öfter unserer Unterhaltung«, antwortete ich ihm, »obwohl ihr Neugier doch so verpönt ist.«

Kennard schmunzelte.

»Wie meint sie das mit dem Schwimmen?«, fragte Leandra.

Ich zuckte mit den Schultern. »Sollten wir in so eine Lage geraten, so hoffe ich, dass es sich uns offenbart.« Ich nahm einen Schluck Wein, den letzten, denn ich sah den Boden meines Bechers. Auch die Flasche war leer. Ich warf Kennard einen Blick zu, vor ihm stand ebenfalls ein Becher. Voll.

»Nehmt einen Schluck Tee«, riet er mir.

Der Tee war mittlerweile kalt. Ich trank ihn trotzdem.

»Was ist?«, fragte Leandra. »Ich sehe, dass du über etwas grübelst.«

»Sollte ich jemals in eine Lawine geraten, hoffe ich, dass ihr Rat nicht wörtlich gemeint ist.« Ich betrachtete die Teeschale in meinen Händen. »Ich habe das Schwimmen nie erlernt.«