19. Ein schrecklicher Kuss

 

Unsere Ausrüstung füllte gut drei Kisten. Sogar unser Gold und Zokoras Rohdiamanten waren dort zu finden. Ich stockte, als ich Steinherz und Eiswehr sah: Ihr Anblick machte mir klar, dass meine Freunde sich tatsächlich in einer misslichen Lage befinden mussten. Auch Zokoras Schwert lag in der Waffenkiste, neben einer Menge kleinerer und größerer Dolche, einer Garotte und spitzen Nadeln, die ihr Haar geziert hatten, als es ihr noch bis zu den Hüften ging. Auch ihr kurzes Blasrohr lag dort, es war kürzer als mein Unterarm, sowie ein kleines Kästchen aus Ebenholz. Ich öffnete es vorsichtig, und darin lagen noch drei Blasrohrpfeile und vier kleine Phiolen, eine davon leer. Fahrd, Sohn des Ashmal, Sohn des Jimard, stand eine unangenehme Überraschung bevor. Ich fand auch meinen Geldbeutel, natürlich war er leer, oder … vielleicht doch nicht? Langsam drehte ich den Beutel um, und ein Ring fiel in meine Handfläche. Der Ring des Kommandanten.

Ich sah wieder Kennards amüsiertes Gesicht vor mir. Es wird einen Moment geben, in dem Ihr die Legitimation, die der Ring Euch verleiht, gut gebrauchen könnt. Aber es ist Eure Entscheidung.

Kurzentschlossen schob ich den Ring über meinen Finger.

»Euer Name?«

Ich wusste nicht, wo ich mich befand, dennoch erschien es mir fast, als wäre ich nicht zum ersten Mal an diesem Ort. Die Person, die vor mir stand und mich prüfend musterte, war mir sehr wohl bekannt. Sein Antlitz prangte auf allen Münzen seines Reiches.

»Havald.«

»Havald von Kelar, genannt auch Roderic, Graf von Thurgau, Ritter des Bundes und Paladin des Königreichs Illian, wolltet Ihr sagen, nicht wahr?« Eine Hand senkte sich, eine Feder berührte ein blütenweißes Pergament und schrieb meinen Namen und die Titel nieder, elegant und flüssig. »Ihr übernehmt hiermit das Kommando über die Zweite Legion. Es ist Eure Pflicht, sie einzusetzen, um die Interessen des Reiches zu wahren, die Bürger des Reiches zu schützen und die Länder zu sichern, die Euch zum Schutz befohlen wurden.«

»Ja, Herr.«

»Eure Aufgabe lautet wie folgt: Aushebung neuer Rekruten, Ausbildung derselben und Ausrüstung. Eurem Schutz befohlen sind folgende Länder, früher als die Kolonien und heute als die Neuen Reiche bekannt: Illian, Jasfar und Letasan. Achtet auf meine Worte: Die Zweite Legion ist diesen Reichen nicht unterstellt, aber auch Ihr habt weder die Befugnis, den Herrschern dieser Reiche Befehle zu erteilen, noch darf die Legion gegen die Bürger dieser Reiche eingesetzt werden. Ist Euch das klar?«

»Ja, Herr.«

»Mit diesem Siegel an Eurer Hand seid Ihr berechtigt, die notwendigen Materialien und das Personal zu requirieren. Ich würde Euch empfehlen, vom Zeugmeister in der Zitadelle ein Torbuch zu beziehen, es könnte Euch nützlich sein.« Er lächelte. »Überrascht, Havald?«

»Nein, Herr. Ich wusste es.«

»Ihr werdet es auch wieder vergessen.« Er sah mich an. »Kennt Ihr die imperialen Gesetze?«

»Nein, Herr.«

»Lasst Euch so schnell wie möglich einen Gesetzestext geben, sein Studium dürfte interessant sein für Euch. Ihr könnt leider keinen Text von hier mitnehmen. Das hier ist alles nicht wirklich, wisst Ihr?«

Ich gab keine Antwort. Er seufzte.

»Gut. Ich gebe Euch mein Wort, dass ich die Gesetze so gerecht gestaltet habe, wie es mir möglich war. Das ist normalerweise eine richtig lange Zeremonie, aber Ihr habt es eilig, und das mit Grund. Also, schwört Ihr bei den Göttern, dass Ihr die Gesetze des Reiches achten werdet?«

»Ich schwöre es bei Soltar, Astarte und Boron.«

»Gut. Das war es schon. Viel Glück, Ihr werdet es brauchen. Ach ja, Havald?«

»Ja, Herr?«

»Wenn das Pferd wiehert … duckt Euch!«

Ich blinzelte. Für einen Moment war es mir, als hätte der Ring geleuchtet und ich hätte in ihm irgendetwas gesehen. Schulterzuckend zog ich meine Handschuhe an. Noch einmal jedenfalls würde ich nicht das Risiko eingehen, ihn zu verlieren. Wenn ich ihn abziehen würde, dann nur, um ihn dem Kommandanten der Legion anzustecken.

»Ser Havald?«, kam es von Armin. Er zog noch eine Schnalle an meinem Knie fest und stand dann auf. »Darf ich fragen … Ihr seht aus wie … Wer seid Ihr?«

»Ein Krieger aus einem fremden Land.« Ich verließ den Lagerraum und schloss die Tür, nachdem mir Armin gefolgt war. Die Tür war offensichtlich aus einem anderen Raum ausgebaut worden, sie besaß ein Schloss. Ich drehte den Schlüssel um und steckte ihn ein.

»Nur Adlige dürfen hier einen Kettenpanzer tragen, wisst Ihr das?«

»Ja«, sagte ich. Ich blieb an der Kellertreppe stehen und lauschte. Diese Treppe führte hoch zur Küche. Das einzige Geräusch, das ich hörte, war ein leises Schnarchen. Ich bedeutete Armin, hinter mir zu bleiben, schlich die Treppe hoch und öffnete leise die Tür. Natürlich quietschten die Türangeln, und natürlich erwachte die Person, die ich schnarchen gehört hatte. Es war ein junges Mädchen, das sich vor dem Herd schlafen gelegt hatte.

Sie sah mich aus großen, erschreckten Augen an.

Ich legte einen behandschuhten Finger an meine Lippen. »Ssssccchhhh!«

Sie nickte. Ich legte die Hand an meine Wange und neigte den Kopf zur Seite, das altbekannte Zeichen für Schlaf. Sie nickte erneut und rollte sich langsam wieder in ihre Decke, die Augen krampfhaft geschlossen.

Ich lauschte an der Tür zum Waschraum. Stille. Ein kurzer Blick, der Raum war leer. Dann schlich ich weiter zur Tür, die von der Küche zum Gastraum führte.

Hinter mir schepperte es. Ich sah zurück. Dort stand Armin, übertrieben gebückt auf Zehenspitzen, und hielt sich den Finger an die Lippen.

»Tut mir leid, o Herrscher des Schwertes! Ich werde leise sein! Keinen Ton werdet Ihr von mir hören! Selbst eine Eule würde mich nicht wahrnehmen und …« Er sah wohl meinen Blick, denn er verstummte abrupt.

Langsam öffnete ich die Tür einen Spalt. Fahrd stand an der Theke und unterhielt sich mit einem Einheimischen. Ich wusste nichts über die Bräuche und Sitten hier und nur wenig über Kleidung und wie diese den Stand einer Person kennzeichnete, aber er machte für mich einen verwegenen Eindruck. Solche Gesichter sah man oft vom Galgen baumeln. Langsam zog ich Zokoras Blasrohr aus meinem Ärmel, stellte sicher, dass ich das richtige Ende in den Mund nahm, und zielte. Ich hatte noch nie mit einem Blasrohr geschossen, aber das Prinzip war einfach, und die Distanz betrug wohl nicht viel mehr als ein Schritt. Ich hätte ihm den Pfeil auch direkt in den Nacken stechen können.

Ich traf, und Fahrd erstarrte mitten in der Bewegung. Der Mann vor ihm redete einen Moment weiter, bis ihm Fahrds Starre auffiel.

Vielleicht war es auch die Tatsache, dass ich nun die Tür öffnete und den Gastraum betrat. Der fette Mann von unserer Ankunft saß immer noch – oder wieder – in der Ecke und aß, er missachtete mich vollständig. Bis auf zwei weitere Männer, die aufsprangen, als sie mich sahen, war der Gastraum leer.

Der Mann an der Theke zuckte zusammen, dann erkannte er mich und lachte. »Schau mal an, der Blinde! Ich dachte, du bist unten festgekettet.«

Ja. Und jetzt dämmerte ihm, dass ich Kettenpanzerung trug und ein Schwert in der Hand hielt. Seine Augen weiteten sich, und er sprang zurück, als ich einen großen Schritt in den Raum tat. »Leg deine Waffen nieder und ergib dich«, sagte ich. »Das gilt auch für euch beide!«, rief ich den anderen Männern zu.

»Ergeben! Wozu?« Er hatte sein Schwert gezogen, ich bemerkte die gekrümmte Klinge und fragte mich, inwieweit diese wohl einen Einfluss auf seinen Kampfstil hatte.

»Ergebt euch, und ich lasse Gnade walten. Ich möchte wissen, was hier passiert ist und wohin die anderen verschleppt wurden.«

»So, möchtest du das wissen? Na, dann komm her und finde es heraus.«

Ich trat einen Schritt näher und fand heraus, dass eine gekrümmte Klinge den Kampfstil durchaus veränderte. In einer wirbelnden Bewegung traf die Klinge meinen linken Arm und schnitt daran entlang, ein Teil des Eisotterpelzes über meiner Schulter platzte auf, aber die Kette hielt. Leder hätte nicht gehalten.

Der Mann fluchte, als er unter dem Mantel die Kettenglieder funkeln sah, und wich einen Schritt zurück. Das Spielchen können zwei spielen, dachte ich und machte eine einfache Standardfinte, gefolgt von einem simplen Ausfall. Er sah mich erstaunt an, und seine Klinge fiel ihm aus der Hand, als ich Seelenreißer aus seinem Herzen zog.

»Wie wäre es jetzt mit Ergeben?« Ich zog eine Augenbraue hoch. Mein Blut pulsierte, und Seelenreißer sang in meiner Hand, aber es war mir egal, was die Klinge wollte, ich beachtete sie nicht. Aber ich verwehrte mich ihr auch nicht, wir waren eins.

Die beiden Männer sahen sich gegenseitig an, sprangen zur Tür und zerrten an ihr … Sie blieb geschlossen. Einer der beiden versuchte den Schlüssel im Schloss zu drehen, der andere zog sein Schwert und wandte sich mir zu.

»Ihr werdet sterben!«, rief er. »Ich habe schon vier Männer im Kampf getötet. Meine Klinge ist weithin berüchtigt und mein Auge sicher. Lasst uns gehen, dann geschieht Euch nichts.«

»Vier?«, rief eine Stimme hinter mir. »Vier! O du Ausgeburt einer räudigen Hündin und einer Schlange! Vier! Fürst Havald tötete eigenhändig vierhundert! Wollt Ihr ihn beeindrucken, dann müsst Ihr etwas anderes versuchen.«

Ich seufzte.

Der andere hatte es endlich geschafft, den Schlüssel umzudrehen, und riss nun die Tür auf. Und rannte.

Als der zweite sich auch zur Flucht wandte, warf ich meinen Dolch, Knauf voran. Der Mann fiel der Länge nach auf die Türschwelle, bäumte sich einmal auf und lag dann still.

»Armin, mach dich nützlich und fessele ihn«, rief ich über die Schulter zurück und eilte dem ersten Mann hinterher. Er hastete quer über den Hof zum Stall und brüllte irgendetwas. Ein Pferd wieherte, und ohne genau zu wissen weshalb, rollte ich mich geduckt nach rechts ab … Vier Pfeile schlugen im Boden ein, dort, wo ich mich eben noch befunden hatte. Seelenreißer schlug einen fünften, verspäteten Pfeil zur Seite.

Wachen auf dem Wehrgang. Ich hasste Bögen, vor allem wenn ich keinen Schild trug. Ich wusste, wo es zum Wehrgang hinauf ging. Im Zickzack rannte ich in Richtung des Aufgangs. Das Tor der Wegestation war geschlossen. Solange es nicht geöffnet wurde, konnte mir keiner entkommen.

Eine Bewegung neben mir – eines der Mädchen. Ich zwang Seelenreißers Gier zur Seite, aber er hatte bereits ein anderes Ziel gefunden. Er zuckte hoch und bohrte sich in das Holz über mir, ins tief hängende Dach des Lagers. Mit einem dumpfen Röcheln fiel ein Mann herunter, dann war ich vorbei und eilte die Stufen zum Wehrgang empor. Erneut schoss ein Pfeil auf mich zu, Seelenreißer bewegte sich nur leicht, und der Schaft glitt so knapp an meinem Ohr vorbei, dass ich den Luftzug spürte. Der Wächter schrie in Panik und Angst, als ich auf ihn zustürmte, seine Finger zitterten zu sehr, als dass er einen neuen Pfeil auflegen konnte, und dann war ich vorbei, eine Blutspur von Seelenreißers Spitze hinter mir her ziehend. Es war wie ein Rausch. Die Sicht meines Schwertes verriet mir eine Wache hinter einer Holzwand, Seelenreißer fand sein Herz, ohne dass ich den Schritt verlangsamen musste. Er leuchtete fahl wie Mondlicht, und ich merkte, wie das Leuchten auf mich überging. Es war wie damals auf dem Pass, als Seelenreißers Licht die Nacht erhellt hatte. Eine Klinge versuchte in meine Seite einzudringen, aber Seelenreißer entging sie nicht. Zwei Kreise aus Stahl – und Kopf wie auch Arm mit Schwert fielen zu Boden. Ich rannte weiter. Mit jedem neuen Tod weitete sich seine Wahrnehmung, suchte er neue Opfer, neues Leben für sich. Hier verbarg sich ein weiterer Wächter im Heu, die Klinge fuhr herab und durchtrennte Heuballen und Hals zugleich. Dort schoss ein verzweifelter Bogenschütze Pfeil um Pfeil ab, während ich vom Wehrgang auf die Zinnen und von dort aufs Dach sprang, ihm entgegen, bis Seelenreißer in sein Herz stieß. Dann sprang ich vom Dach und nagelte den Letzten am Boden fest.

Als ich die Klinge aus dem Sterbenden zog, haftete kein Blut am Stahl. Bleich und blutleer sackte der Mann in sich zusammen. Ein feines, helles Singen erfüllte die Nacht und erlosch, zusammen mit Seelenreißers Licht, als ich ihn in die Scheide führte. Zum ersten Mal seit Jahren kehrte er zufrieden dorthin zurück.

Ich stand im Hof und sah mich um. Ich sah acht Leichen und wusste von drei weiteren außer Sichtweite, auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, wie ich sie getötet hatte. Ich fühlte mich gesättigt, als hätte ich ein reiches Mahl zu mir genommen. Armin kniete über dem gebundenen Gefangenen in der Tür zum Gasthof und starrte mich ungläubig an.

Ich warf einen Blick hoch zu dem Zeichen über dem Eingang zum Gasthof. Dort im Stein prangte der Bulle. Mir fiel etwas ein. Hatte nicht Kennard gesagt, auf den Straßen und in den Wegestationen gelte imperiales Recht?

Ich bückte mich und griff den Gefangenen am Kragen, hob ihn hoch und drückte sein Gesicht gegen das Relief.

»Weißt du, was das bedeutet?«, knurrte ich.

»Ja«, röchelte der Mann.

»Und was bedeutet es?«

»Das Zeichen der Bullen, Askannons Legionen.«

»Und welches Recht gilt hier?«

»Das imperiale Recht.«

Ich ließ ihn sinken und warf ihn in den Gastraum zurück.

Langsam betrat ich den Raum, Armin eilte an mir vorbei, und ich zog die Tür hinter mir zu. Dann kniete ich mich neben dem Mann auf den Boden und zog langsam meinen linken Handschuh aus.

»Siehst du diesen Ring?«, fragte ich. Er blinzelte, seine Augen weiteten sich noch mehr, er wurde womöglich noch bleicher … dann rollten seine Augen nach hinten und er sackte in sich zusammen.

»Armin?« Ich hörte keine Antwort. Ich sah auf und fand ihn neben dem erstarrten Fahrd stehen. Er wedelte mit seiner Hand vor den Augen des Wirts herum, blies ihm ins Ohr, schnippte ihm mit seinen Fingern an die Nase.

»Armin!«

Er zuckte zusammen. »Ja, Herr?«

»Wir hatten einen Säugling dabei. Durchsuche das Haus nach dem Kind. Lebend oder tot, ich will es haben. Und bring mir das älteste der Mädchen!«

»Sie wird sich eifrig bemühen, Herr«, rief er, als er losrannte.

Ich seufzte. »Ich will nur mit ihr reden!«

»Gewiss, Herr. Alles, was Ihr sagt!«, hörte ich ihn noch, dann war er weg.

»Nun zu dir, Herr der Lügen.« Ich wandte mich Fahrd zu.

»Nein, zu dir, Herr der Täuschung«, sagte der fette Mann von seinem Platz aus. Ich hatte ihn ganz vergessen. Er schob den schweren Tisch mit überraschender Leichtigkeit zur Seite und erhob sich, während er sorgsam mit einem Tuch seine Lippen abtupfte. »Ich hätte einen Schwur auf alle Götter leisten mögen, dass Ihr blind seid«, sagte er. Nun, da er stand, sah ich, dass er weniger fett als vielmehr massiv war und ein Riese noch dazu. Sitzend, mit vorgebeugten Schultern und eingezogenem Nacken hatte er nur ausgesehen wie ein fetter Mann. Das war er gewiss auch, aber wenn man fast einen Fuß größer war als ich, fiel das nicht mehr so auf.

Ich wich einen Schritt zurück.

»Mein Name ist Ordun. Ich bin der Herr dieses Ortes, Fahrd ist nur mein Diener. Ein erbärmlicher, winselnder Wurm. Aber er ist mir nützlich, und Ihr werdet ihn nicht töten.«

Ich griff nach Seelenreißer.

»Ihr werdet Euer Schwert nicht ziehen.«

Meine Hand lag um das Heft, aber das war auch schon alles, es schien, als ob die Klinge festgefroren wäre in der Scheide.

»Und Euch nicht bewegen.« Er lächelte und zeigte weiße, ebenmäßige Zähne. »Ihr seid ein interessanter Mensch, Saik aus einem fernen Land. Als Eure Dienerin Euch vorstellte, hielt ich es für eine Übertreibung, eine blumige Rede, aber sie hat kaum gelogen, nicht wahr?«

Ich wollte etwas sagen, konnte es aber nicht.

»Stimmt, Ihr könnt nicht sprechen. So eine Schande. Genießt das Gefühl, ähnlich muss sich auch der arme Fahrd fühlen. Was habt Ihr mit ihm gemacht? Gift? Ja, es wird wohl Gift sein.« Er trat noch näher an mich heran. »Oh, ich sehe, Ihr ahnt schon, wer ich bin. Oder besser, was.« Er verzog den Mund zu einem Grinsen. »Es wird interessant werden mit Euch. Euer Leben, Euer Wissen, Eure Wünsche, Hoffnungen und Ideale, man könnte sagen, Eure Seele … liegt vor mir wie ein herrliches Mahl. Ich erweise Euch eine Ehre, wisst Ihr? Seit langem habe ich keine solche Seele mehr gegessen, es war so langweilig, immer nur die kleinen Geister, aber Ihr … Ihr seht köstlich aus. Sozusagen zum Anbeißen.«

Er hob seine riesigen Hände und legte sie mir auf die Schläfen. Ich spürte den Druck, als ich seine Magie erkannte, die sich wie glühende Dolche in meinen Schädel brannte. Ich wollte schreien, weglaufen, wegsehen, irgendetwas tun, kämpfen … irgendetwas … aber ich war gelähmt, ich konnte kaum denken! Es schien, als ob eine gewaltige Faust meinen Geist gefangen hielt und langsam zerdrückte.

Er lächelte, und sein Kopf kam mir immer näher, seine Augen bannten mich, und seine Lippen spitzten sich zu einem ungeheuerlichen Kuss. Gern hätte ich die Augen geschlossen, um diesen letzten Anblick nicht ertragen zu müssen.

»Ich werde Euch langsam kosten, wie einen guten Wein, ein ganz besonderer Jahrgang seid Ihr. Und niemand wird uns stören …«

Phhft!

Orduns Augen weiteten sich. Ich sah einen kleinen Pfeil in seinem Hals stecken, genau im Winkel zwischen Kiefer und Ohr.

»Wie kann man nur so selbstverliebt reden!«, sagte Armin mit Verachtung in der Stimme. »Da wird einem ja übel.«

Ich konnte mich immer noch nicht bewegen, und Orduns Augen hielten mich weiter gefangen. Sie waren auf mich konzentriert, und zu meinem Entsetzen bewegten sich seine Lippen millimeterweise näher an die meinen heran.

»Ich dachte mir, ich stelle ihn aus, wie Ihr es mit Fahrd getan habt.« Armin schlenderte näher, in mein Sichtfeld hinein. Er hielt Zokoras Blasrohr in der Hand. Ich hatte es auf die Theke gelegt, als ich den Raum betrat, aber es war leer gewesen.

»Aber der Pfeil aus Fahrds Nacken ist ja schon einmal benutzt, vielleicht wirkt das Gift ja nicht mehr so gut. Vor allem bei der Menge an Muskeln und Fett.«

Armin trat an mich heran und zog an meinem Arm. Mit einem leisen Schaben glitt Seelenreißer aus seiner Scheide. Orduns Augen zogen sich zusammen, er schielte an seinen Wangen vorbei nach unten.

»Es sei sehr schwer, Nekromanten zu töten, hörte ich. Es heißt, sie können das Leben opfern, das sie anderen stahlen. Es gibt nur wenige sichere Methoden. Verbrennen ist eine. Oder aber ein Bannschwert. Die Legenden sagen, dass ein Bannschwert zielsicher genau eine Seele trifft, denn sie wurden dafür geschmiedet, Nekromanten und anderes Gezücht zu besiegen.«

Er hob meine Hand und führte Seelenreißer an das fette Handgelenk des Riesen vor mir. Eine kleine Bewegung, und Blut sprudelte auf die Klinge, lief an ihr entlang und verschwand in dem gierigen Stahl.

»Ich bin nur ein armseliger kleiner Gaukler, aber mein Leben lang habe ich auf den Märkten die Geschichten gehört. Ich will sehen, ob sie stimmen.«

Vor meinen Augen sah ich plötzlich, wie Orduns Gesicht einen anderen Ausdruck annahm, sich zu einem anderen Antlitz formte und mit einem Lächeln entschwand, dann erschien ein nächstes und wieder ein anderes. Immer schneller wechselten die Gesichter, ein Kaleidoskop von Antlitzen, ein jedes schien mich anzulächeln, bis eines übrig blieb mit Entsetzen in den Augen: das von Ordun selbst.

»Beachtlich«, sagte Armin. »Das waren mindestens drei Dutzend. Wie alt er wohl ist?«

Noch immer hielt mich Ordun mit seinen Pranken, aber plötzlich entstanden in seinem fetten, runden Gesicht Falten, leichte zuerst, dann immer tiefere, bis sie zu groben Furchen wurden und die Haut die Beschaffenheit von Leder annahm. Bis vor kurzem hatte ich in einen polierten Spiegel schauen und dort auch Alter in meinem Gesicht erkennen können, aber nicht ein solches. Seine Lippen und Wangen senkten sich ab, der Mund öffnete sich und gab den Blick auf gelbe Zähne und schrumpfendes Zahnfleisch frei, Zähne fielen heraus und klackerten wie Würfel auf dem Boden, ein Augenlid sackte haltlos nach unten, und ein milchiges Auge verrutschte in der Höhle. Ich merkte, wie sein Bann nachließ, und sprang zurück, riss Seelenreißer von seinem Arm weg; um nichts in der Welt wollte ich, dass meine Klinge ihn zu sich nahm.

Zu meiner Überraschung fuhr Seelenreißer in seine Scheide und war zufrieden.

Immer noch stand der Riese vor uns, sein Gesicht zeigte Jahrhunderte des Alters, noch immer fiel er nicht, noch immer gab es Leben in ihm. Seine Augen konnten nichts mehr sehen, aber dennoch schienen sie mich zu fixieren. Er röchelte etwas.

»Was hat er gesagt?«, fragte Armin neugierig. Dann fiel Ordun zu Boden. Ich hörte ein Knirschen, als sein Körper auf den Stein fiel, er zuckte einmal und war still. Ich ging zu dem Mann hinüber, den ich als Ersten erschlagen hatte, hob sein Krummschwert auf und trennte mit einem Schlag Orduns Kopf von seinem Körper. Ich war der festen Überzeugung, er wäre schon tot, aber er zuckte noch einmal … und platzte auf wie der alte, verfaulte Leichnam, der er war. Ein übler Geruch stieg auf, und ich wich zurück.

»Götter!«, rief Armin. »Jetzt brauche ich etwas zu trinken!«

Ich wich weiter von dem Monstrum zurück bis zur Theke. Ich lehnte mich an und wandte den Kopf zu Armin. »Wenn du schon dabei bist, ich könnte auch einen Schluck vertragen.«

»Sicher, Herr!« Er füllte mir ein Glas mit Wein und reichte es mir. »Sagt, hatte Armin di Basra nicht Recht? War er nicht nützlich für Euch?«

Ich nahm einen Schluck, um den bitteren Geschmack wegzuspülen, und sah den kleinen Mann an. Seine Augen strahlten, und sein Spitzbart hüpfte auf und ab, als er lächelte und zugleich trank. Wein lief ihm an den Wundwinkeln herab, und er stellte das Glas leer auf die Theke zurück.

»In der Tat. Du hast mir das Leben gerettet. Ich danke dir.«

»Nicht das Leben. Ich habe Euch die Seele gerettet, Herr. Glaubt mir, Esseri, das Leben ist ohne Seele nichts. Ist das nicht ein guter Beweis für meine Befähigung? Nehmt mich in Eure Dienste!«

»Aber was ist mit deinem letzten Auftrag? Hast du den Säugling gefunden?«

Er lachte, es klang zugleich erfreut und traurig. »Selbstverständlich habe ich diesen Auftrag erfüllt. Seht zur Treppe.« Er wies zu dem Aufgang, der vom Gastraum hoch zu den Zimmern führte. Dort saß eine junge Frau mit Faraisa an ihrer Brust, die Kleine schmatzte laut und gluckste zufrieden, während die junge Frau mit starren Augen ins Leere sah. Dem Säugling schien es gut zu gehen, und Erleichterung ließ meine Knie schwach werden. Ich hatte wohl doch mehr um die Kleine gebangt, als ich selbst dachte. Aber dann erst sah ich das Gesicht der jungen Frau richtig. Ihre Züge kamen mir bekannt vor. Ich schluckte, denn vor wenigen Momenten hatte ich eben dieses Gesicht über das von Ordun huschen sehen.

»Ist sie …?«

Armin sah zu der Frau hinüber und dann zu dem, was von dem Nekromanten übrig geblieben war. »Ja. Er lag bei ihr, seitdem ist sie so. Sie verlor ihr Kind, aber ihre Brüste vermissen es. Sie weilt nicht mehr unter den Lebenden. Sie ist tot, auch wenn ihr Körper es nicht weiß. Und Ihr, Esseri, habt ihre Seele befreit und zu Soltar geschickt.«

»Woher willst du das alles wissen?«

Er sah mich an. »Wir sollten uns setzen.« Er klatschte in die Hände, und zwei andere Mädchen erschienen, sahen erschreckt die Treppe herunter zu ihm. Die Frau mit dem Säugling rührte sich nicht.

»Ihr beide, nehmt Eimer und Lumpen und schafft fort, was hier auf dem Boden klebt. Ihr werdet erfreut sein, wenn ihr seht, was es ist. Beeilt euch!« Er klatschte noch mal in die Hände, und die Mädchen rannten los.

Er beugte sich vor und berührte die junge Frau zärtlich an der Wange. Es war mehr als nur Mitleid, es kam einem so vor, als würde er sie kennen, mehr als nur kennen … »Komm, meine kleine Blüte, steh auf und folge mir. Und nimm das Kind an die andere Brust.«

Langsam erhob sich die junge Frau, legte Faraisa um und folgte Armin zu einem Tisch weit von den Leichen entfernt. Fahrd stand immer noch hinter der Theke, dort ließen wir ihn stehen. Armin griff an ihm vorbei und nahm eine Flasche und zwei Gläser mit zum Tisch, dort half er der jungen Frau dabei, sich zu setzen, und nahm dann selbst Platz.

»Setzt Euch, Esseri, denn die Geschichte dauert länger.«