10. Natalyia und das Garn des Todes
»Lebt er?«, hörte ich eine besorgte Stimme. Sie gehörte Sieglinde.
»Sieht so aus«, meinte Janos. »Er ist zäh.«
Ich spürte Finger an meiner Seite, ein vorsichtiges Drücken. Bis gerade eben hatte es nicht wehgetan, doch nun kam es mir so vor, als ob mich in diesem Moment die Tatze traf.
»Er lebt«, sagte Janos, als ich mich aufbäumte und fluchte.
»Stimmt«, meinte Varosch trocken. »Tote haben keine Schmerzen.«
»Haltet ihn fest. Ich muss die Rippe richten.« Das war Leandras Stimme. Ihre Hände waren es, die ich da spürte.
Ich öffnete die Augen. Ich merkte, wie ich sie öffnete, aber die Dunkelheit blieb. Dann vergaß ich alles, als ich mehrere Paar Hände spürte, die mich zu Boden drückten, dann das Knirschen, als Leandra eine Rippe richtete …
»Steckt ihm etwas zwischen die Zähne, schnell!«
Ich spürte etwas an meinem Mund, die Schmerzen wogten über mich, und nur undeutlich hörte ich, wie mich Sieglinde anflehte, den Mund zu öffnen. Ich tat es wohl, denn ich fühlte nun Leder zwischen den Zähnen.
»Ich muss die Wunde nähen«, hörte ich Leandra.
»Wie schlimm ist es?«, fragte Sieglinde.
»Nicht so schlimm, wie es aussieht. Es ist nichts Wesentliches verletzt, nur drei Rippen sind gebrochen. Die Krallen sind in den Ketten hängengeblieben und kamen nicht in die Bauchhöhle«, antwortete Leandra. »Ich muss die Wunde aber nähen.«
»Beeil dich«, hörte ich Varosch im Hintergrund sagen.
»Nicht. Nötig. Nur … Kratzer.« Das war Zokoras Stimme, seltsam gepresst.
Ich spürte nur ein Zupfen, nicht einmal die Spitze von Leandras Nadel … Noch während ich darüber nachdachte, wie seltsam es sich anfühlte, als sie die Haut zusammenzog, gab ich mich wieder der Dunkelheit hin.
»Ein teures Nachtlager«, hörte ich Janos sagen, als ich meine Augen aufschlug. Es war immer noch dunkel. Ich wünschte, jemand würde eine Laterne anzünden.
»Das Gift wirkte nicht«, sagte Varosch bitter. »Ich weiß, dass ich ihn getroffen habe, aber er reagierte nicht.« Er klang irgendwie angestrengt, als ob er sich nur mit Mühe beherrschen könnte.
Ein seltsames Geräusch drang an meine Ohren, zuerst konnte ich es nicht erkennen, ein diffuses Wimmern, leise nur, aber anhaltend. Dann verstand ich, dass es genau das war:
Jemand wimmerte. Ich dachte zuerst, ich wäre es selbst – mir war danach zumute –, aber es stammte nicht von mir.
»Wer ist noch verletzt?«, fragte ich.
Ich spürte eine Hand auf meiner Stirn. Leandra. »Ah, du bist wieder wach. Ich hatte schon Sorge. Du bist kühl, das ist gut.«
Ich griff nach ihrer Hand und führte sie an meinen Mund. Für einen Moment genoss ich ihre Nähe. »Wer ist das?«, fragte ich erneut.
»Zokora«, kam Varoschs Stimme.
»Ist sie verletzt?«
»Als der Bär mich angriff, hatte ich noch die Armbrust in der Hand. Sie rief irgendetwas, um ihn von mir abzulenken, und sprang auf seinen Rücken! Sie ritt ihn, während sie ihr Schwert in ihn rammte. Aber dann warf er sie ab und …«
»Und was?«
»Der Bär traf sie unterhalb des Brustkorbs. Er … er riss ihr die Bauchdecke auf.« Leandra sprach leise für Varosch weiter.
»Bei den Göttern! Sie hätte das nicht tun sollen, sie ist so zierlich!«, rief Varosch. Ich glaube, er weinte.
»Sie ist schwer verletzt. Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt.« Leandra drückte meine Hand.
»Wird sie es schaffen?«, fragte ich.
Ich spürte an ihrer Hand, dass ihre Schultern bebten. »Ich weiß es nicht. Aber sie kämpft.«
»Die Innereien, sind sie beschädigt?«, fragte ich und wollte mich aufrichten. Leandra drückte mich mühelos wieder zurück; ich hatte im Moment nur die Kraft eines kleinen Kindes.
»Ja. Das ist das Problem.«
»Man kann das nähen. Ich habe es einmal gesehen.«
»Ich habe noch nie gehört, dass jemand das überlebt hat. Es eitert immer«, sagte Leandra leise.
»Man muss ein paar Dinge beachten. Könnt ihr mal eine Laterne anmachen, ich muss an meinen Rucksack!«
Stille. Einen ewigen Moment lang. Dann Leandras Stimme.
»Havald. Die Laterne steht direkt neben deinem Kopf …«
Ich hob die Hand, tastete, spürte die Wärme. Ich wandte den Kopf, fühlte die Wärme auf meinem Gesicht … tastete mit der Hand nach meinen Augen. Sie waren offen.
»Was ist, Havald?«, fragte Janos.
»Ich kann nichts sehen.«
Blind. Oft hatte ich schon Blinde gesehen. Bettler, die mit ihren schwärenden, hohlen Augen an mir vorbei ins Leere blickten, Diebe, die auf Befehl der Krone geblendet worden waren, Soldaten, denen ein Streich das Augenlicht genommen hatte, oder alte Männer und Frauen, die allmählich das Licht der Welt verloren hatten. Es war ein Diktum Astartes, dass man, ging es einem selbst besser als anderen, diesen helfen sollte. Ich gab nicht oft, denn gab man einmal einem Bettler, wurde man sie nicht mehr los, doch wenn ich einen Blinden sah, gab ich häufig.
Das Augenlicht zu verlieren, die Welt und ihre Schönheit nicht mehr sehen zu dürfen, war für mich ein Schicksal, das ich mich nicht zu tragen imstande fühlte.
Jetzt hatte es mich ereilt. Ich fuhr mit den Händen über mein Gesicht und suchte die Verletzung, die mir mein Augenlicht genommen hatte, aber ich spürte nichts als die Stoppeln meines Bartes. Durch die Verletzung an meiner Seite abgelenkt, hatte ich bisher kaum bemerkt, dass ich auch Kopfschmerzen hatte. Die Ursache war schnell gefunden: eine riesige Beule an meinem Hinterkopf. Ich fuhr mit den Fingern dort entlang, aber Leandra hielt mich auf.
»Nicht! Vorsichtig!«
»Was ist?«
»Du bist mit dem Kopf gegen die Felswand geschlagen. Ich befürchte, dass dabei etwas gebrochen ist. Die Stelle fühlt sich merkwürdig weich an.«
»Seht Ihr denn gar nichts?«, fragte Sieglinde.
»Doch«, antwortete ich. »Einen hellen Riss, wie eine helle Spalte im Dunkeln, in dem sich kleine leuchtende Blasen tummeln … Es ist seltsam. Aber sonst … nichts.«
Ich hatte mit meinem Finger die Stelle erkundet, von der Leandra sprach. In meiner Vorstellung hatte ich schon befürchtet, dass mein gesamter Hinterkopf wie eine Eierschale gebrochen wäre, aber die Stelle direkt über meinen Nacken war nur klein, vielleicht von der Größe eines Fingernagels.
Dank Seelenreißer erholte ich mich schnell, in weniger als einer Woche würden die Knochen wieder zusammenwachsen.
»Wie kann das sein?«, fragte Sieglinde. »Die Augen sehen ganz normal aus, unbeschädigt.« Ihre Stimme war nah, sie beugte sich wohl gerade über mich.
Blind! Ich ließ die Hand sinken. Panik machte sich breit in mir und Verzweiflung. Ein Leben in Dunkelheit! Woher sollte ich die Kraft dafür nehmen? War das die Strafe Soltars, des Gottes der Dunkelheit? Einst hatte ich ihn um mein Leben betrogen, war dies nun der Preis dafür?
»Ich habe davon schon gehört.« Wer war das? Die Stimme war weiblich, aber ich hatte sie noch nie gehört. Sie hatte einen auffälligen Akzent, klang weich und rauchig zugleich. Als ich diese Stimme hörte, sah ich ein reich geschmücktes Zelt mit vergoldeten Speeren als Zeltstangen, dichten Teppichen und einer Kohleschale, die in kalter Wüstennacht Wärme spendete. Und Räucherkräuter, die in der Schale verbrannten. Die Vision verflog.
»Wer ist das?«, fragte ich, meine Stimme fühlte sich rau an.
»Das ist Poppet«, sagte Janos, der wieder irgendwie amüsiert schien.
»Zokora hat sie freigegeben, bevor sie das Bewusstsein verlor«, ergänzte Varosch leise.
»Mein Name ist Natalyia, aus dem Hause Berberach. Ich trug das dritte Tuch der Nacht für den Herrscher von Thalak.«
»Sagt mir, was Ihr von dieser Blindheit gehört habt, dann sagt mir, was Eure Vorstellung bedeutet«, antwortete ich ihr. Vielleicht war es wirklich so, dass der Verlust eines Sinnes die anderen schärfte, denn ich hatte Stolz in ihren Worten gehört, als hätten sie eine Bedeutung, die sich mir noch nicht erschloss.
»Ich habe einst einen Sklaven gesehen, der unglücklich fiel. Er prallte mit dem Hinterkopf gegen eine Säule und verlor sein Augenlicht.«
»Gewann er es wieder?«, fragte Sieglinde.
»Ich weiß es nicht. Der Sklave wurde entfernt.«
Ein Schlag gegen den Hinterkopf. Jetzt konnte auch ich mich erinnern, dass ich von so etwas einmal gehört hatte, in der Geschichte genas das Opfer wieder. Also … bestand Hoffnung? Als Letztes gab der Göttervater den Menschen die Hoffnung. Ich konnte gerade noch verhindern, dass ich hysterisch anfing zu lachen.
»Gut, Natalyia.« Ich richtete mich vorsichtig auf. Es musste niemand wissen, wie es in mir aussah, dass ich am liebsten schreien oder mich weinend in die Ecke verdrücken würde. »Wer seid Ihr?«
»Ich gehöre dem Hause Berberach an. Es ist ein mächtiges Haus im Reich Thalak, meine Familie genießt großen Einfluss am Hof.«
»Sie ist der Feind, Havald«, sagte Leandra leise. Ihre Hand lag immer noch in meiner, und ich merkte, dass sie sich verkrampfte.
Natalyia lachte leise. »Vielleicht. Hört, was ich erzähle, zu Ende an. Ich war das dritte Tuch der Nacht, ein Rang und Titel zugleich. Er bedeutete, dass ich im Auftrag des Throns unerwünschte Personen beseitigte.«
»Eine Assassine, eine gedungene Mörderin.« Janos’ Stimme war kalt und verächtlich. »Was konnten wir auch anderes erwarten? Sie folgte Balthasar wie ein Hund. Und genauso ließ sie sich benutzen.«
Ich hörte, wie Natalyia scharf einatmete. »Janos«, sagte sie, »sprecht nicht mehr von Balthasar.« Sie holte erneut tief Luft. »Meine Geschichte ist schnell erzählt. Ich erhielt den Auftrag, jemanden dem Namenlosen zuzuführen. Ihn zu töten. Ich tat es nicht. Als Strafe wurde ich Balthasar übergeben.« Sie machte eine Pause, ich hörte sie atmen. »Ich hörte euch über die Dunkelelfe sprechen und über das, was sie mir antun wollte. Balthasar war nicht so kreativ, aber er war sehr bemüht.« Sie lachte bitter. »Und wie er sich Mühe gab! Tatsächlich bin ich der Dunkelelfe dankbar, denn in einem gewissen Sinn befreite sie mich, als sie mich gefangen nahm. Als sie das Ritual der Dienerschaft an mir vollzog, fiel etwas von mir ab. Ich erkannte, dass die bedingungslose Loyalität dem Thron Thalaks gegenüber nicht echt war, sondern etwas, das mir aufgezwungen worden war. Eine magische Fessel, wie sie jeder trägt, der Thalak dient. Sie befreite mich, auch wenn mein Körper ihren Befehlen folgte. Seitdem hatte ich Zeit, zu denken und zuzuhören. Ich bin stolz auf mein Haus. Aber ich folge nicht mehr Thalak. Ich bin kein Hund mehr. Wenn mich jemand bellen sehen will, dann wird er auch meine Zähne spüren.«
»Und das sollen wir dir glauben?«, rief Janos. »Du sagst uns, du wärst keine Dienerin Thalaks mehr. Im gleichen Atemzug erzählst du, dass du für ihn gemordet hast. Du bist eine Gefahr für uns. Zokora hätte dich nie aus ihrem Bann entlassen sollen!«
Ihre Stimme wurde gefährlich sanft. »Janos Dunkelhand, der Verräter oder auch der königliche Agent. Ja, ich hörte, was du den anderen erzählt hast. Warum sie dir glauben, weiß ich nicht, aber sie kennen dich ja auch nicht so gut wie ich. Vielleicht ist es die Wahrheit und du bist tatsächlich nur in Dunkelhands Haut geschlüpft. Das hat dich jedoch nicht daran gehindert, mich zu deiner Lust zu benutzen, wenn es Balthasar gestattete, nicht wahr? Oder behauptest du, dass das alles nur Tarnung war? Dass du keine Wahl hattest, als mich zu benutzen, um nicht aufzufallen, dass dein brünstiges Stöhnen nur gespielt war? Rede du nicht von einem Hund, Janos, noch hast du mir nicht gezeigt, dass du aufrecht gehst!«
»Das reicht!« Ich hörte kleine Steine rollen, Füße, die über den Boden scharrten, und Stahl, der aus der Scheide sprang.
»Janos, nein!«, rief Sieglinde.
»Zurück!«, kam der Ruf von Leandra, und ich spürte den Druck auf meinem Kopf, der so oft auftrat, wenn in meiner Nähe spontane Magie ausgeübt wurde. Ein donnerndes Krachen, der Geruch von Ozon folgte, und warme Luft wehte über mein Gesicht.
Einen Moment war Stille.
»Heiliges Exkrement!«, rief Janos. »Leandra, was soll das? Diese kleine verfluchte …«
»Ich schwöre bei den Göttern, dass der nächste Blitz den trifft, der auch nur mit dem kleinen Finger zuckt! Es reicht!« Leandra wurde selten laut, aber diesmal war sie es. Sie klang richtig sauer. Ich wusste, wozu sie fähig war, wenn sie sauer wurde. Wut schien bei ihr die Fähigkeit zur spontanen Magie zu steigern. Ich hatte im Gasthof gesehen, wie sie in diesem Zustand eine schwere, eisenbewehrte Tür mit einer Geste in tausend Stücke zersplittern ließ.
»Er hat den Stahl in der Hand, nicht ich«, kam Natalyias Stimme. »Ich bin unbewaffnet.«
»Das will nichts heißen bei ihr!«, antwortete Janos erregt. »Sie tötet mit ihren Händen wie andere mit einem Dolch.«
»Haltet ein und setzt euch! Beide.« Ich sagte es in einem bestimmenden Tonfall. Es war ein kleiner Trick, minimale Magie, jeder konnte das lernen. Es bedarf nur der Überzeugung, dass das, was befohlen wird, auch geschieht. Dann wirkt auch eine leise Stimme.
»Ihr könnt ihr nicht trauen«, sagte Janos, und ich hörte, wie sein Schwert wieder in die Scheide glitt.
Natalyia sagte nichts, aber ich vernahm, wie sie sich setzte. Beide Geräusche waren beruhigend weit voneinander entfernt.
»Setzt euch hin. Beide«, sagte ich. »Leandra. Wo ist Seelenreißer?«
»Er steckt noch im Rachen des Bären. Keiner wagte es, die Klinge anzufassen. Sie leuchtet.«
Das verfluchte Schwert. Musste es allen zeigen, dass es verflucht war? Ich kannte dieses Leuchten. Es hatte sich den Bären genommen, seine Kraft, sein Leben und wartete nun darauf, es mir zu schenken. Und ich, ich … ich war begierig darauf. Die Wunde in meiner Seite schmerzte, mein Kopf dröhnte, meine Augen sahen das Licht nicht – und die verfluchte Klinge versprach Linderung, wenn ich sie nur nahm.
»Jemand muss mich führen.« Mühselig erhob ich mich, ich spürte eine Hand an meinem Arm. »Sieglinde?«, fragte ich, ich roch sie, war mir aber nicht sicher.
»Serafine«, kam die Antwort. »Sieglinde ist getroffen von Natalyias Worten. Das mit dem brünstigen Stöhnen und so. Ich hingegen habe Janos nie vertraut.« Jetzt, da ich nur ihre Stimme hörte, wurde mir bewusst, dass es tatsächlich eine andere war. Nicht nur Sieglindes mit einer anderen Betonung, nein, das Timbre war anders … älter.
»Es muss interessante Diskussionen geben zwischen euch«, sagte ich. Ich versuchte einen Schritt; die Wunde in meiner Seite zog und zwang mich fast auf die Knie.
»Langsam, Sergeant. Noch zwei Schritte …«
»Ich bin nicht der Sergeant.«
»Doch, Havald, du bist es. Du willst es dir nur nicht eingestehen. Du warst es schon immer.«
Was meinte sie damit?
»Nicht jetzt, Sergeant. Hier. Streck deine Hand aus …«
Als Erstes spürte ich die Fänge des Bären, ein unangenehmes Gefühl. So wie sich die Reißzähne anfühlten, lag der Bär auf der Seite. Er war so groß, dass ich mich auch jetzt kaum bücken musste, dies erschreckte mich im Nachhinein. Ich fühlte die Nähe Seelenreißers, wie er lauerte. Einen Moment zögerte ich, dann berührte ich das Schwert. Wärme durchflutete mich, eine Woge weißen Lichts schien in mich zu fließen, mich auszufüllen, und für einen Moment spürte ich ihn, den Bären, sah ich mich selbst, mein verzerrtes Gesicht, merkte, wie der fahle Stahl in mich eindrang …
Ich wäre gefallen, hätte die Klinge nicht noch immer festgesteckt und Serafine mich nicht gehalten.
Ich ließ mich zu Boden sinken, den Rücken an den Bären gelehnt. Diesmal wehrte ich mich nicht, als sich das Leben des Bären in mich ergoss. Ich fühlte die Wärme an meiner Seite, wusste, dass sich Haut und Rippen wieder fügten, spürte, wie das Pochen in meinem Kopf leichter wurde und schwand.
Mir war übel.
Aber ich hatte Seelenreißer in der Hand und ich sah, wie er sah. Nein, es war kein Sehen, es war ein Wahrnehmen, ein Wissen. Ich wusste, dass Serafine neben mir stand, dort Zokora lag, dort der andere Bär und dass der noch lebte. Und ich »sah« die beiden jungen Bären im hinteren Teil der Höhle, bewegungslos, aber noch lebendig.
Die Sicht war seltsam, es waren Umrisse mit leuchtenden Rändern, Schatten und Lichtern, verfremdet, aber unmittelbar wahr.
Leandra hatte mir erklärt, dass jedes Lebewesen, jeder Stein, jedes Ding eine Aura besaß, eine magische Energie. Ein Maestro war imstande, diese wahrzunehmen, zu sehen. Vielleicht so, wie Seelenreißer es wahrnahm, dies erschien logisch, denn er war ein magisches Konstrukt. Der Sage nach nahm Seelenreißer alles in sich auf, die Seelen seiner Opfer und die Seelen derer, die ihn führten. Manchmal bildete ich mir ein, sie zu sehen, eine Reihe Krieger, still und schweigsam, die darauf warteten, dass ich mich in ihre Reihe stellte. Aber noch nicht. Sie mussten erst mal mit einem Bären vorlieb nehmen. Ich zog mich an dem Schwert wieder hoch, ergriff die Klinge mit beiden Händen und zog. Sie steckte fest.
Ich verlagerte mein Gewicht; es gab ein hässliches Knirschen, als der Stahl im Knochen arbeitete. Einmal, zweimal belastete ich die Klinge mit meinem Gewicht, dann löste sie sich, und ich zog sie frei.
Blut lief über meine Hand, kaum noch warm. Ich konnte sehen, nein, fühlen, wie das Metall das Blut in sich aufsaugte. Verfluchtes Schwert. Was hatte sich Askannon dabei gedacht, als er diesen Stahl schmiedete? Und warum warf ich ihn nicht in den nächsten Abgrund?
Die Wunde in der Seite schmerzte kaum mehr, so als wäre sie schon zwei Wochen alt. Doch mein Augenlicht wurde nicht geheilt.
Langsam schob ich Seelenreißer in seine Scheide zurück. Als das Heft die Scheide berührte, spürte ich, wie er zur Ruhe kam. Die Sicht, die er mir gab, wurde schwächer, reichte nicht mehr so weit, aber sie blieb, solange ich sein Heft berührte.
Ich ließ es los und wurde wieder blind. »Serafine. Führ mich zu meinem Rucksack.«
»Er lag neben dir.«
»Dann führ mich zurück.«
War man lange genug Soldat, dann wusste man, was es für einen Wert hatte, den Rucksack immer auf die gleiche Art zu packen. Oft musste man blind etwas ergreifen. Ich fand das Döschen, das ich suchte, an der Stelle, wo es sein sollte. »Danke, Serafine. Leandra?« Ich hielt das Döschen in der Hand und roch daran. Thymian? Ich wusste es nicht. Vor meinem geistigen Auge konnte ich das Zeichen Soltars auf dem Deckel sehen, die Stundenuhr. Soltar nahm unsere Seelen entgegen, wenn wir starben, und der verrinnende Sand seines Zeichens erinnerte uns immer daran, dass unsere Zeit eng bemessen war und ablaufen würde. Nur meine Uhr war angehalten worden.
»Ja?« Ich roch Leandras Haut, ihre Wärme und Nähe.
»In diesem Döschen findest du, in einer grauen Paste, ein feines Garn. Einer der Priester Soltars gab es mir vor langen Jahren. Dieses Garn wird keine Entzündung auslösen. Die Paste … schmier sie auf die Ränder, aber sei sparsam. Näht ihre Eingeweide damit zusammen. Aber …« Ich holte tief Luft. »Du musst alles reinigen. Es muss sauber sein.«
»Ich weiß nicht, ob es helfen wird. Sie hat viel Blut verloren«, sagte Leandra leise. »Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt.«
»Sie wird weiterleben«, hörte ich Varoschs Stimme. »Gebt Ihr nur ein wenig Hilfe, dann schafft sie es. Ich weiß es.«
»Mehr als versuchen kann ich es nicht«, sagte Leandra bedrückt.
»Gut. Kümmere dich um Zokora. Ich übernehme unsere Streithähne.«
Ich spürte, wie die Müdigkeit kam, wie immer, wenn Seelenreißer mir ein Leben gegeben hatte. Aber noch nicht. Ich berührte ihn unauffällig und sah Natalyia und Janos undeutlich.
»Kommt her, ihr beiden«, sagte ich. Ich suchte mir einen Felsen zum Sitzen und wartete. Natalyia kam sofort, während Janos zögerte.
»Janos!«
Er schüttelte den Kopf, als wäre er unzufrieden mit etwas, kam dann aber doch. In Seelenreißers Sicht loderte seine Aura wie wild, während Natalyia fast so ruhig wie Leandra schien. Leandra. Durch die Sicht meines Schwertes betrachtet, strahlte sie wie eine Sonne. Zum ersten Mal verstand ich, dass Seelenreißer nach ihr gierte. Er wollte sie mit einer Intensität, die mich erschreckte. Immer hatte ich vermieden, das Schwert zu berühren, wenn ich es nicht brauchte, jetzt wurde ich wieder daran erinnert, weshalb. Aber nur durch das Schwert konnte ich jetzt sehen. Ich verdrängte es aus meinen Gedanken.
»Janos, Natalyia. Ihr seid beide Teil dieser Gruppe. Diese Gruppe führe ich. Mein Wort gilt. Ihr seid beide«, Janos sah auf und öffnete den Mund, ich hob die Hand, um ihn zu stoppen, »beide, sage ich und meine es auch so, am Leben, weil man euch leben ließ. Janos, Eure Geschichte mag wahr sein, aber ebenso gut könntet Ihr den Agenten der Königin erschlagen und sein Siegel aufbewahrt haben. Vielleicht habt Ihr ihn gefoltert, damit Ihr erfahrt, was zu sagen ist, wenn jemand wie Leandra in der Lage ist, das Siegel zu erkennen. Und Ihr, Natalyia, ich spüre noch Eure Dolche in mir. Ich vergesse nicht, wer einmal versucht hat, mich umzubringen. Ihr könnt euch gegenseitig beobachten, aber ich brauche euch beide. Speziell Euch, Natalyia. Denn Eure Gabe des Steins wird uns noch nützen. Doch … es wird auch ohne Euch gehen. Und Ihr, Janos? Wenn Ihr tatsächlich der Mörder Dunkelhand seid und nicht nur ein Schauspieler, wird auch Sieglinde Euch nicht nachtrauern, wenn wir Euch aufhängen. Und Ihr, Natalyia, Ihr seid eine Agentin Thalaks, Grund genug, euch nebeneinander an denselben Ast zu hängen. Beweist euch mir, uns. Ich dulde keine solche Zwietracht unter uns. Für euch beide ist dies ein neuer Anfang.«
»Ja, Ser«, sagte Natalyia und machte eine Art Verbeugung.
»Aber, Havald …«, begann Janos.
»Ich mag Euch, Janos. Ich mochte in einer gewissen Art auch Janos Dunkelhand, den Banditenanführer. Er hatte einen gewissen Stil. Aber ich wollte ihn tot sehen. Sorgt einfach dafür, dass der Wunsch nicht erneut in mir aufkommt.«
»Findet Ihr nicht, Havald, dass es etwas die Spitze nimmt, wenn einem ein Blinder droht?«, begehrte Janos auf. »Ihr wollt der Anführer sein, aber Ihr könnt nicht mehr führen, denn Ihr seht den Weg nicht.«
Ich richtete mich auf. »Janos, wollt Ihr führen, ist es das? Wie soll das gehen? Ihr habt mir noch keinen Grund gegeben, Euch zu vertrauen.«
»Pah!«, rief Janos. »Was tue ich denn, außer dem, was ich euch versprochen habe? Ihr habt alle keinen Grund, euch zu beschweren! Ich kämpfe an eurer Seite, friere mir mit euch zusammen Eier und Arsch ab und muss mich hier von Euch abkanzeln lassen! Was gibt Euch das Recht …«
»Ihr habt Euch uns angeschlossen. Niemand hat Euch gezwungen. Ihr solltet …«
»Verschont mich mit Euren vornehmen Worten, Havald. Ihr seid blind. Ihr könnt nicht mehr führen. Oder mir drohen. Und Eure Entscheidungen … Seht, was es uns gebracht hat! Wir hätten weitergehen sollen, wie ich es Euch sagte.«
»Dann führt Leandra an meiner Stelle.«
»Ich möchte nicht, dass ihr streitet. Können wir nicht gemeinsam gehen?«, fragte Sieglinde leise.
Ich merkte, wie Janos sich zwang, ruhiger zu werden. »Sieglinde, wie soll ich ihm vertrauen? Es mag Balladen über ihn geben, aber er macht dieselben Fehler wie wir alle. Seine Entscheidung, die Nacht in dieser beschissenen Höhle zu verbringen, hat Zokora beinahe umgebracht. Er ist nicht so außergewöhnlich, wie du denkst.« Er machte einen Schritt auf Sieglinde zu. Und sie einen auf ihn. Bevor er reagieren konnte, hatte Sieglinde ihn am Kragen gepackt. Nein, nicht Sieglinde. Serafine.
»Ich kann dir etwas sagen, Janos! Ich kann dir sagen, was hier los ist«, zischte sie. »Und du hörst mir jetzt zu. Weißt du, was hier los ist? Krankhafte Eifersucht! Sieglinde bewundert Havald, aber sie liebt dich. Aus welchen Gründen auch immer, sie liebt dich. Geht das in deinen Kopf? Niemand macht dir Sieglinde streitig, niemand will sie dir wegnehmen! Mann, du benimmst dich, als wärst du …« Ihre Stimme stockte. Sie ließ Janos los und trat einen Schritt nach hinten, ließ den Kopf hängen, »… verhext.«
Das letzte Wort kam in Sieglindes leiser Stimme.
Wir standen alle stocksteif da.
»Verhext?«, fragte Janos leise.
»Ich hatte Angst«, antworte Sieglinde ihm. »Ich hatte Angst vor dir, aber du hast mich auch … Du hast mir trotzdem gefallen. Deshalb, als ich die Geige in der Hand hatte … Ich wünschte es mir so sehr, und dann merkte ich, wie etwas geschah. Ich sah deine Augen und fühlte es auch in mir. Das war der Moment, in dem du dich in mich verliebt hast, nicht wahr?«
Er hob die Hände an den Kopf. »Ja … aber … das war es nicht. Es ist nicht so. Ich bin nicht verhext …«
»Seid alle mal still! Zokora will etwas sagen!«, rief Varosch dazwischen.
Die Dunkelelfe sprach leise und in langen Abständen. Leandra hielt in ihrer Arbeit nicht inne. Ich war froh, dass ich durch Seelenreißer keine Details sehen konnte, ich bemerkte nur, dass ihre Hände tief in Zokoras Leib steckten.
»Du warst verzaubert, Janos, und auch du, Sieglinde.« Zokora machte eine Pause, stöhnte zischend auf.
»Es ist gleich vorbei … nicht mehr lange«, flüsterte Leandra.
»Das wäre nett«, presste die Dunkelelfe zwischen den Zähnen hervor. Mühsam sprach sie weiter. »Ich habe den Zauber bemerkt. Aber es war nur ein kleiner Zauber, eine Art Trick … Er ist lange verflogen. Wenn ihr jetzt etwas fühlt, ist es … echt.«
»Danke, Zokora«, sagte ich. Ich war verwundert, dass sie es als so wichtig erachtete, um in ihrem Zustand zu sprechen. Aber ich war ihr dankbar dafür. Ebenfalls Serafine für ihre Worte. Ich wandte meinen Kopf in Janos’ Richtung. »Ich mag Sieglinde, Janos. Ich verkehre seit Jahren im Hammerkopf. Sie ist eine attraktive Frau, aber ich liebe eine andere. Ihr und ich, wir sind keine Konkurrenten.«
Sein Kopf wandte sich von Sieglinde zu Zokora und Leandra, dann zu mir hinüber. »Ich … Es kann sein, dass ich mich entschuldigen muss. Aber ich höre nur ständig Havald dies, Havald das … und Ihr seid blind!«
»Das hat nichts zu sagen«, kam Leandras Stimme von Zokoras Lager herüber. »Unsere Königin ist seit ihrer Kindheit krank und gelähmt. Trotzdem, trüge man sie auf einer Bahre auf das Schlachtfeld, würdet Ihr folgen, oder nicht?«
»Ich habe ihr meinen Lehenseid geschworen«, sagte Janos mit glaubhafter Empörung. »Natürlich folge ich ihr.«
Es lag etwas in seiner Stimme, vielleicht sah ich es auch in seiner Aura: in diesem Moment konnte ich ihm glauben. Er sagte die Wahrheit, das spürte ich.
Ich hatte nicht gewusst, wie groß meine Sorge doch gewesen war, dass er tatsächlich jener Räuberhauptmann wäre, für den er sich ursprünglich ausgegeben hatte. Erst in diesem Moment spürte ich, welche Last von mir abfiel.
Beruhigt ließ ich Seelenreißers Griff los, und Dunkelheit umfing mich, sein Flüstern versiegte.
»Wir werden unseren Weg gemeinsam gehen«, sagte ich. »Wir haben genügend Feinde und Widrigkeiten, dass wir uns nicht auch noch in unserer Gruppe streiten müssen. Wir sollten uns auf die Nachtruhe vorbereiten, etwas essen und für Zokoras Genesung beten. Natalyia wird sich beweisen. Sie hat uns schon einmal das Leben gerettet.«
»Sie konnte nicht anders und war selbst auch in Gefahr. Das bedeutet nichts, ich …«
»Janos«, sagte ich. »Lasst es gut sein. Gebt ihr eine Chance. Und jetzt möchte ich etwas essen und dann schlafen.«
Ich brauchte lange, um einzuschlafen. Meine Gedanken eilten hierhin und dorthin, wirr und ungeordnet. Meine Blindheit, Seelenreißers Gier, Janos, Sieglinde und der Geist Serafines in ihr … All dies ging mir durch den Kopf. Die Bären … es war die Bärenmutter, die Varosch angefallen hatte, sie lebte noch, denn Zokoras Gift hatte gewirkt, wenn auch verspätet. Das gleiche Gift hatte auch die Jungen betäubt. Ich bedauerte es, den stolzen Bären getötet zu haben, war aber dankbar für seine Kraft … Seelenreißer … Angeschmiegt an meinen Rücken spürte ich Leandra, ihren Atem in meinem Nacken, ihre Wärme. Ich hatte nicht gewusst, dass mein Schwert eine eigene Gier kannte.
Von solch unruhigen Gedanken geplagt, fand mich der Schlaf dann doch.