8. Der Festungsgraben
»Ich habe den Zugang zur Feste gefunden«, sagte Zokora, als sie von ihrer nächsten Erkundung zurückkehrte. »Leider wird er uns nichts nützen.«
»Warum?«, fragte ich.
»Es ist eine Brücke, die über einen Abgrund führt. Aber es ist eine Zugbrücke. Und diese befindet sich auf der anderen Seite und ist hochgezogen. Ich muss einen anderen Ausgang aus den Höhlen finden. Ihr wartet hier.«
»Haltet ein«, sagte ich, als sie sich schon wieder abwenden wollte. »Wir sollten uns diese Brücke mal ansehen.«
Sie schaute zu mir hoch. »Das ist verschwendete Zeit.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Auf ein paar Stunden mehr oder weniger kommt es nicht an. Wir können ebenso gut auch dort rasten, während Ihr den Ausgang sucht.«
»Was ist, wenn es keinen Ausgang gibt?«, fragte Janos.
Zokora sah ihn an. »Dieses Gebirge ist voll von Höhlen. Es wird einen geben, und ich werde ihn finden. Und falls nicht, gehen wir eben zurück und marschieren über die Oberfläche.«
»Dann bin ich dafür, dass du einen Weg findest«, sagte Janos und lächelte. »Da oben ist es mir zu kalt.«
Kalt war es auch hier unten, aber es ging kein Wind. Und man versank nicht im Schnee. Ja, mir war es allemal lieber, unter der Erde zu wandern, als ständig Schnee zu atmen.
»Gut, dann folgt mir«, sagte Zokora. Mir schmerzte der Rücken, und mein linker Fuß tat weh. Was sich ein Infanterist am sehnlichsten in seinem Leben wünschte, war ein Pferd. Hatte er erst eins, wollte er nicht mehr laufen. Ich hatte zu lange ein Pferd besessen.
Poppet ging vor mir. Ihr Packen schien eher noch größer als meiner. Aber sie hielt mit uns mit. War es so mühelos, wie es wirkte, oder hatte sie keine Wahl? Letzteres, vermutete ich. Sie würde laufen, bis sie zusammenbrach. Wenn es Essen gab und Zokora ihr erlaubte – als Letzte natürlich – zu essen, schlang sie alles in sich hinein, was noch da war.
Und Zokora hatte Angst vor Menschen?
Es war noch knapp eine Stunde Fußmarsch bis zum Eingang der Feste. Bis auf die Begegnung mit den Tiefenkrabblern und dem Drachen war der Weg ereignislos verlaufen. Ich war sicher, dass man die Tiefenkrabbler auch hätte besiegen können. Mit Ölbomben zum Beispiel. Nur dass wir zu wenig Öl dabei hatten. Aber wenn man sich vorbereiten konnte, dann schien mir das eine Möglichkeit.
Der Drache … Zokora erzählte mir später, was für ein Glück wir hatten. Ohne Poppets Talent wäre er nicht so schnell oder vielleicht gar nicht erschienen. Es bestand generell nur eine geringe Aussicht, dass man einen solchen Drachen anlocken konnte.
»Sie sind selten geworden«, hatte Zokora gesagt. »Aber ich hörte, dass einer hier in den Höhlen lebt.«
»Musstet Ihr nicht befürchten, er würde uns angreifen?«
»Die Gefahr bestand. Aber er dachte nicht ans Fressen.« Sie grinste breit. »Männchen aller Arten sind sich da ähnlich.«
Ich dachte öfter daran zurück, wie er mich gefragt hatte. Es war nicht nur Lust gewesen, sondern auch Verzweiflung. Ich fürchtete, er würde vergeblich nach einem Weibchen Ausschau halten. Ich konnte ihn nur zu gut verstehen. Ich sah nach vorn zu Leandra, die sich angeregt mit Sieglinde unterhielt. Ja, ich verstand ihn gut.
»Mann!«, entfuhr es Janos, als Zokora ein Licht vor uns aufsteigen ließ. »Man kann vom Imperium halten, was man will, aber bauen konnten sie!«
In der Tat.
Eine Felsspalte lief quer über unseren Weg, sie war bestimmt an die fünfzehn Mannslängen breit. Links und rechts des Weges hatten die Ingenieure des alten Imperiums den Boden geglättet und abgesenkt, sodass er in einer schiefen Bahn an die Kante des Abgrunds führte. Von den Stalaktiten an der Höhlendecke tropfte ständig Wasser herunter, gefror auf dem Boden zu einem dicken Eispanzer und verwandelte die Ebene in eine gefährliche Rutschbahn, die direkt am Abgrund endete.
Der Weg selbst wurde so zu einer etwa vier Mannslängen breiten Rampe, die sich gut zwei Mannslängen weit über die Tiefe erstreckte. Eine Stufe zeigte, wo sonst die Zugbrücke Auflage fand.
Auf der anderen Seite der Schlucht, eisig glitzernd in Zokoras Licht, ragte aus dem Stein das Torhaus mit der Zugbrücke heraus. Schießscharten, mit schweren eisernen Läden verschlossen, bedrohten das Plateau. Zwei Plattformen ragten aus der Steilwand heraus, links und rechts der schweren Zugbrücke. Diese trugen seltsame, unter Eis verborgene Konstruktionen, deren Sinn sich mir nicht erschließen wollte.
»Sagt, Sieglinde, weiß Serafine, was das ist?«
Sieglinde nickte. »Sie hat diesen Weg nie gesehen, aber sie kennt ähnliche Konstruktionen. Es sind große Lampen.«
»Das ist wirklich beeindruckend. Was ein feindlicher General wohl denken würde, wenn er das sähe?« Janos hatte seinen Helm abgenommen und kratzte sich am Kopf.
»Beeindruckend, in der Tat«, stimmte ich ihm zu. »Sollte jemand der Meinung sein, er müsse hier angreifen, so wird ihn ein Straucheln direkt in die Tiefe befördern. Lampen werden die Angreifer blenden, und ohne Deckung wird jeder Ansturm im Bolzenhagel untergehen. Belagerungsmaschinen kann man ebenfalls nicht einsetzen, sie würden in den Abgrund rutschen. Katapulte werfen ihre Steine im hohen Bogen … und würden die Decke der Höhle treffen. Ballisten bleiben übrig, aber die haben selten die notwendige Durchschlagskraft. Wenn ich ein feindlicher General wäre, würde ich verzweifeln.«
»Siehst du«, sagte Zokora zu mir. »Hier geht es nicht weiter.«
»Hm. Warum fliegt Ihr nicht zu einer dieser Plattformen und bringt dort ein Seil an?«
Zokora verdrehte die Augen. »Ich kann nicht fliegen. Schweben ja, aber nicht fliegen. Und bevor du auf andere Ideen kommst, ich muss festen Stein, Eis oder Boden in der Nähe haben. Einen tiefen Schacht kann ich entlangschweben, aber nicht diese Spalte überqueren.«
Ich wandte mich an Janos. »Wie sieht es mit einem Wurfanker aus?«
»Wieso fragt Ihr mich das?«
»Ich habe da so ein Gefühl, dass Ihr wisst, wie man mit einem umgeht. Außerdem habt Ihr einen in Eurem Packen.«
Er lachte. »Ja, ich bin leidlich gut mit einem Wurfanker. Aber das hier … Ich kann nur von der Plattform aus werfen. Das sind gute zwanzig Mannslängen Distanz und weitere fünfzehn hoch … Der Anker ist zu schwer. Das schaffe ich nicht. Und einem leichteren würde ich mich nicht anvertrauen wollen.«
Leandra trat neben mich, während ich die Pforte betrachtete. Sie legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich finde es genauso enttäuschend. Aber es sieht so aus, als müssten wir einen anderen Weg nehmen.«
»Gut«, sagte Zokora. »Ich mache mich auf die Suche. Ich nehme Poppet mit. Sie fühlt den Stein.« Damit drehte sie sich um und verschwand in der Dunkelheit, Poppet folgte ihr gehorsam.
Ich verbrachte einen Teil der Zeit damit, mir den Kopf zu zermartern, doch mir fiel nichts ein. Zum Schluss entschied ich, dies als ein Kompliment an die Festungsbauer anzusehen.
Dann nahm ich mein Schnitzmesser heraus.
»Was ist das für ein Holz?«, fragte Leandra, als sie sich neben mich setzte und sich an mich lehnte. »So eines habe ich noch nie gesehen.«
»Es ist kein Holz.« Ich hielt das Stück hoch, an dem ich arbeitete. »Ich versuche nur etwas. Das ist ein Stück Krabblerschale. Es lässt sich bearbeiten wie Speckstein, nur ist es wesentlich leichter. Ich denke, es eignet sich gut für die schwarzen Steine deines Shah.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich ekeln soll«, sagte Leandra.
»Hättest du etwas gegen Elfenbein?«
»Nein, wieso?«
»Nun, das sind Zähne. Blutig aus dem Kiefer gebrochen und …«
Sie stieß mich in die Seite. »Hör auf, Havald!« Sie lachte. »Ist ja schon gut. Es ist nur so, dass ich mehr Angst vor diesen Krabblern hatte als vor dem Drachen.«
»Ich werde Kakerlaken nie mehr mit dem gleichen Blick betrachten können«, sagte Janos. »Ich muss gerade an einen Kerl denken, den ich kannte. Ich frage mich, ob er seinen Spaß mit ihnen gehabt hätte.«
»Wie das?«, fragte Leandra neugierig.
Janos lachte. »Er war verrückt. Er sagte, dass Insekten eine gute Nahrung wären, und aß gern Heuschrecken und andere Käfer in Öl gebraten.«
Leandra schüttelte sich.
»Sind sie ihm bekommen?«, fragte ich. Es gab mal eine, nein, zwei Gelegenheiten, da wäre ich beinahe verhungert. Beide Male waren Insekten da gewesen. Hätte ich gewusst, dass man sie essen kann, ich hätte es getan.
»In gewisser Weise nicht. Er warf seine Insekten in den Kompanietopf, um uns auf den Geschmack zu bringen.«
»Und dann?«, fragte Leandra.
»Hatte er einen Unfall. Er fiel kopfüber in die Latrine und ertrank.« Er grinste breit, und wider Willen musste auch ich lachen.
»Das ist ja noch ekelhafter als Insekten«, sagte Leandra angewidert. »Ich weiß nicht, wie ihr da lachen könnt.«
»Leandra. In die Latrine fallen ist eine Bezeichnung dafür, dass ihn seine Kameraden töteten«, erklärte ich ihr.
»Das ist nicht minder abstoßend.«
»Ich werde jetzt Essen zubereiten«, sagte Sieglinde in einem warnenden Tonfall. »Und ich sage es euch gleich, wenn ich eine Kakerlake in meinem Topf finde, bringe ich auch jemanden um!«
Zokora und Poppet blieben lange weg, so lange, dass ich begann, mir Sorgen zu machen. Aber ich wartete und schnitzte.
Ich fand das Schalenmaterial zum Schnitzen gut geeignet. Nach kurzer Zeit hatte ich die erste schwarze Figur fertig. Einen der zwei schwarzen Ritter.
»Das ist Janos!«, rief Leandra und klatschte wie ein kleines Kind in die Hände, als ich ihr die Spielfigur mit einer Verbeugung reichte. »Das passt!«
»Lasst mich mal sehen«, sagte Janos, und Leandra reichte ihm den Ritter. Er musterte ihn und sah von der Figur zu mir. »Ihr seid wirklich ein Künstler, Havald. Welche Steine habt Ihr fertig?«
»Die Weißen sind vollständig«, sagte ich.
»Darf ich sie sehen?«
»Ja, bitte!«, rief Leandra, und Sieglinde nickte. »Ich gestehe, ich bin auch neugierig.«
»Ich dachte, er macht sie für Euch? Wie kommt es, dass Ihr die Figuren noch nicht gesehen habt?«, fragte Varosch.
»Ich habe einige gesehen, als er sie schuf. Aber immer wenn er fertig ist, legt er sie zur Seite.«
Ich zögerte, dann zuckte ich mit den Schultern und holte aus meinem Rucksack den Beutel mit den Figuren heraus.
»Das ist ja Joakim«, rief Sieglinde. »Und Papa.« Ihr Gesicht wurde ernst. »Du hast unsere Kameraden als Figuren verwendet?«
»Damit ich ihre Gesichter nicht vergesse«, sagte ich.
»Wer ist denn dieser Ritter? Er kommt mir bekannt vor.«
Ich betrachtete die Figur, die sie hochhielt. »Erkennt ihr ihn nicht?«
»Der Sergeant«, sagte Janos.
»Ja, der Sergeant. Und der andere Ritter hier ist Serafine.«
»Ich habe sie nicht erkannt«, sagte Sieglinde leise.
»Die Rüstungen unterscheiden sich auch nicht sehr. Aber das Visier ist offen.«
Sieglinde nahm die Figur hoch und sah sie genau an. Dann lächelte sie. »Ja, das ist sie. Woher kanntet Ihr ihren Gesichtsausdruck?«
Ich hatte Serafine nur im Tode gesehen, aber der Sergeant konnte mehr als genug Erinnerungen beisteuern.
»Und das bist du«, sagte Janos und hielt eine Priesterin hoch. »Eindeutig.«
Sieglinde nahm die Figur und hielt sie neben die von Serafine. »Auf diesem Brett sind wir zwei«, sagte sie leise.
»Du hast Kennard als den weißen König gefertigt?«
Ich nickte. »Er bot sich irgendwie an.«
Leandra musterte den weißen Herrscher lange, dann schaute sie zu mir herüber. In ihren Augen stand eine Frage.
»Und wann sehe ich meine Figur?«, fragte Zokora hinter mir. Ich seufzte vernehmlich. »Wenn Ihr das noch öfter macht, sterbe ich vorher an Herzrasen!«
»Ich habe mich bemüht, laut zu sein.«
»Das stimmt«, sagte Leandra. »Ich habe sie gehört.«
Ich sah Sieglinde, Janos und Varosch an. Alle drei schüttelten den Kopf.
»Ich werde nicht trampeln wie ein ungeschlachter Mensch! Ich weiß nicht, weshalb du dich so aufregst, Havald.«
»Weil ich es hasse, wenn Ihr von hinten kommt. Meine erste Reaktion ist immer, aufzuspringen und zuzuschlagen.«
»Bisher hast du nie reagiert«, meinte sie zweifelnd.
Ich sammelte die Figuren ein und verstaute sie wieder in meinem Rucksack. Ich hatte die Nase voll.
»Schätzt Ihr mich tatsächlich so ein?«, fragte ich.
Sie legte den Kopf auf die Seite. »Du hast nie reagiert.«
»Zokora. Geht hinter mich. Nehmt einen Stein und werft ihn mir an den Kopf. Achtet darauf, dass Ihr weiter als eine Mannslänge entfernt seid.«
Sie musterte mich noch immer. »Warum?«
»Weil ich es leid bin, dass Ihr Euch auf meine Kosten amüsiert.«
Leandra legte mir die Hand auf die Schulter. »Sie meint es nicht so. Und sie ist tatsächlich lauter gewesen als sonst. Sie ging und schwebte nicht.«
Ich merkte, dass ich stur sein wollte. Irgendwie hatten mich Zokoras kleine Sticheleien erwischt. Sie nahm mich ernst, das wusste ich. Aber nicht meine Warnung.
»Zokora. Macht es.«
Ich legte die Hand an Seelenreißers Heft, setzte mich und schloss die Augen. Ich tat das sehr ungern, mich mit Seelenreißer zu verbinden, er war so … kalt. Ich selbst spürte den Stein nicht kommen, aber die Klinge tat es. Sie fuhr aus ihrer Scheide, und ein helles Kling ertönte, gefolgt von zwei leisen Aufschlägen, als die Hälften des Steins zu Boden fielen.
Während ich Seelenreißer durch meine Handfläche zog, spürte ich seine Wut, er mochte es nicht, solcherart zur Schau gestellt zu werden.
Diesmal brannte sein Schnitt wie Feuer. Ich schob die blutige Klinge in ihre Scheide zurück und stand auf. Mein Rücken, die Schulter und der Arm brannten. Der Mensch war nicht dafür gemacht, sich so schnell zu bewegen. Ich befürchtete, dass ich mir etwas gezerrt hatte.
Ich sah zu Zokora hin. Ihr Gesicht war ausdruckslos.
»Bislang habe ich Euch an der Stimme erkannt, Zokora. Immer rechtzeitig. Irgendwann …« Ich machte eine dramatische Pause. »Irgendwann seid Ihr heiser. Oder habt ein Tuch vor dem Mund. Oder ein Hund bellt in dem Moment …«
Sie nickte. »Ich werde in Zukunft von vorn kommen oder pfeifen. So.« Sie stieß einen leisen Pfiff aus. »Ist dir das recht?«
Ich nickte. »Mehr will ich nicht.«
»Havald.« Es war Varosch, der mich nachdenklich ansah. »Könnt Ihr das auch mit einem Bolzen?«
Ich nickte. »Was ist?« Die anderen sahen mich alle etwas befremdet an. Dann verstand ich. »Nein, das bin nicht ich, es ist Seelenreißer.« Ich sah zu Leandra hinüber. »Du müsstest es auch können.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Steinherz kann das nicht.«
»Auch Eiswehr nicht«, sagte Sieglinde.
»Habt Ihr einen Durchgang gefunden?«, fragte ich Zokora, um das Thema zu wechseln. Ich bereute bereits, Seelenreißer vorgeführt zu haben. Meine linke Hand brannte noch immer, diesmal hatte die Klinge tief gebissen. Das zumindest, so wusste ich, hatten alle Bannschwerter gemein. Bevor sie in die Scheide zurückgingen, wollten sie Blut.
Deshalb trug ich ein zweites Schwert, ein gutes Schwert, aber ohne eine eigene Meinung und ohne diesen Blutdurst. Janos hatte nichts gesagt, mich nur angestarrt. Ich erinnerte mich an Eberhards Worte. Janos hatte den Räuberhauptmann nur zu gut gemimt. Wieder beschloss ich, ihm nicht zu sehr zu trauen.
»Ja. Folgt mir«, sagte Zokora. Ich ergriff meinen Packen. »Wo ist Poppet?«
»Sie erweitert die Spalte.«
»Ihr habt sie allein gelassen? Und wenn ihr nun Gefahr droht? Oder kann sie sich verteidigen?«
»Natürlich nicht«, sagte Zokora überrascht. »Wenn sie in Gefahr gerät, gerät sie in Gefahr. Und stirbt. Oder nicht.«
Ich sagte nichts weiter, schulterte mein Gepäck und folgte ihr.
Sie ging eine Weile schweigend voran. Dann wandte sie sich zu mir um. »Hast du ihr denn schon verziehen? Sie hat dich im Tempel hart erwischt, vielleicht hätten sich die Wunden als tödlich erwiesen. Sie hat deine Milz getroffen.«
Ich erinnerte mich nur zu gut an die blitzschnelle Attacke und das kalte Gefühl, als Poppets Stilette in mich eingedrungen waren. Schmal und spitz, war ein Stilett dafür gemacht, Kettenpanzerung zu sprengen.
»Ich kenne sie nicht«, antwortete ich Zokora. »Hätte ich es gekonnt, hätte ich sie damals erschlagen. Aber ich weiß nichts über sie, außer dem, was Janos erzählte.«
Sie nickte. »Sollte sie uns so gut dienen, dass ich sie gehen lasse, kannst du sie fragen, wer sie ist. Bis dahin ist sie Poppet. Mein Besitz.«
Dadurch, dass sie zu Schweigen und Gehorsam gezwungen wurde, übte Poppet eine seltsame Faszination auf mich aus, die eines Rätsels. Jeder andere verriet, auch wenn er schwieg, durch seine Handlungen und Mimik etwas über sich. Poppet nicht. Sie tat, was man ihr sagte, und ihr Gesicht blieb frei von Gemütsbewegungen. Nur ihre Augen sagten etwas, aber nicht immer konnte man sie lesen.
Poppet hatte den Felsspalt erweitert, und ihr war nichts geschehen. Der Spalt war immer noch eng, aber er ließ sich passieren. Hier und da war der Fels erstaunlich glatt. Woher das kam, sah ich, als ich Poppet am Ende des Gangs erblickte. Sie strich den Fels zurecht wie ein Bäcker den Brotteig.
Die Spalte mündete in eine Höhle. Diese war vielleicht vierzig Mannslängen tief. Fahles Tageslicht lockte am anderen Ende. Ich sagte »Danke« zu Poppet, trat an ihr vorbei in die Höhle und ging langsam zum Ausgang hin. Schon als ich näher kam, hörte ich den Wind heulen, dann sah ich draußen den weißen Vorhang aus vom Wind gepeitschtem Schnee.
»Verdammt. Ein Schneesturm«, sagte Leandra neben mir.
»Ja.« Ich legte meinen Arm um ihre Schulter. »Aber dieser Sturm wird vergehen. Wir werden einfach warten.«