17. Ein gastliches Haus

 

Diese Nacht hatten wir im Freien verbracht, ohne Schutz außer einer Zeltplane. Der Morgen begrüßte mich mit dem Prasseln von Sand, der gegen meine Plane getrieben wurde. Sand fand sich auch in Ohren, Mund und Nase, über Nacht war Wind aufgekommen.

»Die Sonne blutet«, teilte mir Poppet mit. »Ich sehe ein dunkles, braunrotes Band am Himmel, fast scheint es, als ob sich Finger in unsere Richtung strecken.«

»Ein Sturm zieht auf«, meinte Leandra neben mir. Zurzeit trug Sieglinde Faraisa.

»Ein Sturm? Ich kann Regen nur willkommen heißen«, sagte Janos. »Damit werde ich endlich diesen verdammten Sand los. Es ist kaum zu glauben, wohin er überall seinen Weg findet.«

»Ich glaube nicht, dass es regnen wird«, sagte ich leise. »Gewitterwolken sind nicht braunrot.«

»Was sollen diese Wolken tragen, wenn nicht Regen?«, fragte Janos.

»Sand«, kam es von Sieglinde. »Wir müssen uns beeilen! Ich hoffe, dass wir nahe genug an der nächsten Wegestation sind, um sie rechtzeitig zu erreichen.«

»Sand?«, fragte Janos ungläubig. »Wie soll Sand in die Wolken kommen? Ich meine, ich habe auch keine Ahnung, wie das Wasser da hineinkommt, aber Sand?«

»Glaub mir, es ist Sand«, sagte Sieglinde. »Und wenn wir keinen Schutz finden, wird es schwierig.«

»Gut.« Ich sammelte meine Ausrüstung ein. »Dann lasst uns keine weitere Zeit verschwenden.«

»Kein Frühstück?«, rief Janos empört. »Ich soll mit leerem Magen marschieren?«

»Versuch es mit den Füßen«, rief Zokora ihm zu. »Es geht sich besser so.«

»Täusche ich mich, oder versucht sich Zokora hin und wieder an Humor?«, fragte mich Leandra etwas später. Wir hatten uns Tücher um den Kopf gewickelt, und ihre Stimme klang gedämpft. Aber die Tücher schützten uns vor dem Sand, der immer wieder vom Wind aufgetrieben wurde.

»Entweder das oder sie meint alles, was sie sagt, ernst«, antwortete ich ihr.

»Ich weiß nicht, was mich mehr ängstigt«, sagte sie dann mit einem leisen Lachen. »Das eine oder das andere.«

Mir kam ein Gedanke. »Poppet?«

»Ja.«

»Dein Talent ist Stein. Sand ist nichts anderes als geriebener Stein, kannst du etwas tun?«

»Nein. Stein ist Stein, und Sand ist Sand. Und mein Talent ist nur gewachsener Stein. Ziegelstein oder auch eine Mauer aus Fachwerk verwehrt sich meinem Talent.«

Ich blieb stehen. »Seit wann bist du frei?«

»Wie meint Ihr das, Havald?«

»Seit einigen Tagen werden deine Antworten umfangreicher, und du beantwortest auch Fragen, die ich nicht direkt stelle.«

Sie seufzte. »Ich war unachtsam seit der Bärenhöhle. Sie sagte es Euch doch: Ich diene ihr freiwillig.«

»Natalyia, Ihr …«

»Nein, Ser Havald. Poppet. Ich bin Poppet. So ist es besser, glaubt mir. Die anderen vertrauen Poppet, aber nicht Natalyia.«

»Aber …«

»Ser Havald. Vertrauen muss verdient werden, nicht wahr?«

Ich nickte. »Ich danke dir für die Hilfe in den letzten Tagen, Poppet.«

Sie entgegnete nichts.

»Ich sehe etwas!«, rief Varosch von vorn. Er war kaum zu verstehen, der Sand in der Luft verschluckte Geräusche und prasselte gegen das Tuch um meinen Kopf. Ich hatte die Hand auf Poppets Schulter, und wir fingen an zu laufen.

In den letzten Stunden hatte der Wind immer weiter aufgefrischt. Jede ungeschützte Stelle war nun schon wundgerieben von dem ewigen Sand. Sieglinde hatte das Baby unter ihren Umhang gebunden und aus dem leichtesten Tuch, das wir besaßen – das Seidentuch, in das Faraisa eingewickelt gewesen war –, eine Art Zelt konstruiert, in dem das Kind atmen konnte.

»Da vorn!«, rief Varosch.

»Es sieht aus wie eine Wegestation«, keuchte Poppet neben mir. »Ich bin mir nicht sicher, aber sie scheint nicht zerfallen. Ich sehe Bäume, vom Wind gebeugt, aber nicht verdorrt. Es gibt noch Wasser hier.«

Wir rannten, und ich war selbst erstaunt, dass ich nicht fiel. Aber als wir die Wegestation erreichten, fanden wir das Tor vor uns verschlossen. Janos hämmerte gegen das Holz, aber es war sinnlos, der Wind übertönte jedes Geräusch.

»Helft mir hoch!«, rief Varosch, und Janos und ich hoben ihn an und warfen ihn mit vereinten Kräften hoch, sodass er den oberen Rand des Tores erreichte und sich hochzog. Dennoch dauerte es einen Moment, bis sich das Tor öffnete.

Als wir uns durch das Tor zwängten und es dann mit vereinten Kräften wieder gegen den Wind schlossen, kam es uns vor, als wären wir wieder im Hammerkopf, diese Wegestation entsprach fast exakt dem Bauplan. Und sie war bewohnt, denn im Stall hörte ich Tiere, und am Brunnenhäuschen in der Mitte des Hofs stand ein Eimer mit einem Seil, der Brunnen selbst war sorgsam mit einer großen Holzplatte gegen den Sand verschlossen.

Ohne Zögern wandten wir uns nach links, dort befand sich das Haupthaus. Knappe zehn Schritte brachten uns zu einer intakten, aber verschlossenen Tür, und Varosch hämmerte dagegen. Diesmal wurde er gehört, und die Tür ging auf.

Mit Seelenreißers Sicht konnte ich kaum mehr erkennen, als dass es ein Mann war, der uns da geöffnet hatte, fast so groß wie ich, aber breiter in den Schultern.

Wind und Sand fegten mit uns in den Raum hinein, dann ebbten sie ab, als die Tür mit vereinten Kräften geschlossen wurde.

Ein kleinerer Mann eilte auf uns zu. »Willkommen, Esseri, willkommen! Ich bin Fahrd, Sohn des Ashmal, Sohn des Jimard. Ich heiße euch in meinem Heim willkommen, so bescheiden es auch sein mag. Den Segen der Götter für euch, Wanderer, und sie seien gepriesen, dass sie euch den Weg hierher zeigten, in einer solchen Nacht. Dies ist Zolam, mein nichtswürdiger Diener, und er wird euch auch zu Diensten sein … so ihr die Münze habt, um zu bezahlen! Es würde mir das Herz brechen und sicherlich auch Zolam, dumm wie er ist, müssten wir euch wieder in den Sturm hinausschicken.« Ich konnte Fahrd gut verstehen, auch wenn seine Aussprache seltsam klang.

»Wir haben Geld«, sagte Janos.

»Den Göttern sei Dank, dass ich nicht gezwungen bin, euch mein Haus zu verwehren, so ungastlich zu sein! Und auch Zolam ist sicherlich erleichtert, euch mit frischen Datteln bewirten zu können und nicht seinen Knüppel zu benutzen. Kommt herein, setzt euch, ein Tee wird euch sogleich gebracht!«

Er klatschte in die Hände, und ich sah andere Umrisse heraneilen, die kleiner und zierlicher waren: junge Mädchen.

»Setzt euch hierher. O Götter, wie haben sie euch gestraft! Eure Augen sind blind? Sahen sie zu viel der Wunder der Schöpfung … Setzt euch … Meine Mädchen werden euch die Füße waschen, und eine Pfeife besten Tabaks wartet, euch zu entspannen. Die beste Küche Bessareins habt ihr in diesem Hause gefunden, wartet noch ein wenig, und eure Gaumen werden ungeahnte Wonnen verspüren. Ich habe auch Zimmer für euch, sauber und rein. Ihr habt Geld, aber habt ihr genügend Geld, oder zwingt ihr mich, euch blutenden Herzens im Stall einzuquartieren?«

»Wir haben Geld«, sagte Janos erneut, ich hörte einen gewissen gereizten Unterton in seiner Stimme.

»Gut, gut!«, rief Fahrd. »Die Götter lächeln in der Tat auf euch herab. Zolam hier ist kaum zu gebrauchen, er ist dümmer als ein Ochse, aber weitaus stärker, und hier zeigt sich, dass er doch zu etwas nütze ist, er wird euer Gepäck auf eure Zimmer bringen, das vermag er gerade noch zu tun. Die besten Zimmer für diese Herrschaften, Zolam, und beeile dich! Siehst du nicht, wie müde unsere hochgestellten Gäste sind?«

Ich fand mich irgendwie auf einer Bank wieder, und zarte Hände lösten die Riemen meiner Stiefel. Ich hörte leichtes Kichern unter dem Tisch, als sie an meinen Stiefeln zerrten; die Mädchen kannten solches Schuhwerk nicht.

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, murmelte Janos neben mir. »Bedenkt, wie lange wir die Stiefel tragen.«

»Das ist mir egal«, hörte ich Sieglindes Stimme. »Meine Füße sind wund, und nicht nur sie könnten ein Bad vertragen.«

Aber dann übertönte Fahrd sie wieder, und ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis meine Ohren so wund waren wie meine Füße.

»Die Götter fügen es, dass in meinem Keller der beste Wein der ganzen Reiche lagert. Habt ihr Gold, so kann ich euren Gaumen mit jeder Köstlichkeit erfrischen! Nennt mir nur den Wein, den ihr haben wollt, ich werde ihn sofort bringen lassen und euch eigenhändig kredenzen. Es gibt auch köstliches Wasser hier, denn meine Brunnen sind tief, das Wasser rein und klar, und die Götter verbieten, einen Preis für Wasser zu verlangen, so kann ich euch auch aus reiner Liebe zu meinem Nächsten das beste Wasser geben, das ihr jemals getrunken habt! Es ist wie Nektar aus dem tiefen Schoß der Erde, und manch einer schwört, dass mein Wasser besser ist als der süßeste Wein.« Endlich holte Fahrd einmal Luft. »Und noch mehr wartet auf euch, ihr edlen Reisenden. Ich habe Honigwein, der Honig gesammelt von Jungfrauen im Garten eines fernen Palastes, gegorene Milch oder Trauben. Nennt mir euren Herzenswunsch und ich …«

»Wirt«, hörte ich Zokoras Stimme. Sie klang frostig. »Warme Milch!«

»… werde mich persönlich darum kümmern, dass euch jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird. Niemand soll das Haus von Fahrd verlassen und unglücklich gehen. Niemals wird …«

»Warme Milch.«

» … ein Gast es erleben, dass ihm ein Wunsch abgeschlagen wird …«

»Fahrd, Sohn des Ashmal. Bring uns warme Milch«, sagte ich, und der Redestrom versiegte.

»Sofort!«, rief Fahrd entzückt und klatschte in die Hände. »Warme Milch für die Konkubinen, sie wird geschwind gebracht! Aber, so unangenehm es mir ist, es bricht mir fast das Herz, danach zu drängen, aber ich muss auch an mich und meine Familie denken, denn alle hier leben von meiner Großzügigkeit und …«

»Was wollt Ihr?«, unterbrach ihn Janos grob. Mittlerweile standen meine Füße in kühlem Wasser und wurden von zarten Händen gewaschen. Ich musste zugeben, dass es sich, obgleich ungewohnt, angenehm anfühlte. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Blut aus meinen Ohren lief.

»Was ist eine Konkubine?«, hörte ich Zokoras Stimme. Ich sandte ein Stoßgebet an die Götter.

»… ich bedauere es zutiefst, dass ich nach der Farbe eures Geldes fragen muss.«

Ich griff in meinen Beutel.

»Fahrd, Sohn des Ashmal, Sohn des Jimard!«, sagte Sieglindes Stimme, nein, es war Serafine, aber diesmal hatte ihre Stimme Macht, das Geschenk der Fee, wie Sieglinde es nannte.

»Hört mich. Mein Name ist Serafine, Tochter von Hasalf, aus der Line des Hauses des Adlers. Lange währte meine Reise, und in fremde Länder führte sie mich. Ich kehre nun nach Hause zurück, und dies sind meine Begleiter. Der Mann, mit dem Ihr so respektlos redet, ist Saik Havald. In seiner Heimat ist er reich und mächtig, seine Stimme erreicht das Ohr von Fürsten. Obwohl blind, ist er ein gewaltiger Krieger, und seine Weisheit ist weithin berühmt, fast so berühmt wie sein Harem und die Schönheit seiner tausend Pferde und das Grün des Grases seiner Ländereien, auf dem sie weiden. Der Mann an seiner Seite ist Janos Dunkelhand, ein tapferer Krieger und der Führer der Wache von Saik Havald. Sein Name ist in unseren Ländern wegen der Schärfe seiner Klinge und seiner schnellen Geduld berühmt. Die Schönheit zur Linken des Saik, die Ihr mit unverhohlener Lust anzusehen wagtet, ist Leandra die Weiße. Sie ist die erste Frau des Saiks, Tochter eines Fürsten und in eigenem Namen Herrscherin über fünf Städte, die sie als Mitgift brachte. Sie ist ausgebildet in Schrift und Wort, den Wissenschaften, dem Tanz und Gesang und Dingen, von denen Ihr träumen dürft, aber nicht so, dass es sichtbar wäre. Sie ist eine Perle im Land meines Herrn, und Fürsten hielten um ihre Hand an. Sie zu berühren ist nur unserem Herrn gestattet, alle anderen sind des Todes.«

Ich glaube, ich war genauso sprachlos wie die anderen. Aber Serafine gewann nur noch mehr an Fahrt. »Dieser Mann ist Esseri Varosch Falkenauge, ein Streiter seines Gottes Boron, ein Freund unseres Herrn und selbst ein Held, von dessen Taten viele sprechen. An seiner Seite befindet sich Zokora Schattennacht, die erste Frau von Varosch Falkenauge und Hüterin der Geheimnisse ihres Clans, ihre Augen sind verbunden, damit nur solche, für die ihre Klinge bestimmt ist, ihren Blick sehen, bevor sie sterben. Ihre zarte Hand vollstreckt den Willen der Götter. Die Frau, die stolz neben meinem Herrn steht, ist seine erste Konkubine, auch sie ausgebildet in Tanz, Kunst, Gesang und dem heißen Stahl, den sie verwendet, um Attentäter zu den Göttern zu schicken. Lang war unsere Reise. Sorgt Euch nicht um Gold, Euer Lohn wird reichlich sein, aber hütet Eure Zunge, denn schon habt Ihr meinen Herrn und sein Gefolge beleidigt. Lest die Wünsche ab von seinen Augen und seinen Lippen, doch tut es leise. Ich hoffe, Fahrd, Sohn des Ashmal, Ihr versteht nun, dass dieser erbärmlichen Hütte, die Ihr Euer Heim nennt, hohe Ehre widerfährt! Und nun hinfort und bringt die Milch!«

»Ähhh … gewiss … sofort! Verzeihung!«, sagte Fahrd nur noch, dann eilte er davon.

Ich hatte mich wohl irgendwie verschluckt und musste husten, aber anderen erging es ähnlich. Janos neben mir gab ein leises Röcheln von sich.

»So, Havald. Euer Harem ist berühmt?«, sagte Leandra neben mir. Ich hörte ihre Stimme nah an meinem Ohr. »Und ich bin ausgebildet in gewissen Künsten?«, hauchte sie.

»Beschwer dich bei Serafine«, gab ich leise zurück. »Ich bin schuldlos.«

»Das werde ich tun. Oder auch nicht. Vielleicht erzählt sie mir mehr von meiner Schönheit, Frauen hören das gern.«

»Wirklich?«, fragte ich erstaunt, und sie biss mir lachend ins Ohr.

Nachdem wir uns etwas von dem Rededuell erholt hatten – ich hätte nie gedacht, dass man so viele Worte ohne Atem zu holen aussprechen kann –, beschrieb mir Poppet den Raum. Die grundsätzliche Aufteilung sowie die Lage der Türen und Fenster waren mir noch vom Hammerkopf im Gedächtnis. Doch es gab deutliche Unterschiede in der Einrichtung. Im Verhältnis zu Eberhards Hammerkopf konnte man diesen Gasthof nur als opulent bezeichnen. Reich bestickte Teppiche hingen an den Wänden und bedeckten den Boden, das Geschirr war aus Silber und die Becher aus kostbarem Glas, was, wie Sieglinde erklärte, hier im Alten Reich nicht so kostbar war wie bei uns. Spiegel, eine absolute Rarität in den Neuen Reichen, fanden sich dann auch gleich zweifach an den Wänden.

Die Tische und Bänke waren deutlich niedriger, als wir es gewohnt waren, und gepolstert, und die Mädchen, die uns so freundlich die Füße wuschen, waren gut ein Dutzend an der Zahl.

»Das hört sich an, als ob wir uns in einem Haus der Lust befinden«, sagte ich dann.

Ich spürte, wie Janos neben mir mit den Schultern zuckte. »Ich weiß es nicht. Ich denke nur, dass alles seinen Preis hat. Dieser Fahrd würde uns die Luft zum Atmen verkaufen, wenn er könnte. Ich traue ihm keinen Schritt weit. Es hätte ihm das Herz gebrochen, hätte er uns in den Sturm schicken müssen? Pah! Es hätte ihm was anderes gebrochen, hätte er es versucht!«

Es gab andere Gäste außer uns, aber nicht viele. Drei Männer in diesen fließenden Gewändern, die man hier trug, saßen, bis an die Zähne bewaffnet, in einer Ecke, sowie ein älterer Mann von ausgesprochener Leibesfülle, der ununterbrochen am Essen war und sich zwischen einem Bissen und seinem Wein hin und wieder Naschereien von einem der Mädchen in den Mund schieben ließ.

Die Mädchen waren leicht, fast skandalös bekleidet, in Gewändern, die zum Teil durchsichtig waren, alle schwarzhaarig und dunkeläugig, und keine von ihnen war älter als fünfzehn.

Als man uns Wein brachte, griff Varosch nach einem der Mädchen und zog es an sich heran. Sie hielt still, als er ihr Obergewand anhob und ihren Rücken musterte. Er fluchte leise. Dann ließ er sie wieder gehen.

»Sie ist mit Peitschenhieben gezeichnet«, sagte Poppet leise.

Ich nickte. »Halte ein Auge auf Varosch. Tut er etwas Ungewöhnliches, dann will ich es wissen. Ich weiß nicht, wie sein Gerechtigkeitsempfinden hier ankommt.«

Das Essen selbst war von wirklich außergewöhnlicher Qualität und bestand aus zahlreichen Gängen, jeweils nur eine geringe Menge, aber hervorragend. Entgegen seinem Versprechen hatte der Wirt weder Orthentaler noch Fiorenzer Wein in seinem Keller, aber der Wein war gut genug, wenn auch etwas süßlich. Die Naschereien wurden auf kleinen silbernen Tellern nebenher angeboten und waren das, was mich am meisten beeindruckte. Immer wieder musste ich fragen, was ich hier aß, von den meisten Dingen hatte ich nie gehört. Kandierte Früchte, Honiggebäck so süß, dass es einem die Zähne zusammenzog, aber man nicht davon lassen konnte, und zum Schluss Birnen, überzogen von einer zähen, süßen Substanz, die so gut schmeckte, dass ich ein Dutzend davon hätte essen können. Serafine kannte es, es nannte sich Schokolade, ein Wort, das ich mir zu merken vornahm. Kurz, es war ein beeindruckendes Gelage.

Nach dem Essen wurde ich sehr schnell müde, und nicht nur mir erging es so. Nach den Anstrengungen der letzten Tage war uns ein frisches Bett wahrhaft willkommen. Die Räume, zu denen uns ein schweigender Zolam führte, waren nicht weniger üppig eingerichtet als der Gastraum, mit einem breiten Bett, Schränken, Tisch und Anrichte, sowie zwei Stühlen aus Rosenholz. Die Laterne, die Zolam für uns entzündete, war parfümiert und erfüllte den Raum mit dem Geruch von Rosen.

Hinter den dicken Mauern war von der Macht des Sturms nur wenig zu bemerken, aber er schien bereits wieder abzuflauen. Der Wirt hatte uns versichert, dass der »himmlische Wind« bald abziehen würde; er sagte, die Stürme seien hier oft nur kurz, dafür umso heftiger.

Ich bat Varosch, zu mir zu kommen, bevor wir uns schlafen legten.

»Die Mädchen hier werden misshandelt«, sagte Varosch, kaum dass er drinnen war. »Ich kann das nicht einfach übersehen.«

»Ihr müsst«, antwortete ich ihm leise. »Dies ist nicht unser Land und nicht unser Recht. Wir sind Gäste unter seinem Dach.«

»Es ist nicht recht«, beharrte er.

»Ist Euch wohler, wenn ich Euch sage, dass ich es genauso sehe? Aber es ist nicht unsere Aufgabe.«

»Wie könnt Ihr dazu schweigen, Ser Havald?«

»Das ist einfach. Ich denke nur daran, was mit unseren Frauen geschieht, wenn Thalak eine Stadt erobert.«

Varosch stand einen Moment da und atmete dann tief durch. »Ich werde nichts unternehmen.«

»Ich danke Euch, Varosch. Wir werden abreisen, sobald wir können. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.«

»Sera Leandra, Ser Havald, auch Euch eine gute Nacht.«

Er gähnte bereits, als er sich zum Gehen umwandte.

Es war ansteckend. Ich gähnte so heftig, dass ich eine Maulsperre befürchtete, entkleidete mich, wusch mich und fiel neben Leandra, die auch schon schlief, ins Bett. Das Lager war bequem und warm. Als ich mich ein letztes Mal streckte, dachte ich schläfrig, dass ich mich in meinem ganzen Leben noch nie so müde gefühlt hatte. Ich schloss die Augen und schlief.