20

In Seoul nahmen Soo-Ja und Hana ihr gewohntes Leben wieder auf. Soo-Ja kümmerte sich um das Hotel und Hana ging zur Schule. Das Geld war noch auf der Bank. Soo-Ja war dort gewesen und hatte sich davon überzeugt. Hätte sie gewollt, hätte sie lange Zeit nicht arbeiten müssen. Aber sie brauchte einen geregelten Tagesablauf, und sie wollte, dass ihr Leben so weit wie möglich aussah wie früher. Sie hatte ihren Vater und ihren Ehemann verloren und spürte den Kummer darüber noch immer tief in ihrem Herzen. Es überraschte sie, dass sie keine Erleichterung, sondern vielmehr Trauer empfand. Soo-Ja kannte nur wenige Frauen, die geschieden waren, und man behandelte sie wie ehemalige Sträflinge man sprach über sie, freundete sich aber nicht mit ihnen an. Hatte sie in gewisser Weise versagt? Sie hatte immer von dem Tag geträumt, an dem sie sich von Min würde befreien können, aber nun, da dieser Tag gekommen war, konnte sie sich nicht darüber freuen.

Soo-Ja machte sich Sorgen um ihre Tochter, obwohl die mit der Entscheidung ihres Vaters anscheinend gut zurecht kam. Hana machte sogar Witze darüber und sagte, jetzt sei sie richtig amerikanisch, da die Mädchen dort doch alle geschiedene Eltern hätten. Schon damals wusste Soo-Ja, dass sie ihre Tochter irgendwann an Amerika verlieren würde. Erst würde sie nur in den Sommerferien hinfliegen, dann dort aufs College gehen, und schließlich würde sie einen amerikanischen Jungen heiraten und für immer bleiben. Und wie erging es Min? Min war immer beschäftigt. Es gefiel ihm, von seinen Eltern gebraucht zu werden. Er fuhr sie herum, spielte Golf, ging mit ihnen angeln und feierte Grillfeste in ihrem Garten. Soo-Ja vermutete, er würde bald anfangen, sich mit einer neuen Frau zu treffen.

Und Soo-Ja? Sie arbeitete viel. Sie dachte an Yul und Eun-Mee und daran, dass die beiden ihre Eheprobleme wahrscheinlich in den Griff bekommen hatten. Sie konnte es nicht über sich bringen, in ihre Ehe einzudringen, darum hielt sie sich von den beiden fern. Jetzt, wo sie selbst nicht mehr verheiratet war, fühlte es sich nicht richtig an, mit Yul zu sprechen. Einmal sah sie ihn auf der Straße, als er gerade aus dem New-World-Einkaufszentrum kam. Sie drehte sich schnell um und ging in die andere Richtung, bevor er sie entdecken konnte. Wenn sie Abstand voneinander hielten, dachte sie, könnte wenigstens einer von ihnen beiden eine gute Ehe führen.

Doch sie vermisste ihn und dachte fast jeden Tag an ihn, besonders abends im Bett, bevor sie einschlief. Das war vermutlich auch der Grund, warum sie so lange zögerte, ihm das geliehene Geld zurückzuzahlen es war das Letzte, was sie noch miteinander verband, und wenn sie ihm das Geld gegeben hatte, gab es keinen Grund mehr, sich zu treffen. Aber sie begriff, dass sie endlich lernen musste, ihn loszulassen, und darum gab sie Hana einen Umschlag mit einem Scheck darin und bat sie, ihn bei Yul vorbeizubringen. Hana tat ihr den Gefallen. Das Mädchen war zwar neugierig, stellte aber keine Fragen. Nervös wartete Soo-Ja auf die Rückkehr ihrer Tochter. Sie hoffte, Hana würde ihr von seiner Reaktion berichten, aber als sie endlich kam, erzählte sie ihr, dass Yul gar nicht zu Hause gewesen war und sie den Umschlag bei der Hausangestellten hatte abgeben müssen. Soo-Ja versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen es war so ernüchternd. Keine Nachricht von Yul, kein endgültiges Auf Wiedersehen. Soo-Ja nickte und ging wieder an die Arbeit, und so hätte die Geschichte enden können ruhig und unspektakulär , wenn, ja, wenn nicht Eun-Mee wieder in ihr Leben geplatzt wäre, zum dritten und letzten Mal.

Eun-Mee kam gleich am nächsten Tag. Sie sah nicht so proper aus wie sonst: Ihr Haar hing lose herunter, ohne Nadeln oder Band. Auch ihre Kleider wirkten eher unauffällig. Sie trug eine lila Bluse mit großem Kragen, der ihr fast bis auf die Brust reichte; die weißen und blauen Streifen darauf passten zu denen auf ihrem Rock. Sie legte einen Umschlag auf den Tresen, aber Soo-Ja bemerkte nicht sofort, dass es derselbe war, den sie Hana gegeben hatte.

»Deine Tochter hat das hier gestern in meinem Haus abgeliefert, nicht wahr?«, fragte Eun-Mee und musterte Soo-Ja von der anderen Seite des Tresens.

Soo-Ja schloss die Geldschublade und bedachte Eun-Mee mit dem neutralen Gesichtsausdruck, den sie für schwierige Gäste reserviert hatte. »Er ist für Yul.«

»Du weißt doch, dass Yul nicht mehr in meinem Haus lebt. Ich finde es ziemlich dreist von dir, das hier bei mir abzugeben.«

Soo-Ja nahm den Umschlag und betrachtete ihn. Inzwischen sah er schmutzig und abgegriffen aus. Sie erkannte aber auch, dass er unversehrt war.

»Keine Sorge, ich habe ihn nicht geöffnet. Eure armseligen Liebesbriefe interessieren mich nicht.«

»Was meinst du damit, dass Yul nicht mehr bei dir lebt?«

Eun-Mee antwortete nicht sofort. Sie starrte Soo-Ja ungläubig an. »Tu doch nicht so, als wüsstest du nicht, dass wir uns getrennt haben. Dein Mann hat dir bestimmt haarklein erzählt, was passiert ist.«

»Mein Mann?«

»Ja. Ich habe ihn getroffen, als ich ins Hotel kam, gleich nachdem Yul mich verlassen hatte. Ich dachte, er hätte sich hier einquartiert.«

»Wann war das?«

»In der Woche nach Seollal.«

»In der Woche nach Seollal? Aber wir haben doch noch kurz zuvor Tee bei euch getrunken «

»Ja. Wer hätte gedacht, dass ich mich gerne daran zurückerinnere, jedenfalls wenn ich bedenke, was danach kam.«

»Und Min wusste von eurer Trennung?«

»Ja. Ich habe ihn dazu gebracht, mir jedes einzelne Zimmer im Hotel aufzuschließen, sogar die, in denen Gäste wohnten. Aber Yul war nicht hier. Er hatte sich ein anderes Hotel genommen. Das hat er mir erzählt, als er zurückkam, um seine Sachen zu packen.«

»Eun-Mee, ich finde, wir sollten dieses Gespräch nicht hier an der Rezeption führen. Möchtest du mit in mein Zimmer kommen?«

»Das wollte ich auch gerade vorschlagen«, sagte sie.

Soo-Ja rief Hana, um sie zu bitten, ihren Platz an der Rezeption einzunehmen. Als Hana außer Atem angelaufen kam, tätschelte Eun-Mee ihr die Wange, als wäre sie ein Haustier was Soo-Ja gar nicht gefiel. Auch Hana war davon nicht angetan, wandte ihre Aufmerksamkeit dann aber dem Umschlag auf dem Tresen zu.

»Ich erkläre dir alles später. Leg den an einen sicheren Ort«, bat Soo-Ja.

Während sie auf ihr Zimmer gingen, dachte Soo-Ja an Min. Eun-Mees Geschichte bestätigte ihren Verdacht, dass Mins Entscheidung, nach Amerika zu gehen, nicht aus heiterem Himmel gekommen war. Eun-Mee musste ihn regelrecht aufgescheucht haben, und er hatte anscheinend gehofft, Soo-Ja auf diese Weise von dem frisch getrennten Yul fernhalten zu können. Soo-Ja wusste noch immer nicht genau, was sich während ihres Aufenthalts in Daegu abgespielt hatte. Von einem Tag auf den anderen waren Min und Hana verschwunden.

Sie schob die Tür auf und bat Eun-Mee hinein. Auf gewisse Weise erinnerte das Zimmer noch immer an Min. Eun-Mee setzte sich auf den Boden, und Soo-Ja gesellte sich zu ihr, nachdem sie einige Decken und Matten aus dem Weg geräumt hatte.

»Du meinst also, du hast nichts davon gewusst, dass Yul mich verlassen hat?«, fragte Eun-Mee, die im Schneidersitz auf einer Matte saß.

»Nein, Eun-Mee. Wirklich. Mich überrascht das sehr. Er hat es mir nicht erzählt, als wir uns gesehen haben.«

»Ich weiß nicht, ob ich dir das glauben soll. Vielleicht heckst du ja irgendeinen Plan aus.«

»Du bist doch diejenige, die ständig Pläne schmiedet, Eun-Mee. Ich konzentriere mich auf die Gegenwart. Pläne für die Zukunft kann ich mir nicht leisten.«

»Dann ist es also reiner Zufall, wenn du demnächst deinen Mann verlässt und wieder ungebunden bist?«

»Eun-Mee, ich kann meinen Mann nicht verlassen. Er hat mich nämlich schon verlassen.«

»Er hat dich verlassen?«, staunte sie.

»Ja.«

»Und Yul hat mich verlassen. Dann sind wir wohl Leidensgenossinnen?«

»Vermutlich. Es ist seltsam, dass Min nicht mehr bei mir ist. Ich führe oft Selbstgespräche. Und ich koche noch immer für drei und werfe seine Portion dann weg.«

»Du kannst dich also in meinen Schmerz einfühlen, nicht wahr? Ach, wie dumm ich war. Ich habe dich immer als meine Rivalin angesehen, wo du in Wirklichkeit doch wie eine ältere Schwester für mich warst.«

Soo-Ja verkniff sich jede Bemerkung. Schließlich wusste sie, dass Eun-Mee ihre theatralischen Worte nicht ernst meinte.

»Ja, da sind wir wohl beide verlassen«, sagte Soo-Ja möglichst unverbindlich.

Eun-Mee berührte Soo-Ja an der Schulter und fuhr ihr mehrmals über den Oberarm, als wollte sie eine Falte in der Bluse glattstreichen. Aus der Nähe bemerkte Soo-Ja, dass Eun-Mee in letzter Zeit viel geweint haben musste, und sie sah auch, dass sie ein paar Kilo abgenommen hatte.

»Also, liebe ältere Schwester, wenn du meinen Schmerz irgendwie lindern könntest, würdest du es tun, nicht wahr?«, fragte Eun-Mee.

»Ich könnte es versuchen.«

»Ich habe da eine bestimmte Furcht, die mich quält. Ich kann schon nicht mehr richtig schlafen. Aber du könntest mir meine Angst ein wenig nehmen.« Eun-Mee beugte sich zu Soo-Ja und ergriff ihre Hand.

»Wie das?«

»Du sollst mir etwas versprechen.«

»Und zwar?«

»Wenn Yul hierherkommt und dich bittet, seine Frau zu werden, sollst du Nein sagen.«

Soo-Ja zog ihre Hand aus Eun-Mees und wandte den Blick ab. »Eun-Mee, warum verlangst du das von mir?«

»Weil Yul vielleicht zu mir zurückkommt. Aber nur, wenn er weiß, dass er bei dir keine Chance hat. Also musst du ihm klipp und klar sagen, dass du nichts von ihm willst.«

»Tut mir leid, das kann ich dir nicht versprechen.«

Eun-Mee griff wieder nach Soo-Jas Hand, aber dieses Mal verweigerte Soo-Ja sie ihr. Sie spürte Eun-Mees Nervosität, die tief aus ihrem Inneren zu kommen schien.

»Wie kannst du mir dieses Versprechen nur abschlagen? Schließlich ist er noch immer verheiratet. Versprich mir, ihn abzuweisen, wenn er zu dir kommt.«

»Das werde ich nicht tun.«

»Willst du sagen, du würdest dich mit ihm einlassen? Obwohl du weißt, dass er dann nie mehr zu mir zurückkäme?«

Jetzt berührten Eun-Mees Beine die von Soo-Ja, und Eun-Mee rückte noch näher an sie heran.

»Kein Wunder, dass dein Mann dich verlassen hat. Von Moral hast du wohl noch nie etwas gehört.«

»Wenn du gekommen bist, um mich zu beleidigen, kannst du gleich wieder gehen.«

Eun-Mee schwieg kurz, als überlegte sie, was sie als Nächstes tun sollte. Wenn sie wieder versuchen sollte, handgreiflich zu werden, würde Soo-Ja zurückschlagen. Endlich stand Eun-Mee auf und verbeugte sich tief. Soo-Ja verneigte sich ebenfalls und wünschte ihr einen guten Heimweg. Es war erstaunlich, wie höflich sie sich voneinander verabschiedeten, waren sie doch noch vor wenigen Sekunden versucht gewesen, sich zu schlagen.

»Ist Dr. Yul Kim da?«, fragte Soo-Ja mit kaum hörbarer Stimme die Sprechstundenhilfe am Tresen. Die Praxis, die mit Tuschezeichnungen an den Wänden geschmückt und mit niedrigen braunen Lederstühlen ausgestattet war, schien viel größer als die in Pusan. Draußen vor der Tür wartete Hana auf Soo-Ja.

»Darf ich um Ihren Namen bitten?«, fragte die junge Frau geschäftsmäßig. Sie saß wie bei einem Bankschalter hinter einem halb geöffnetem Fenster.

»Mein Name ist Soo-Ja Choi.« Mit klopfendem Herzen strich sie sich das Kleid glatt und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. In ihrem Inneren wirbelten die Gefühle nur so durcheinander, wie bunte Schmetterlinge, die wild herumflogen und sich dabei die Flügel brachen.

Die Sprechstundenhilfe schaute auf ihre Liste. »Sind Sie eine Patientin? Haben Sie einen Termin?«, fragte sie, ohne aufzusehen.

Soo-Ja hörte einen nordkoreanischen Akzent bei der Frau heraus. »Nein, ich bin eine Freundin von ihm. Ich würde ihn einfach gerne sehen.« Soo-Ja spürte, wie die Aufregung in ihr hochstieg. Sie hatte all ihren Mut zusammennehmen müssen, um Yul aufzusuchen hätte Eun-Mee ihr nicht einen Besuch abgestattet, wäre sie gar nicht gekommen. Eun-Mees Überfall hatte sie ziemlich aufgewühlt. Zwar musste sie Yul noch immer das Geld zurückzahlen, und dieses Ziel lenkte vordringlich ihre Schritte, aber zugleich fühlte sie sich von einer unwiderstehlichen Kraft angezogen.

»Dr. Kim ist im Pausenraum. Wir geben gerade eine kleine Feier für ihn«, erklärte die Sprechstundenhilfe.

»Eine Feier?«, wiederholte Soo-Ja verwirrt. Er hatte doch nicht Geburtstag.

»Wir sind sehr traurig, dass er nächste Woche wieder nach Pusan geht«, erklärte die Frau. Jetzt taute sie ein wenig auf. »Sind Sie hier, um sich von ihm zu verabschieden?«

»Pusan?« Soo-Ja musste sich die Hand über den Mund legen, um ihre Reaktion zu verbergen. Die Sprechstundenhilfe hätte genauso gut sagen können, er fahre auf den Mars oder nach Russland. Das musste ein Missverständnis sein!

»Ich werde ihn sehr vermissen«, sagte die junge Frau mit einem Lächeln. »Er ist einer von den Netten. Wie schade, dass er nicht bei uns bleibt.«

»Könnten Sie ihm bitte ausrichten, dass ich auf ihn warte?«

Die Sprechstundenhilfe sah Soo-Ja besorgt an, und Soo-Ja entdeckte ihre eigene Aufgeregtheit im Gesicht der anderen Frau wie in einem Spiegel. Sie wusste nicht, ob die Sprechstundenhilfe ahnte, warum sie gekommen war, aber das tat nun auch nichts weiter zur Sache. Die junge Frau erhob sich und deutete auf die Tür zum Behandlungszimmer. Dabei verbeugte sie sich. Soo-Ja war gerührt, dass die Frau sie einließ, ohne ihr weitere Fragen zu stellen oder sie länger warten zu lassen.

Im Behandlungszimmer zog Soo-Ja den Umschlag aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch, sodass die Seite mit Yuls Namen nach oben zeigte. Sie wusste nicht, ob sie stehen bleiben oder sich wie eine Patientin auf einen Stuhl setzen sollte. Zögernd stand sie da und traute sich nicht, einen weiteren Schritt in das Zimmer zu machen. Sie starrte die Liege an und stellte sich die vielen Männer und Frauen vor, die Yul aufsuchten. So viele kranke Menschen. Soo-Ja dachte daran, was Yul den ganzen Tag über tat: Er hörte sich die Sorgen und Nöte seiner Patienten an.

Er betrat das Zimmer nur wenige Sekunden nach ihr. Vermutlich war er sofort zu ihr geeilt, als er ihren Namen hörte. Sie nahm das als ein gutes Zeichen. Er hätte sie ja auch hinhalten oder gar nicht erst empfangen können. Sobald sie ihn sah, spürte sie ein Prickeln auf der Haut, das sich rasch über ihren ganzen Körper ausbreitete. Er war so schnell in das Zimmer gestürzt, dass die unteren Zipfel seines weißen Kittels flatterten, und so außer Atem, dass man den Eindruck gewinnen konnte, er wäre meilenweit weg gewesen und nicht bloß im Zimmer nebenan.

Yul schloss die Tür hinter sich und schien sich ebenso wie sie selbst kurz zuvor zu fragen, ob er stehen bleiben oder sich setzen sollte. Soo-Ja versuchte, Ruhe auszustrahlen, und setzte sich auf den Patientenstuhl, sodass Yul seinen gewohnten Platz ihr gegenüber einnehmen konnte. Dabei streiften seine Knie leicht über ihre Beine.

Yul bemerkte den Umschlag sofort. »Was ist das denn?«

»Das Geld, das ich dir schulde«, sagte Soo-Ja.

Yul nickte. »Bist du nur deswegen gekommen?«

»Nein. Stimmt es, dass du wieder nach Pusan gehst?«

»Soo-Ja, hättest du nicht früher kommen können?«, fragte Yul seufzend.

»Es stimmt also. Du gehst wieder nach Pusan.« Das Gewicht ihrer eigenen Worte drückte Soo-Ja nieder.

»Eun-Mee und ich haben uns getrennt.«

»Ich weiß. Genau wie Min und ich.«

»Wirklich?«, rief Yul überrascht.

»Warum willst du wieder nach Pusan?«, fragte Soo-Ja und ignorierte seine Reaktion.

Yul blinzelte und überlegte kurz. »Meine Patienten dort vermissen mich, und meine alten Kollegen haben mich aufgefordert, wieder zurückzukommen. Sie meinten, ich kann meinen Platz in der Gemeinschaftspraxis wieder einnehmen.«

»Aha.« Soo-Ja fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in den Magen bekommen. »Dann gehst du also.«

Yul betrachtete sie mit einer Mischung aus Zuneigung und Wut. »Warum hast du mir das mit euch beiden nicht gesagt? Bei unserer letzten Begegnung hast du mir an den Kopf geworfen, dass ich dich vergessen soll. Dass es vorbei ist zwischen uns. War es nicht so?«

»Das hast du mir geglaubt?« Auf Soo-Jas Gesicht lag ein verzagtes Lächeln. Am liebsten hätten sie sich wohl angeschrien, dachte sie; sie hätten sich besser auf einem freien Feld oder unten am Fluss treffen sollen. Jedenfalls nicht in einem kleinen Behandlungszimmer.

»Das hast du mir gesagt. Du hast mir keinerlei Hoffnung gemacht. Und als du nach Amerika gingst, dachte ich, du kommst nie mehr zurück. Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte Yul verzweifelt.

»Du hättest auf mich warten sollen«, sagte Soo-Ja und fuhr mit den Fingern über das Metall der Armlehne.

»Auf dich warten? Darauf, dass du zurückkommst und mir erklärst, du kannst nicht mit mir zusammen sein, weil das für Hana nicht gut wäre? Dass ich noch mal zehn oder zwanzig Jahre warten muss?« Er lächelte gezwungen. Seine Worte schienen von den nackten weißen Wänden abzuprallen.

Soo-Ja senkte den Kopf und wünschte sich, das Laminat würde sich in einen Ozean verwandeln, damit sie hineinspringen und zum Meeresboden schwimmen konnte. »Geh nicht«, flüsterte sie.

»Ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden«, sagte Yul und starrte auf ihre Haare.

Nach ein paar Sekunden schaute sie wieder auf. Ihre Augen waren voller Tränen, als sie Yuls Blick begegnete. Sie brachte die Worte Sarang-hae fast nicht über die Lippen, aber sie versuchte es. Sie wiederholte den Satz, erstaunt, dass sie ihn nach so langer Zeit endlich offen aussprechen konnte: Ich liebe dich.

»Was hast du gesagt?«, fragte Yul atemlos.

»Ich habe gesagt, bleib hier, geh nicht nach Pusan. Dort findest du nicht das, was du suchst.«

Yul schluckte. Seine Hände zitterten leicht. »Soo-Ja, was willst du eigentlich?«

»Ich will, dass du mir nicht schon wieder entgleitest. Das würde ich nicht überleben, Yul«, sagte Soo-Ja mit heiserer Stimme.

Sie berührte seinen Arm und spürte die elektrische Spannung, die durch seinen Körper strömte. Sie wusste, sein Herz schlug ebenso schnell wie ihr eigenes.

»Ich habe in meinem Leben so viele Fehler gemacht«, sagte Soo-Ja und kämpfte gegen den Schmerz in ihrer Brust. »Der größte aber war, dass ich dich immer wieder aufgegeben habe, und das passiert mir nicht noch einmal.« Ihre Schultern bebten, und in ihren Augen standen Tränen. »Das heißt natürlich, wenn du mich überhaupt willst. Gott weiß, dass ich dir genug wehgetan habe. Es wäre leichter für dich, wenn du eine andere nehmen würdest.«

»Natürlich will ich dich noch. Ich weiß, beim letzten Mal habe ich furchtbare Dinge zu dir gesagt, aber die habe ich nicht so gemeint.«

»Dann bleib hier. Bitte bleib hier«, flehte Soo-Ja. Sie sah ihn an. Er wirkte älter als bei ihrer letzten Begegnung, und die Fältchen, die er um die Augen herum bekommen hatte, erweckten zärtliche Gefühle in ihr.

»Und was ist mit den Patienten in Pusan, die schon einen Termin haben?«

»Die können warten. Oder einen anderen Arzt finden.«

»Woher kommt deine plötzliche Entschlusskraft?«, fragte Yul liebevoll und beugte sich zu ihr.

»Die kommt daher, dass ich mein halbes Leben lang nicht einmal dein Gesicht berühren durfte«, erwiderte Soo-Ja und streichelte ihm sanft die Wange. Yul schloss die Augen und drehte den Kopf, sodass er ihre Hand küssen konnte.

Soo-Ja berührte seine Beine mit den Knien, und er streckte die Hände nach ihr aus. Sie spürte, dass er nach dem Loch in ihrem Herzen suchte, damit er es heilen konnte. Der Kuss kam spontan, ohne großes Überlegen. Er legte die Lippen an ihren Mund und tippte mit seiner Zungenspitze gegen ihre.

Während sie sich küssten, rückte Yul noch näher an sie heran, und im Zimmer schien es plötzlich still zu werden. Yul schmiegte sich an ihren Körper, bis sie ihn um sich spürte wie ihren Lieblingsmantel. Nach einer Weile beendeten sie den Kuss und hielten sich fest, ohne ein Wort zu sagen. Soo-Ja konnte die Vibration zwischen ihren Körpern spüren. Sie berührte seinen Hals, der warm und nackt unter ihrer Hand lag.

»Warum hast du nicht einfach Ja gesagt, damals vor vielen Jahren, als ich dir den Heiratsantrag gemacht habe?«

»Ich war jung und dumm«, antwortete Soo-Ja und drückte ihn an sich. »Vergib mir.«

Yul legte ihr den Kopf auf die Schulter, und Soo-Ja erwiderte die Geste. Er erinnerte sie an einen Säugling, der sich an sie kuschelte, an ein Neugeborenes mit weichem Schädel, das bald anfangen würde zu sprechen. Stumme Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie atmete tief aus.

»Ich bleibe hier«, sagte Yul. »Ich gehe nicht nach Pusan.«

Soo-Ja schloss die Augen. Sie hatte in ihrem Leben so viele Fehler gemacht, aber in diesem Moment vergab sie sich selbst dafür. Sie vergab sich ihre Vergangenheit, mit all ihren Makeln und Schönheitsfehlern, ließ sie los, steckte sie in eine wunderhübsche Schachtel und verpackte sie in Zellophan. Das Leben, das sie gelebt hatte, war trotz allem jenes, was ihr bestimmt gewesen war, dachte sie. Wie sonst hätte sie daraus lernen und zu der Frau werden können, die sie heute war?

Als Soo-Ja endlich aus der Praxis trat, sah Hana den tränenverschleierten Blick ihrer Mutter und nahm sie sofort in die Arme. Die gehetzten Menschen auf der Straße eilten unbeeindruckt an ihnen vorbei; Arme und Ellbogen streiften die umschlungenen Frauen. Im Lärm der Autos und Busse konnten sie sich kaum verstehen.

»Mutter, was ist passiert?«, fragte Hana besorgt.

Soo-Ja lächelte, noch immer weinend. »Es geht mir wunderbar. Alles ist gut. Lass uns gehen.«

»Hast du Yul getroffen? Was hat er gesagt?«

»Nichts, er war nicht da.«

»Warum hast du dann so lange gebraucht?«, wollte Hana wissen.

Soo-Ja zögerte. Sie konnte ihre Freude nicht vor ihrer Tochter verstecken. Es ging einfach nicht.

Hana blinzelte und sah sie an, als verstünde sie alles. »Du hast ihn, nicht wahr? Du hast Yul.«

Soo-Ja beugte sich vor und nickte. Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. Obwohl es schon dämmerte, war es nicht kalt. Am Tag zuvor war das Wetter umgeschlagen, und so wurden sie von warmer Luft eingehüllt wie von einer Decke. Soo-Ja mochte dieses Wetter wenn sie glaubte, eine Jacke zu brauchen und dann doch ohne auskam. Alle Menschen auf der geschäftigen Straße schienen dasselbe zu denken: Es wurde Frühling, endlich. Soo-Ja betrachtete die Gesichter der Menschen, besonders die der Frauen. Sie wusste nicht, wohin sie gingen, und auch nicht, wohin sie und Hana eigentlich wollten. Hana hatte ihr den Arm um die Taille gelegt und den Kopf leicht an die Schulter ihrer Mutter gelehnt. Die Fremden, die ihnen entgegenkamen, fanden sicher nichts Besonderes an ihnen, und Soo-Ja hatte nichts dagegen, eine ganz gewöhnliche Mutter mit ihrer Tochter zu sein. Direkt vor ihnen hoben Baukräne Stahlträger auf Rohbauten, und Fensterputzer fuhren auf ihren Gerüsten wieder hinab auf den Boden. Die Lautsprecher in den Geschäften verkündeten Sonderangebote, und Lebensmittelverkäufer lockten ihre Kunden an. Fahrräder und Karren rasten an den Fußgängern vorbei, Klingeln schrillten, Hupen blökten. Abgase stiegen auf und färbten die Luft sekundenlang schwarz und braun. Die Straße schien sich vor Soo-Ja und Hana zu öffnen, und die beiden nahmen sich fest an den Händen, als sie losmarschierten und sich in das bunte Treiben von Seoul stürzten.