14
»Sind diese Bilder nicht schön? Fast wie Kunst«, sagte Gi-yong und deutete auf die Plakate an den Wänden. Er und Soo-Ja saßen in seinem Büro in Myong-dong, ein paar Kilometer von ihrem Hotel entfernt. Hinter seinem Schreibtisch hatte Gi-yong zwei große Darstellungen des Gebietes südlich des Hangang-Flusses aufgehängt: Eine davon war mit »Heute« beschriftet und bestand aus Fotos des Landes, wie es gegenwärtig aussah – leere, karge Felder und ausgedörrtes Gras. Die andere hatte er »Die Zukunft« getauft. Es war die zeichnerische Vision eines Künstlers, das Land, wie Gi-yong es sich einmal erhoffte – eine Stadtlandschaft mit glitzernden Glasfassaden, Wolkenkratzern und Werbetafeln für Coca-Cola. »Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Ich weiß nicht, wie lange ich Ihre Parzelle noch hätte halten können.«
»Eigentlich habe ich das Geld noch nicht zusammen. Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie mir mehr Zeit einräumen könnten«, erwiderte Soo-Ja, klammerte sich an ihre Tasche und schaute Gi-yong über den Schreibtisch hinweg an.
»Frau Choi«, antwortete Gi-yong ernst. »Sie wissen, dass ich noch andere Investoren habe, die an dem Land interessiert sind und Bargeld zur Verfügung haben. Aber weil ich Ihnen einen Gefallen tun möchte, halte ich es für Sie noch eine Weile zurück. Wenn ich wollte, könnte ich schon morgen die letzte Parzelle verkaufen. Möchten Sie jetzt aufgeben? Soll ich sie an jemand anderen verkaufen?«
»Nein. Ich habe noch zwei Wochen«, entgegnete Soo-Ja. »Und Sie haben mir Ihr Wort gegeben. Ich werde das Geld auftreiben. Zum vereinbarten Zeitpunkt werde ich es haben.«
»Daran zweifle ich nicht. Ich glaube, Sie sind eine Frau, die immer bekommt, was sie will«, erklärte Gi-yong.
»Das ist wohl kaum der Fall, aber ich spüre, dass das Glück auf meiner Seite ist«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
»Es muss deprimierend für Sie sein, in diesem Hotel arbeiten zu müssen. Eine Frau von Ihrer Schönheit braucht einen Mann, der für sie sorgt.«
Soo-Ja verzog keine Miene. »Großartig. Das werde ich meinem Mann erzählen.«
Gi-yong lachte. »Sie müssen mich für ein Schwein halten, nicht wahr? Das bin ich aber nicht. Ich bin bloß direkt. Schauen Sie auf Ihre Hände. Sie sind wunderschön. Und nicht zum Schrubben gemacht. Sie sollten einfach auf wunderschönen, sehr teuren ledernen Armlehnen ruhen. Auf solchen, wie ich sie in meinem Haus habe.«
Soo-Ja schüttelte den Kopf. »Herr Im, ich bin nicht daran interessiert, die Frau eines reichen Mannes zu sein. Ich lege keinen Wert auf teure Möbel. Das ist nicht der Grund, warum ich das Land kaufen will.«
»Wirklich? Was wollen Sie dann?«, fragte Gi-yong und beugte sich interessiert vor. Soo-Ja dachte einen Moment lang nach. »Um nur einen Grund zu nennen: Ich möchte gern, dass meine Tochter ein eigenes Zimmer bekommt, in unserem eigenen Haus, weit weg von all den Männern, die sich als Gäste im Hotel aufhalten.«
Gi-yong nickte vorsichtig. Er hörte auf, anzüglich zu grinsen, und schaute sie an, als wäre sie seine Schwester oder Mutter. »Frau Choi, ich habe das Gefühl, Sie werden bald bekommen, was Sie sich wünschen – und noch viel mehr.«
»Danke, Herr Im.«
Nach einem kurzen Moment des Schweigens standen beide auf und gaben sich die Hand. »Zwei Wochen?«, fragte er.
»Zwei Wochen«, bekräftigte sie.
Es schien egoistisch, für Won zu beten, wenn es andere Menschen gab, die für Essen, Gesundheit oder sogar für Liebe beteten, dachte Soo-Ja. Und trotzdem suchte sie in dieser Woche jeden Abend das Gespräch mit Gott und bat ihn, ihr zu helfen. Es mochte ein Zufall sein oder auch nicht, aber am dritten Tag rief ihre alte Freundin Jae-Hwa an und fragte, ob sie sie im Hotel besuchen könne. Soo-Ja hatte Jae-Hwa seit drei Jahren nicht mehr gesehen, aber oft an den Abend gedacht, an dem sie ihr geholfen hatte, ihren Mann zu verlassen. Jae-Hwa hatte wieder geheiratet – wundersamerweise den Besitzer der Ventilatorenfabrik, in der sie arbeitete. Soo-Ja hatte nicht zu ihrer Hochzeit gehen können, da sie niemals Urlaub bekam, aber Jae-Hwa hatte ihr verziehen. Sie schrieb Soo-Ja oft Briefe, in denen sie sich immer wieder für ihre Rettung und ihr gutes Leben bedankte.
Soo-Ja war sich sicher, dass Jae-Hwa ihr das Geld leihen würde. Sie malte sich sogar aus, wie sie zusammen investieren, benachbarte Parzellen kaufen und sich gegenseitig zu den jährlichen Wertsteigerungen beglückwünschen würden. Jae-Hwa würde sie niemals enttäuschen. Das dachte Soo-Jas jedenfalls.
»Du siehst genauso aus wie früher! Seit dem College bist du keinen Tag gealtert«, rief Jae-Hwa und streckte die Arme nach ihr aus, als sie eintrat. Soo-Ja eilte hinter dem Tresen hervor und umarmte Jae-Hwa.
»Auch du siehst wunderbar aus«, lächelte sie und deutete auf die Sessel in der Lobby.
»Wie alt bist du jetzt?«, wollte Jae-Hwa wissen. »Sechsunddreißig? Siebenunddreißig?«
»Jae-Hwa, du weißt doch, dass wir gleich alt sind – vierunddreißig. Aber danke. Du siehst auch toll aus.« Das stimmte: Jae-Hwa wirkte ausgeruht und hatte ein schönes, volles Gesicht mit einer vornehmen Blässe, die darauf hinwies, dass sie ihre Zeit nicht mit Arbeit unter der heißen Sonne zubrachte. Sie trug eine leichte rosa Kostümjacke mit einem bestickten weißen Rundkragen und einen weißen Kaschmir-Hut.
»Nein, ich meine es ernst. Ich bin gerade Zeugin eines Wunders geworden. Ich sehe überhaupt keine Falten in deinem Gesicht. Du bist wirklich das Musterbeispiel einer modernen Frau. Du arbeitest hart, du weinst, du leidest, aber am Ende des Tages denkst du immer daran, dich mit Pond’s einzucremen.«
Soo-Ja lachte; zum einen, weil sie Jae-Hwa lustig fand, aber auch, um ihr zu zeigen, wie glücklich sie war, wieder mit ihr vereint zu sein. Freundinnen waren so rar und kostbar wie die Schokoladenstücke, die man während des Krieges ergattern konnte. »Du sprichst mehr über meine angebliche Schönheit als die meisten Männer, die ich kennengelernt habe.«
»Frauen haben ein besseres Auge für solche Dinge als Männer. Wahrscheinlich, weil sie uns direkt betreffen«, erklärte Jae-Hwa und rückte näher an Soo-Ja heran, sodass ihre Knie sich berührten. »Du wirst nie erfahren, wie es sich anfühlt, wie ich zu sein. Du warst immer das hübscheste Mädchen von allen.« Jae-Hwa sprach ganz sachlich und ohne jede Feindseligkeit.
»Aber du hast doch keinen Grund, mich zu beneiden. Es hat sich alles so gut entwickelt für dich.«
»Nur deinetwegen, Soo-Ja. Hättest du mich nicht aus meiner ersten Ehe herausgeholt, aus dem Haus dieses bösartigen Säufers, hätte ich nie Woo-suk getroffen.«
Soo-Ja winkte ab. »Das kannst du mir nicht zugute halten. Du hättest ihn auch ohne mich irgendwann verlassen.«
»Nein«, erwiderte Jae-Hwa, und Soo-Ja spürte, dass sie es ernst meinte. »Ich hätte nicht den Mut dazu gehabt. Zum Glück schlägt mein jetziger Mann mich nicht. Ich glaube, dazu hat er gar keine Zeit.«
»Jae-Hwa! Du schreckst meine Gäste ab! Wie lange bist du überhaupt in der Stadt? Hast du Lust, mit mir ins Café zu gehen?«
Jae-Hwa zeigte ein breites Grinsen. »Ja, sehr gern. Lass uns ein bisschen tratschen!«
»Ausgezeichnet. Ich bitte Fräulein Hong nur eben, den Empfang zu beaufsichtigen. Es dauert nur eine Minute.«
Jae-Hwa lächelte und wirkte gleichzeitig, als würde sie den Atem anhalten. Mit ihren behandschuhten Fingern trommelte sie auf ihre Tasche, während die Freundin nach dem Zimmermädchen schaute. Doch Soo-Ja fand weder Fräulein Hong noch deren Besenwagen – und da fiel ihr auf, dass sie sie den ganzen Morgen noch nicht gesehen hatte. Tatsächlich waren auch einige Zimmer noch nicht gereinigt. Soo-Ja wollte gerade in den zweiten Stock laufen, um dort nach ihr zu schauen, als sie beschloss – aus einem Gefühl heraus, von dem sie hoffte, es würde sie trügen –, stattdessen in ihrem eigenen Zimmer nachzusehen.
Als sie sich der Tür näherte, konnte sie die Stimme ihres Mannes hören. Er sprach in vertrautem Umgangston, ohne die Höflichkeitsform –io am Ende eines jeden Satzes, also wohl kaum zu einem Fremden.
»Ich tue hier viel mehr, als die Leute denken. Heute war ich schon auf der Bank, um einige Schecks einzureichen. Und vorgestern habe ich ein paar Botengänge für Soo-Ja erledigt. Sie tut immer, als hätte sie die ganze Arbeit, aber das ist nur ein Teil ihrer Märtyrerrolle. Sie spielt einfach gern das Opfer.«
Mit einem Ruck schob Soo-Ja die Tür auf. Und tatsächlich saß da Fräulein Hong und schaute ziemlich bestürzt drein, als sie Soo-Ja sah. Min hockte neben ihr auf dem Boden. Sie spielten gerade eine Partie Baduk, und es sah so aus, als würde Min gewinnen. Seine schwarzen Steine umzingelten Fräulein Hongs weiße auf dem Holzbrett. Oder war es umgekehrt, und Fräulein Hongs weiße Steine belagerten die schwarzen? Soo-Ja konnte das nie beurteilen, wenn sie auf ein solches Spielbrett schaute – da standen so viele Steine herum. Beide, Min und Fräulein Hong, schauten Soo-Ja an wie kleine Kinder, die bei etwas Verbotenem erwischt worden waren.
»Halte bitte Fräulein Hong nicht von ihren Pflichten ab. Sie hat Wichtigeres zu tun als dich zu unterhalten«, sagte Soo-Ja kühl zu Min, bevor sie sich Fräulein Hong zuwandte und ihr erklärte, was sie in ihrer Abwesenheit am Empfang zu tun hatte.
Als Soo-Ja wieder ging, legte sie ihre Maske aus Selbstvertrauen ab und spürte, wie ihre Wut an die Oberfläche stieg. Sie hatte es zwar die ganze Zeit über geahnt, aber es war trotzdem schockierend, die beiden so zusammen zu ertappen. Sie holte tief Luft und unterdrückte die Tränen.
Sie schliefen also tatsächlich miteinander.
Soo-Ja fühlte sich erniedrigt. Hatte Min das getan, um es ihr heimzuzahlen? Aber was eigentlich? Sie unterstützte ihn finanziell, gab ihm Geld für Alkohol und Zigaretten. Sie wusste, dass sie sich nicht oft liebten – Soo-Ja hatte nämlich Angst, schwanger zu werden –, aber warum musste er sich eine Frau aussuchen, die so unmittelbar in der Nähe war?
Auf dem Weg zum Empfang versuchte sie, ihr bestes Lächeln aufzusetzen und so zu tun, als wäre nichts passiert. Heute sahen sie und Jae-Hwa sich zum ersten Mal seit Jahren wieder, und dieser Tag sollte fröhlich und unbeschwert sein. Sie wollte nicht, dass Jae-Hwa ihr das Geld aus Mitleid lieh.
Doch als Soo-Ja an die Rezeption zurückkehrte, überkam sie eine verhängnisvolle Vorahnung.
Jae-Hwa unterhielt sich angeregt – ausgerechnet mit Eun-Mee. Die beiden Frauen hielten Händchen wie alte Freundinnen, obwohl sie sich gerade erst kennengelernt haben mussten, und lachten ausgelassen. Als sie Soo-Ja kommen sahen, machten sie ein Gesicht, als fänden sie es schade, dass sie unterbrochen wurden.
»Soo-Ja, ich wusste gar nicht, dass du so liebenswürdige Freundinnen hier in Seoul hast! Die Frau eines Arztes!«, rief Jae-Hwa beeindruckt.
»Und du, die Frau eines Fabrikanten!«, gab Eun-Mee als Echo zurück. Die beiden schienen eine augenblickliche Schwesternschaft eingegangen zu sein.
»Und ich, die Frau eines …« Soo-Ja lächelte mokant.
Jae-Hwa schaute sie verlegen an, während es Eun-Mee anscheinend überhaupt nicht leidtat. Soo-Ja nahm Mantel und Tasche. »Bist du fertig, Jae-Hwa?«
»Ja. Übrigens, macht es dir etwas aus, wenn Eun-Mee mitkommt? Sie meint, sie geht für ihr Leben gern ins Café.«
Soo-Ja war erstaunt, dass die beiden sich so schnell angefreundet hatten. Wieder einmal hatte sie Eun-Mees Charme unterschätzt. Yuls Ehefrau war wie ein Straßenräuber mit Gewehr, aber anstelle der Geldbörse verlangte sie die Zuneigung ihrer Opfer, und die bekam sie meist innerhalb von Sekunden.
»Eun-Mee, könnte ich dich einen Augenblick unter vier Augen sprechen?«, bat Soo-Ja.
Eun-Mee riss die Augen weit auf, um Jae-Hwa ihre Verwirrung zu zeigen; dann folgte sie Soo-Ja ins Büro. Dort angekommen lächelte sie Soo-Ja kokett an, wie eine schlechte Schülerin, die ihre Lehrerin überzeugen wollte, sie nicht zu schelten.
»Das ist nicht bloß ein Ausflug unter Freundinnen. Ich muss ein paar wichtige Dinge mit Jae-Hwa besprechen«, erklärte Soo-Ja und hoffte auf Eun-Mees Einsicht.
Eun-Mee nickte. »Hat das irgendetwas mit dem Gerücht zu tun, dass du beabsichtigst, Land von Gi-yong Im zu kaufen?«, fragte sie unschuldig.
Soo-Ja versuchte, ihre Überraschung zu verbergen. Woher wusste Eun-Mee davon? Hatte sie sie beim Telefonieren belauscht?
»Deine Freundin scheint jedenfalls nicht viel von riskanten Anlagen zu halten«, fuhr Eun-Mee fort.
»Wie hast du davon …«
»Ach, aber solche Dinge sind mir egal. Ich langweile mich doch bloß und suche verzweifelt nach Anschluss«, unterbrach Eun-Mee. »Ich verspreche dir, ich werde lange Puderpausen im Café einlegen, damit du genug Zeit hast, Jae-Hwa mit deinen Plänen zu nerven.«
»Eun-Mee!«, rief Soo-Ja und versuchte sie aufzuhalten. Aber Eun-Mee war schon aus dem Büro herausgeschlendert und hatte sich wieder zu Jae-Hwa in der Lobby gesellt.
Jae-Hwa eilte auf sie zu. »Sind wir bereit? Ich habe mich schon ganz einsam gefühlt! Es ist dir doch recht, dass Eun-Mee mit uns kommt?«
Soo-Ja konnte in Jae-Hwas Augen ablesen, dass jeder Widerstand zwecklos war.
Soo-Ja war keine große Kaffeetrinkerin, und genauso wenig hielt sie von Tee, obwohl sie manchmal Yulmucha, Boricha oder Ginsengtee trank. Sie liebte Yulmucha wegen seiner Zähflüssigkeit – wie eine Suppe –, und sie genoss sein warmes Kitzeln in der Kehle. Boricha sah ein wenig aus wie schmutziges Wasser, und manchmal hatte sie den Verdacht, es wäre tatsächlich welches – der Tee schmeckte eigentlich nach gar nichts. Aber sie trank ihn, wenn sie nicht einschlafen konnte. Nach nur einem Becher kippte sie beinahe um, so schnell wirkte er auf sie. Am liebsten aber hatte sie Ginsengtee. Sie rührte gern in der Tasse und beobachtete, wie die dünnen weißen Schichten auftauchten und wieder verschwanden, als wollten sie sie in Hypnose versetzen.
Die drei Frauen saßen in der Mitte des Cafés. Soo-Ja hatte eine Tasse Tee vor sich, Eun-Mee und Jae-Hwa tranken Espresso. Das Café mit dem englischen Namen »Room and Rumours« war ziemlich voll, entweder wegen der Kauflustigen vom benachbarten Einkaufszentrum oder weil viele Leute (wie Soo-Ja) nur kleine Wohnungen hatten und ihre Gäste lieber in Teestuben oder Cafés trafen. Für sie war das Café wie ein zweites Wohnzimmer. Die Einrichtung war anheimelnd und gemütlich, mit langblättrigen chinesischen Drachenbäumen in den Ecken, Holzpaneelen an den Wänden und zweckmäßigen Lampen an der Decke. Die Gäste saßen an Eichentischen (nicht auf dem Boden wie zu Hause), und im Hintergrund schmachteten Trot-Sänger ihre traurigen Balladen aus der Musikbox.
»Ich frage mich gerade, ob sie amerikanische Musik haben«, sagte Jae-Hwa. »Letzten Monat war ich in New York, und ich liebe die Musik, die sie dort im Radio spielen.« Jae-Hwa hatte ihren weißen Hut und die Handschuhe abgestreift. Soo-Ja konnte sehen, dass sie einen Smaragdring am Finger trug. Eun-Mee saß neben Jae-Hwa in einem eleganten figurbetonten burgunderfarbenen Kostüm mit hochgeschlagenem Kragen und kurzen Ärmeln. Soo-Ja fand ihren Aufzug etwas übertrieben, aber Eun-Mee passte durchaus in die Umgebung – die Leute kehrten oft hier ein, bevor sie ins Theater oder zu einer Party gingen. Da sie Eun-Mee inzwischen jeden Tag sah, wusste sie um deren Vorliebe, sich ohne besonderen Anlass herauszuputzen. Insgeheim hatte sie den Verdacht, Eun-Mees Lebensmotto sei »Kleider machen Leute«. Soo-Ja fragte sich, ob sie wohl aussah wie das Dienstmädchen der beiden anderen Frauen, mit ihrem einfachen, gestreiften Hauskleid und dem langen schwarzen Haar, das sie hinter die Ohren geklemmt hatte. Trotzdem merkte sie, dass es Eun-Mee störte, wie die hereinkommenden Männer mit Soo-Ja zu flirten begannen.
»Ich liebe Amerika!«, rief Eun-Mee. »Aber nicht die Amerikaner. Ich liebe es, in Manhattan und am Rodeo Drive einkaufen zu gehen. Meine Tasche ist von dort« – sie deutete auf ihre Fiorucci-Tasche –, »aber die Leute … besonders in Kalifornien. Sie haben rosa Gesichter, die Männer sehen aus wie Frauen, und umgekehrt. Lange Haare, lange Augenwimpern und ein träges Grinsen im Gesicht! Ich hasse sie!«
»Bring uns nicht in Verlegenheit! Was, wenn ein Soldat direkt hinter dir säße?«, rief Jae-Hwa.
»Ich würde ihm sagen, er soll endlich nach Hause fahren. Und aufhören, auf meinen Nacken zu starren!«, erwiderte Eun-Mee.
Jae-Hwa lachte.
»Ich bin mir sicher, dass sie gerne nach Hause fahren würden«, warf Soo-Ja ein, »aber sie sind hier, um uns zu beschützen. Wir sollten ihnen dankbar sein.«
»Sie sind doch nicht deswegen hier«, entgegnete Eun-Mee und verdrehte die Augen. »Warum, glaubst du, haben sie sich ausgerechnet in Korea stationieren lassen? Weil sie ein Auge auf uns Frauen aus dem Fernen Osten geworfen haben! Jawohl. Darum kommen sie her, und darum bleiben sie hier. Ich würde nie im Leben an einer Armee-Kaserne vorbeigehen. Sie würden mich hineinzerren und begrapschen, mir die Kleider ausziehen und mich vergewaltigen, ganz viele, immer abwechselnd. Diese Männer, die haben seit Ewigkeiten keine Frau mehr gesehen – ich meine eine wirkliche Frau, nicht eine Prostituierte. Sie haben sich die ganze Leidenschaft, den ganzen Hunger aufgespart, sodass sie wie Wölfe an meinen Brüsten zerren würden, diese blonden Jungen, die noch die Muttermilch in den Mundwinkeln hängen haben.«
Jae-Hwa lächelte Eun-Mee zu. »Ich bin versucht, dich jetzt zu entführen und an der Grenze auszusetzen, nur um zu sehen, was sie mit dir machen.«
Eun-Mee schlug Jae-Hwa leicht aufs Handgelenk, und die nahm spielerisch die Hand von Eun-Mee. »Mach darüber bloß keine Scherze. Ich erkläre dir nur gerade, was ich über die Amerikaner denke – sie sind ganz anders als die Europäer. Warst du schon mal in der Schweiz?«, wollte Eun-Mee von Jae-Hwa wissen. Diese nickte und Eun-Mee fuhr fort. »Man fühlt sich dort wie zu Hause – all diese Berge! Wenn der Schnee die Verkehrszeichen und die Straßen bedeckt, weiß ich nicht mehr, wo ich bin. Und ich liebe die erste Nacht nach einem Schneegestöber, wenn der Himmel weiß und klar ist und man im Freien fast lesen kann. Warst du eigentlich schon mal in der Schweiz?« Diese Frage war an Soo-Ja gerichtet – als hätte Eun-Mee sich gerade wieder an ihre Anwesenheit erinnert.
»Nein.«
»Du warst noch nie in Europa? Nicht in London, Paris oder Istanbul?«
»Nein«, erwiderte Soo-Ja lächelnd.
»Wie steht’s mit Amerika? New York? Los Angeles? Boston?«
»Nein, auch dort war ich noch nie«, entgegnete Soo-Ja, noch immer lächelnd.
Jae-Hwa legte Soo-Ja die Hand auf den Arm und schaute sie mit den Augen einer alten Freundin an. »Als wir auf der Schule waren, wollte Soo-Ja immer reisen. Sie wäre fast auf die Diplomatenschule in Seoul gegangen, weil sie Botschafterin werden und alle Länder bereisen wollte.«
»Und, hast du das geschafft?«, wollte Eun-Mee wissen.
»Nein, es hat nicht geklappt.«
»Dann hast du es dir nicht fest genug vorgenommen. Wahrscheinlich hast du zu früh aufgegeben«, bemerkte Eun-Mee.
»Ja, wahrscheinlich«, entgegnete Soo-Ja und versuchte, damit das Thema zu beenden.
Jae-Hwa tätschelte ihr die Hand, als wollte sie sich für Eun-Mee entschuldigen.
»Schau, wenn du im Leben etwas haben willst, musst du dafür kämpfen!«, rief Eun-Mee. Soo-Ja nickte und rang sich ein Lächeln ab. »Du darfst nicht zaghaft sein. So habe ich meinen Ehemann bekommen.«
Soo-Ja sah sie an. Sie musste sich zurückhalten und der Versuchung widerstehen, denn sie hätte nur zu gern gesagt: Erzähl weiter.
»Ich bin sicher, er hat dir gleich am ersten Tag einen Antrag gemacht. Eine Frau wie du verliert keine Zeit«, sagte Jae-Hwa.
»Ich wusste es sofort, als ich ihn bei einer Gruppe von Männern vor der Universitätsklinik in Pusan stehen sah«, erzählte Eun-Mee, die sich wieder einmal in der Aufmerksamkeit ihrer Zuhörerinnen sonnte. »Er trug einen westlichen Anzug mit Bundfaltenhose, und er war so unglaublich gut aussehend und selbstbewusst, dass ich dachte: Ich will deine Mutter sein!«
»Eun-Mee!«, platzte Jae-Hwa lachend heraus.
»Ich möchte dir das Hemd in die Hose stecken, dich mit Suppe füttern, wenn du krank bist, und dir bei den Hausaufgaben helfen«, sagte Eun-Mee und wedelte mit den Armen. »Eine Frau weiß, dass sie bereit ist zu heiraten, wenn sie mütterliche Gefühle spürt!«
»Das finde ich gar nicht, aber erzähl weiter«, sagte Jae-Hwa. Keine von beiden bemerkte Soo-Jas Schweigen.
»Jedenfalls lud ich ihn zu einem Schönheitswettbewerb ein, an dem ich teilnahm, und wir begannen, uns hin und wieder zu treffen, gingen zu Musikveranstaltungen, an denen wir Seite an Seite auf samtbezogenen Stühlen saßen und Darbietungen von Bach hörten. Wir taten nicht viel – er war so keusch wie Chunhyang, die Romanfigur, und es war ja auch wie in einem Roman bei uns, denn wer würde im wirklichen Leben so lange auf einen Liebhaber warten, von dem nichts zurückkommt?«
»Da muss noch eine andere gewesen sein. Hatte er gleichzeitig ein anderes Mädchen?«, fragte Jae-Hwa. Eine Sekunde lang sah Soo-Ja nervös zu ihr rüber und fragte sich, ob Jae-Hwa von ihr und Yul wusste. Aber das konnte nicht sein; Soo-Ja hatte ihr nie davon erzählt.
»Nein, da war keine. Nur eine Erinnerung. Er hat mal von einem Mädchen erzählt, das er an der Universität in Daegu getroffen hat. Er sprach von ihr wie von einem Land, das er einmal betreten hatte und seitdem vermisste. Und auch, wenn er immer sagte, sie sei bloß eine Bekannte, wusste ich es besser. Jedes Mal, wenn wir zusammen waren, konnte ich ihre Anwesenheit zwischen uns spüren. Sie war die ganze Zeit über da.« Eun-Mee schwieg, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Der ganze Raum schien aus Mitleid mit ihr zu verstummen.
Es war seltsam für Soo-Ja, die eigene Geschichte aus Eun-Mees Blickwinkel zu hören, als spräche sie von einer anderen Soo-Ja, nicht von der, die in Wirklichkeit entsetzlich hilflos gewesen war. Soo-Ja hätte alles darum gegeben, mit Eun-Mee die Rollen zu tauschen; nur so konnte sie Yuls Körper spüren. Es war tröstlich zu hören, dass Yul an sie dachte, aber dieses Wissen konnte sie in einer kalten Nacht nicht wärmen. Jetzt, da sie wusste, wie verschwenderisch Eun-Mee seine Berührungen genossen hatte – jede Nacht, jahrelang! –, hatte Soo-Ja das Gefühl, regelrecht danach zu hungern.
»Hast du ihn dazu gebracht, diese andere Frau zu vergessen?«, erkundigte sich Jae-Hwa. Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, setzte ihn aber gleich wieder ab. Er war kalt geworden.
»Natürlich! Es war schwierig, aber ich habe es geschafft. Es war, als würde man gegen die Sonne kämpfen – er sah sie überall.«
»Was meinst du damit?«, fragte Jae-Hwa.
»Das ist schwierig zu erklären. Die erste Liebe hinterlässt tiefe Spuren. Aber zum Glück kann ich solche Wunden heilen.«
»Und hast du sie je getroffen? Diese Frau aus Daegu?«, wollte Jae-Hwa wissen.
Soo-Ja wandte ihr Gesicht ab, aus Furcht, ihre Augen würden sie verraten.
»Nein, nie«, sagte Eun-Mee. »Lange konnte ich schönen Frauen, die auf der Straße an mir vorbeigingen, nicht ins Gesicht sehen, weil ich immer dachte, sie wäre es. Das hat mich regelrecht wahnsinnig gemacht. Ich hatte das Gefühl, sie könnte jeden Moment in mein Haus in Pusan spazieren und mir Yul wegnehmen, einfach so. Kannst du dir vorstellen, so zu leben? Deshalb wollte ich anfangs auch keine Kinder, ich wäre ihnen wohl eine verschrobene und neurotische Mutter gewesen. Jedenfalls vergaß ich die Frau schließlich, und die Jahre schritten fort. Und dann, eines Tages, kamen die Dinge plötzlich ins Rollen. Wir mussten Pusan überstürzt verlassen. Warum, das erzähle ich euch bei Gelegenheit …« Eun-Mees Stimme erstarb kurz. Dann sprach sie weiter. »Eines Tages kam ich unangemeldet in die Praxis. Und da beobachtete ich, wie er einen Zettel unter einem Notizbuch auf seinem Schreibtisch versteckte. Er hatte nicht gemerkt, dass ich es gesehen hatte. Auf dem Zettel standen der Name einer Frau und eine Telefonnummer. Ich wusste sofort, wer die Frau war, und dachte: »Gut, es ist Zeit für uns, nach Seoul zu gehen. Es ist Zeit für mich, diese Frau zu treffen.«
Dann wandte Eun-Mee sich zu Soo-Ja, und Soo-Ja sah es in ihren Augen: Sie wusste alles. Sie wusste, dass sie die Frau war. Wie hat sie es herausgefunden? Was für eine naive Frage. Paare wussten immer übereinander Bescheid. Eun-Mee hatte kein Wort gesagt und Soo-Ja darüber im Dunkeln gelassen; wahrscheinlich genoss sie ihren taktischen Vorteil. Lange hatte sie stillgehalten, bevor sie sich zu erkennen gab, bevor sie Soo-Ja ins Ohr flüsterte: Ich weiß, wer du bist. Soo-Ja erschauerte – so wie die Figuren in den klassischen Gespenstergeschichten, und Eun-Mees Erzählung erwies sich nun als eine solche.
In dem großen, voll besetzten Café fühlte Soo-Ja sich plötzlich, als säße sie in der Falle. Die letzten drei Wochen, in denen sie praktisch mit Eun-Mee zusammengelebt hatte, waren mit einem Mal verschwunden. Soo-Ja kam sich vor wie eine Schauspielerin, die ihren Monolog im falschen Stück hielt und sich dessen erst in der letzten Zeile bewusst wurde. Sie war so überwältigt von dem Wiedersehen mit Yul gewesen, dass sie Eun-Mees eifersüchtige Blicke nicht bemerkt hatte. Im Rückblick war es natürlich offensichtlich: Eun-Mees Feindseligkeit und ihre Aggressivität, die Soo-Ja einfach für einen Teil ihrer Persönlichkeit gehalten hatte, waren tatsächlich direkt auf sie gemünzt gewesen. Und dennoch hatte Eun-Mee ihr intime Einzelheiten anvertraut, vielleicht sogar versucht, sie nicht zu hassen. Einerseits wünschte sich Eun-Mee, dass Soo-Ja verschwinden möge, andererseits aber wollte sie sie in ihrer Nähe behalten, für den Fall, dass ihre Abwesenheit schwerer wiegen würde als ihre Anwesenheit. Eun-Mee saß genauso in der Falle wie Soo-Ja, nur in einer anderen dunklen Ecke.
»Was wirst du der Frau sagen, wenn du sie schließlich siehst?«, fragte Jae-Hwa.
»Ich werde ihr sagen, dass ich verteidigen werde, was mir gehört. Dass sie sich keine Illusionen machen soll. Männer verlassen ihre Frauen nicht wegen einer alten Schwärmerei. Sie soll bei ihrem eigenen Mann bleiben und sich um ihre eigene Ehe kümmern«, sagte Eun-Mee und schaute dabei auf Soo-Ja. Ihre Stimme war so scharf wie die Spitze einer Nadel.
Soo-Ja stand auf und entschuldigte sich, um die Toilette aufzusuchen. Sie konnte das Pochen in ihrem Kopf nicht länger ertragen.
Die kleine Frauentoilette bot nur Platz für eine Person. Soo-Ja trat ein und schloss die Tür hinter sich ab. Dann ging sie zum Handwaschbecken und ließ sich lange warmes Wasser über die Hände laufen. Dabei lief der Spiegel ein wenig an, und als sie ihn mit dem Handrücken wischte, sah sie plötzlich Yul hinter sich stehen und sie anschauen. Tränen rannen ihr über die Wangen; er trocknete sie ihr mit den Fingerspitzen. Die Feuchtigkeit blieb eine Sekunde auf seiner Haut stehen, dann absorbierte er ihre Tränen, absorbierte sie.
Soo-Ja stellte sich vor, wie Yul sie von hinten umarmte. Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren, und sie spürte, wie seine Nase sich an ihrem Hals rieb. Sie drehte sich um und ließ sich von ihm küssen. Seine Zunge liebkoste ihre weiche Unterlippe, drang weiter vor und streichelte ihre Zunge, bis sie nicht mehr atmen konnten, ohne sich zu behindern. Jeder Teil ihres Körpers erwachte und verband sich mit seinem. Er legte ihr eine Hand in den Nacken, die andere an den Bauch. Sein Mund löste sich, um Luft zu schnappen, und verweilte an ihrem Ohr. Dann drang sein warmer Atem wieder in sie ein. Seine feste Gestalt schmolz, bog sich wie Ton und legte sich um ihren Körper wie ein Kissen.
Da hörte Soo-Ja, wie jemand an der Tür klopfte. Sie war versucht zu rufen, die Toilette sei besetzt, aber es war Jae-Hwa, die fragte, ob alles in Ordnung sei, und hinzufügte, dass sie bald zu ihrem Mann zurückmüsse. Plötzlich erinnerte sich Soo-Ja daran, dass sie sich ja noch um eine geschäftliche Angelegenheit kümmern musste. Sie hatte vergessen, Jae-Hwa nach dem Darlehen zu fragen. Viel Zeit war nicht mehr. Sie spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und rief Jae-Hwa zu, dass sie sofort käme.
Als sie an den Tisch zurückkehrte, saß Jae-Hwa mit der Tasche in der Hand da. Eun-Mee war bereits gegangen. Sie hatte noch einige wichtige Dinge mit ihrem neuen Haus zu regeln, wie Jae-Hwa erzählte. Anscheinend waren die Handwerker fast fertig. Doch Soo-Ja kannte den wahren Grund für ihren Aufbruch.
Eun-Mee hatte an diesem Tag also die perfekte Gelegenheit gefunden, Soo-Ja mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Ohne Jae-Hwa hätten sie diese Unterhaltung nie führen können; sie war notwendig gewesen, eine unwissende Zeugin, eine Geburtshelferin der Geschichte, obwohl die Geschichte nicht für sie bestimmt war, sondern für Eun-Mees Rivalin. Soo-Ja hatte bemerkt, dass Eun-Mee sich große Mühe gegeben hatte, Jae-Hwas Sympathie zu wecken. Sie sorgte sich darum, was Jae-Hwa über sie dachte. Aber warum?
»Jae-Hwa, bevor du gehst, muss ich dich etwas fragen. Du weißt, dass ich andere nicht gern um etwas bitte, aber es ist sehr wichtig.« Soo-Ja erzählte ihr von dem Darlehen und betonte, dass sie es zurückzahlen würde und dass Jae-Hwa die einzige Person war, die ihr helfen konnte. Als sie geendet hatte, blickte Jae-Hwa sie seltsam an.
»Habt ihr beide euch abgestimmt? Ihr müsst es richtiggehend geplant haben. Warst du deswegen so lange auf der Toilette? Um Eun-Mee genügend Zeit zu geben? Darum ist sie jetzt also gegangen. Damit du auch noch an die Reihe kommst.«
Soo-Ja sah Jae-Hwa an, überrascht von dem brüsken Ton in ihrer Stimme. Diese Jae-Hwa war nicht mehr das zurückhaltende Mädchen, das immer froh gewesen war, Soo-Ja wie ein Satellit zu umkreisen. Ja, man konnte eben nicht zweimal in denselben Fluss steigen. »Ich bin ein wenig verwirrt«, sagte Soo-Ja. »Was meinst du?«
»Eun-Mee hat mich ebenfalls um ein Darlehen gebeten, und ich habe schon zugestimmt. Als Frau eines Arztes ist sie ja kreditwürdig. Ach, Soo-Ja, wenn du mich doch nur früher gefragt hättest! Ich kann nicht euch beiden Geld leihen, mein Mann würde mich umbringen. Und ich habe ihr schon mein Wort gegeben.«
»Wann hat sie dich denn danach gefragt?« Soo-Ja fühlte, wie sie aschfahl wurde. Ich kann nicht glauben, dass ich Jae-Hwa mit Eun-Mee alleingelassen habe.
»Gerade eben, während du auf der Toilette warst. Ach, Soo-Ja, es tut mir so leid. Es klang nach einer guten Investition. Komm her und lass dich umarmen. Es war so schön, dich wiederzusehen.«
Als Jae-Hwa ihre Freundin in die Arme schloss, fiel Soo-Ja die Kinnlade herab, und ihr Körper wurde steif. Sie begriff, was Eun-Mee ihr angetan hatte und wie es zwischen ihnen beiden weitergehen würde.
In dieser Nacht erschien der Wachmann, den Soo-Ja zum Schutz des Hotels angestellt hatte, nicht zur Arbeit, und als sie Min holen wollte, war er schon eingeschlafen. Soo-Ja wollte ihn nicht aufwecken (Schlaf war etwas Feines – die einzige Zeit, in der man wirklich frei war –, wie konnte sie ihrem Mann das missgönnen?), und so kehrte sie zum Empfang zurück, um selbst aufzupassen.
Gegen ein Uhr morgens beschloss sie, sich einen Kaffee zu machen. Da kam Yul an die Rezeption. Er trug einen dicken Morgenrock über seinem Pyjama. Sie waren wohl die einzigen Menschen im Hotel, die noch wach waren; jetzt hatten sie es für sich allein.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte Soo-Ja.
»Ich hatte gehofft, dich allein anzutreffen«, antwortete er und beugte sich über den Tresen. »Eun-Mee hat mir erzählt, was heute bei dem Treffen mit deiner Freundin passiert ist.«
Soo-Ja merkte, wie die Erwähnung von Eun-Mees Namen den Zorn in ihr aufwallen ließ.
»Warum hat sie dir das erzählt? Um mich vorzuführen?«
»Wieso hast du denn nicht mich nach dem Geld gefragt?«, wollte Yul von ihr wissen und spielte mit einem Bonsai, der auf dem Tresen stand. »Ich könnte es dir doch leihen.«
Soo-Ja starrte Yul an. Sie fühlte sich, als wäre er gerade auf ihrem Herzen herumgetrampelt. »Bitte beleidige mich nicht, indem du solche Dinge sagst. Ich bin an deinem Geld nicht interessiert.«
»Es gibt keinen Grund, stolz zu sein …«
»Wenn du nicht sofort damit aufhörst, gehe ich«, erklärte Soo-Ja, nahm ihm den Bonsai aus der Hand und stellte ihn zurück auf den Tresen. »Dann kannst du hierbleiben und Selbstgespräche führen.«
Yul nickte schweren Herzens und schaute drein, als wäre er von einem Polizisten bei einem Gesetzesverstoß ertappt worden. Er hob die Hände, um zu zeigen, dass er sich fügte.
»Du kannst nicht schlafen, und ich kann nicht wach bleiben. Möchtest du etwas trinken?«, fragte Soo-Ja und wechselte das Thema. »Ich mache dir eine Tasse Tee. Das wird deine Körpertemperatur absenken und dir helfen einzuschlafen.« Sie führte ihn zu der kleinen Kochnische in ihrem Büro. »Was macht dein neues Haus?«
»Fast fertig«, erwiderte er.
»Aha.«
Er war also dabei, zum dritten Mal aus ihrem Leben zu verschwinden. Soo-Ja fragte sich, ob sie dazu verdammt waren, sich für den Rest ihres Lebens alle vier oder fünf Jahre einmal zu sehen, sich dem Zyklus der Naturereignisse anzuschließen, die sich unter den richtigen atmosphärischen Bedingungen wiederholten. Waren sie wie die Spalten im Erdreich, die sich öffneten und ihren Druck abließen, nur um sich dann wieder zu schließen, und das für tausend Umdrehungen der Erde um die Sonne?
Soo-Ja stellte die Kanne über die Gasflamme und wandte ihren Kopf ein wenig ab, sodass Yul ihre Enttäuschung nicht sehen konnte. Während der letzten drei Wochen hatte sie es genossen, in seiner Nähe zu sein. Sie sah ihn manchmal am Morgen, wenn er zur Arbeit ging, und manchmal am Abend, wenn er nach Hause kam. Es fühlte sich so normal an – jedenfalls nach ihrer Vorstellung von normal –, und für ein paar Sekunden konnte sie vergessen, dass sie nicht verheiratet waren und er bloß als Gast in ihrem Hotel wohnte.
»Wann ist es denn so weit?«, fragte sie.
»Nächste Woche.«
»Oh.«
»Ja.« Yul blickte zu Boden. Tagsüber mochte er ein geachteter Arzt sein, aber in diesem Moment wirkte er wie ein kleiner Junge, und Soo-Ja spürte, wie ihr Herz vor Liebe zu ihm anschwoll.
»Gefällt es dir?«, wollte Soo-Ja von ihm wissen.
»Ja. Sowohl der Bauunternehmer als auch der Innenarchitekt haben sich genau an meine Vorstellungen gehalten.«
»Also hat nicht Eun-Mee die Entscheidungen getroffen?«
»Nein. Ich habe die Handwerker gebeten, das Haus zu bauen, in dem ich immer leben wollte. Das Haus …« Die Stimme versagte ihm. Das Haus, in dem ich mit dir leben wollte.
»Was? Was wolltest du sagen?«
»Nichts.«
Soo-Ja goss das heiße Wasser in die Teetasse. Sie spürte die Wärme wie eine Liebkosung im Gesicht – als würden Yuls Hände sie berühren.
»Wie ist das Haus so?«, fragte sie.
»Es ist wie du, Soo-Ja.«
Mehr sagte er nicht.
»Trink deinen Tee, Yul.«
Sie schwiegen einen Moment lang. Yul schlürfte seinen Tee, Soo-Ja nippte an ihrem Kaffee. Sie tranken die Nacht und ihre Stille.
»Möchtest du kurz mit mir nach draußen gehen und eine Zigarette rauchen?«, fragte Yul schließlich.
»Du rauchst jetzt? Du bist doch Arzt!«
»Ich bin ein Arzt mit Hang zur Selbstzerstörung«, entgegnete Yul und zog eine Schachtel Pleasure Lights aus der Tasche.
»Du heilst also bloß die anderen Menschen.«
»Ja, du gibst den Menschen einen Platz zum Schlafen und ich gebe ihnen gesunde Körper, in denen sie schlafen können.«
»Wage es ja nicht, mich zu romantisieren, Yul. Ich mache das hier, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Möchtest du noch nach Eun-Mee sehen, bevor wir gehen?«
»Sie ist in ihrem Zimmer und schläft. Alle schlafen. Die ganze Welt. Wir beide sind die einzigen Verrückten, die keine Ruhe finden.«
Sie gingen nach draußen und ließen sich von der nächtlichen Kühle einhüllen. Wie Versatzstücke standen sie nebeneinander. Soo-Ja trug ihren lila Anorak über dem Hauskleid, Yul seinen guten Morgenmantel, unter dem die Beine seines fleischfarbenen Pyjamas hervorlugten. Sie hatten nur eine einzige Zigarette angezündet, an der sie nun abwechselnd zogen. Die Ausgangssperre hatte schon begonnen, und niemand war mehr draußen. Die Neonschilder der Cafés, Nudelrestaurants, Musikhallen und Schönheitssalons, die den ganzen Abend geblinkt hatten, waren ausgeschaltet. Soo-Ja nahm die Zigarette, inhalierte und steckte sie Yul wieder zwischen die Lippen. Dabei berührte sie mit den Fingern seinen Mund und hielt sie dort, während er einatmete. Er machte einen Zug, dann nahm sie die Zigarette wieder an sich.
»Mag Eun-Mee das Haus auch?«, wollte Soo-Ja wissen.
»Ja, besonders den Kühlschrank.«
»Es erleichtert einem vermutlich die Hausarbeit, wenn man nicht jeden Tag auf den Markt gehen muss.«
»Wir haben ein Hausmädchen. Eine junge Frau vom Land.«
»Oh.«
»Eun-Mee mag alles an dem Haus, bis auf ein paar Bilder. Sie hasst die Tuschezeichnungen, die ich aufgehängt habe. Sie möchte westliche Kunst, farbenfroh und lebhaft. Aber ich werde meine Zeichnungen nicht abnehmen.«
»Tuschezeichnungen? Wer ist denn der Künstler?«
»In Wahrheit ist es nur ein Bild. Es ist die Zeichnung der Pflaumenblüten, die du mir geschenkt hast, damals, 1960.«
»Die hast du noch?«
»Überrascht dich das?«
»Ja.« Soo-Ja konnte ihre Freude nicht verbergen. »Das ist so lange her, dass ich dachte, sie sei verloren oder zerstört.«
»Nein. Sie ist noch so, wie sie damals war. Unversehrt. Und unverändert.«
Soo-Ja dachte an die Pflaumenblüten. An die fast zärtliche Weise, wie die langen, dunklen Blätter den Weg zu den kleinen, runden Blüten freigaben. »Die Pflaumenblüte verbindet man mit dem Frühling, einer Zeit der Hoffnung. Die Pflanze ist ein Symbol für Durchhaltevermögen.«
»Wenn du möchtest, gebe ich sie dir zurück«, sagte Yul.
»Nein. Behalt sie«, antwortete Soo-Ja lächelnd. Sie betrachtete den Himmel. Einen Augenblick lang schien es ihr, als könnte sie sehen, wie die Sterne sich gruppierten, wie sie Stängel, Blätter und Blütenknospen bildeten. Es war, als säße Soo-Ja wieder vor einem Blatt Papier, und ihre Pinselstriche formten verschiedene Sternbilder. Als sie wieder zu Yul blickte, sah sie, dass er sie gespannt ansah. Sie erriet seine Gedanken.
»Nein, Yul.«
»Woher weißt du, was ich gerade denke?«
»Von der Art, wie du auf meine Lippen starrst«, erklärte Soo-Ja.
»Der Mund ist doch zum Küssen gemacht.«
»Aber auch zum Reden.«
»Es braucht ja nicht dein Mund zu sein. Ich könnte ja auch deine Schultern küssen«, sagte Yul und strich mit den Lippen flüchtig über ihre bedeckten Schultern. »Und deinen Hals und deine Ohren und deine Nase.« Er küsste sie auf jeden dieser Körperteile, und sie spürte, wie ein zarter Schauer sie überlief. Soo-Ja schloss die Augen und ließ zu, dass er sanft seine Lippen auf ihre spröde Haut drückte. Er legte seine Hand auf ihre – halb schwebend, halb berührend – und sie empfand ihr Gewicht gleichzeitig als beängstigend und beruhigend. Sie wusste, was sie da taten, war falsch – diese Nähe, der sie sich hingaben –, aber die Nacht hatte etwas Unwirkliches an sich, das Versprechen des Vergessens. Mit geschlossenen Augen stellte Soo-Ja sich vor, wie Yul sie küsste. Er würde sie küssen wie ein Seufzer, und seine Liebe würde ihre Lunge füllen. Als er es aber tatsächlich versuchte, öffnete sie die Augen und wich zurück. Er verharrte auf halbem Weg – heimatlos, verwaist. Es tat weh, Nein zu sagen, wo sie doch nichts mehr wollte als ihn in den Armen zu halten und von ihm in den Armen gehalten zu werden, zu küssen und geküsst zu werden. Soo-Ja erwartete, dass Yul wieder hineingehen würde, aber er blieb stehen, ganz nah bei ihr. Sie waren wie Teenager, die nicht wussten, was sie mit ihren Lippen und Armen und Hüften tun sollten. Schweigend standen sie da, Seite an Seite, und lehnten sich aneinander. Soo-Ja legte ihren Kopf auf Yuls Schulter.
In der nächsten Nacht trafen sich Soo-Ja und Yul wieder. Dieses Mal wurden sie waghalsig und beschlossen, die Ausgangssperre zu missachten. Wie Teenager schlüpften sie aus dem Hotel und spähten nach Polizisten in der Umgebung. Anfangs bewegten sie sich noch ein wenig verstohlen und blickten sich ständig um. Aber dann merkten sie, dass die Straßen leer waren, und liefen mit langsamen und entspannten Schritten, vorbei an farbenfrohen Spielzeuggeschäften und Süßigkeitenläden, alle so gebaut, dass kein Zentimeter Luft zwischen ihnen war. Sie besahen sich ihre Umgebung mit der Neugier auswärtiger Touristen und atmeten den Geruch von würzigen Suppen und gebratenen Meeresfrüchten, der noch immer in der Luft hing.
»Übrigens, hast du dich je gefragt, ob Hana vielleicht dein Kind ist?«, fragte Soo-Ja mit schalkhaftem Lächeln.
»Wie könnte sie? Wir haben uns niemals geliebt«, erwiderte Yul und schaute sie mit verstohlenem Blick von der Seite an. Die Nacht war kalt; sie konnten ihren Atem vor sich sehen.
»Und trotzdem denke ich manchmal darüber nach«, sagte Soo-Ja und zuckte mit den Schultern. Sie steckte ihre Hände in die Taschen.
»Das gefällt mir«, bemerkte Yul lächelnd.
»Weißt du, ich dachte, du würdest sie nie wiedersehen, nachdem ich dich in jener Nacht in Pusan verlassen habe, und jetzt bist du wieder da. Du bist da! Ich verbringe so viel Zeit damit, zu überlegen, auf wie viele Arten ich dich nicht habe, aber jetzt bist du hier bei mir.«
Mit lausbübisch blitzenden Augen sah Yul sie an: »Möchtest du genauer erzählen, auf wie viele Arten wir uns nicht haben?«
Soo-Ja lachte: »Ach, Yul, du bist nicht besonders gut darin, vulgär zu sein. Und glaub mir, du hättest keine Freude daran, mit mir zu schlafen. Ich liege einfach bloß so da.« Soo-Ja war überrascht, dass ihr diese Worte entschlüpften. Aber die Nacht – sie war so still und gehörte ihnen allein – und Yuls Gegenwart machten sie übermütig.
»Es wäre anders, wenn du mit jemandem schliefest, den du liebst«, erklärte Yul.
Soo-Ja lachte wieder und wandte den Blick ab. »Wirklich?«
»Entschuldige. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich in deiner Gegenwart alles sagen kann. Mit dir fühle ich mich völlig frei.«
»Mir geht es genauso. Das zeigt, dass wir gute Freunde sind«, sagte Soo-Ja. Obwohl die Temperatur mit jedem Häuserblock, den sie passierten, zu sinken schien, war ihr nicht kalt. Sie hätte die ganze Nacht neben Yul laufen können. Und wenn die Sonne aufging, würde sie neben ihm auf einer Bank erwachen, eng an ihn geschmiegt, mit der Frische des Morgens in ihrem Atem.
Yul schüttelte den Kopf. »Warum fällt es dir so schwer zu sagen, dass ich dir noch immer etwas bedeute?«
»Du bist schrecklich anmaßend. Wie kommst du auf den Gedanken? Vielleicht kann ich dich ja kaum ertragen«, lächelte Soo-Ja.
»Gibt es sonst jemanden, mit dem du über alles reden kannst?«, fragte Yul und blieb abrupt stehen.
Soo-Ja ging weiter. Nach ein paar Schritten hielt sie an und wartete, bis er sie eingeholt hatte. Als sie schließlich nebeneinander standen, liefen sie wieder los, fast synchron. Ihre Bewegungen hatten die Präzision einer Choreographie.
»Ich hatte einmal so jemanden. Meinen Vater.«
»Warum sprichst du in der Vergangenheit?«
»Wir reden nicht mehr viel miteinander«, erklärte Soo-Ja mit leicht verzweifelter Stimme. »Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, denke ich: Ich habe das Leben eines Menschen ruiniert, der mir teuer ist.«
»Warum?«
»Er hat mir sein ganzes Geld gegeben, und das ist draufgegangen, um die Schulden meines Schwiegervaters zu bezahlen.«
»Dann hast du doch nicht sein Leben ruiniert. Du hast ihm die Gelegenheit gegeben, seine Liebe für dich zu zeigen.«
»Das hast du freundlich ausgedrückt. Aber ich versuche, das Thema zu vermeiden. Überhaupt gehe ich ihm aus dem Weg«, erklärte Soo-Ja und schaute geradeaus. Die Einkaufsstraße war zu Ende und sie standen vor einem Park. Magnolienspitzen ragten über die roten Ziegelsteine der Mauer.
»Du solltest mit deinem Vater reden und die peinliche Situation zwischen euch ausräumen. Er wird sicher froh sein, seine Tochter noch zu Lebzeiten zurückzuhaben. Und wenn du mit deinen Spekulationen ein Vermögen machst, kannst du ihm alles zurückzahlen.«
Soo-Ja lächelte ihm zu. »Wie kommt es, dass du immer weißt, was du zu mir sagen sollst?«
»Weil ich mir zu viele Sorgen um dich mache«, entgegnete er ein wenig spielerisch. Langsam perfektionierten sie ihre Nummer, führten eine regelrechte Stegreifkomödie auf, wie die Schausteller von früher, die über die Dörfer reisten und Maskentänze und lustige Schwänke zeigten.
»Und warum machst du dir zu viele Sorgen um mich?«
»Weil du meine erste große Liebe warst«, antwortete er und nahm seinen Worten die Brisanz, indem er ihnen weitere hinterherschickte. »Weißt du denn nicht aus dem Kino, dass man seine erste Liebe niemals vergisst?«
»Es ist zu schade, dass du nie fähig warst, eine andere Frau zu lieben«, neckte ihn Soo-Ja.
»Warum glaubst du, ich wäre nie fähig gewesen, eine andere Frau zu lieben?«
»Willst du etwa behaupten, dass du Eun-Mee liebst?«, fragte Soo-Ja ungläubig.
Yul lachte über Soo-Jas überzeugten Tonfall. »Am Anfang. Als ich sie kennenlernte, war sie ganz anders.«
»Vielleicht solltest du dich im Augenblick nicht mit mir, sondern mit Eun-Mee unterhalten«, sagte Soo-Ja. Die Schärfe in ihrer Stimme war halb aufgesetzt, halb ernst. »Sollen wir zurückgehen?«
»Nein, warte«, sagte Yul.
Die Temperatur schien weiter zu fallen. Soo-Ja konnte das Heulen des Windes hören; die Kälte setzte ihr zu. Es wäre nett, dachte sie, wenn er sie in die Arme nähme. Das würde sie ablenken und die Kälte vertreiben.
»Wirst du mir jemals sagen, was du für mich empfindest?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Soo-Ja, obwohl sie es genau wusste.
Sie standen einander gegenüber und warteten darauf, dass der andere zuerst sprechen würde. Beide hatten Angst, den Augenblick zu zerstören. Da heulten in einiger Entfernung die Sirenen auf, um das Ende der Ausgangssperre anzuzeigen. Die Menschen durften jetzt ihre Häuser wieder verlassen und zur Arbeit gehen, auf die Straße treten und in den Restaurants essen. Bald wären die Straßen mit Autos und Fußgängern vollgestopft, und die Abgase der Busse würden in der Luft hängen. Aber jetzt, in diesen flüchtigen Minuten, war alles ruhig, alles schlief noch. Wenn sie sich nun küssten oder umarmten, würde niemand es sehen. »Gehen wir zurück«, sagte Soo-Ja.
Am Morgen wurde Soo-Ja mutig und tat etwas, wonach ihr schon länger der Sinn gestanden hatte. Sie ging in die Hotelküche und bereitete ein Esspaket für Yul, das er zur Arbeit mitnehmen konnte. Sie kochte Japchae – eine Mischung aus Gemüsenudeln und gebratenem Gyoza – und füllte das Gericht in ein kleines Stahlgefäß. Ohne ein Wort stellte sie es ihm einfach vor die Tür. Eun-Mee würde nichts davon mitbekommen, da sie um diese Uhrzeit noch schlief. Am Abend fand Soo-Ja den Behälter vor ihrer eigenen Tür wieder. Sie öffnete ihn und sah, dass er ganz leer war – das bedeutete, Yul hatte sich darüber gefreut und alles aufgegessen. Am nächsten Tag kochte sie etwas anderes: Pokum bab, gebratenen Reis mit Eiern, Schinken, Erbsen und ein paar Streifen Fleisch. Wieder stellte Soo-Ja ihm den Behälter vor die Tür, und wieder stand das Stahlgefäß abends vor Soo-Jas Schwelle.
Sie stellte sich vor, wie er in seiner Praxis saß und sich über das Essen freute. Er bräuchte die Empfangsdamen nicht mehr zu bitten, ihm ein Mittagessen zu holen. Nein, heute nicht, ich bin schon versorgt, würde er sagen, und die Empfangsdame würde antworten: Das ist gut, Dr. Kim. Sie haben uns schon leidgetan, denn wir haben immer unser Mittagessen dabei, nur Sie nicht.
Eines Morgens, als Soo-Ja gerade den Behälter vor Yuls Zimmer gestellt hatte und sich wieder erhob, fand sie ein Paar Augen auf sich gerichtet, unverwechselbar neugierig und voller Missbilligung: Es waren Hanas. Soo-Ja sagte nichts, ahnte aber, dass ihre überraschte Reaktion viel preisgab. Hana schwieg, und Soo-Ja wusste instinktiv, dass ihre Tochter Min nichts erzählen würde. Doch sie fürchtete, Hana hätte vielleicht etwas von dem Schmerz ihrer Mutter in sich aufgenommen, und hoffte, sie würde keinen Schaden nehmen.
»Hallo, Hotel Seine hier«, sprach Soo-Ja am Morgen in den Hörer und unterdrückte ein Gähnen.
»Du klingst so müde! Du brauchst wirklich einen Ehemann, der dir mehr hilft.« Das war Jae-Hwa mit ihrem typischen rollenden Singsang.
»Jae-Hwa, bist du gut nach Daegu zurückgekommen?«, fragte Soo-Ja, die sich freute, die Stimme ihrer Freundin zu hören.
»Ja. Danke, dass du dich mit mir getroffen hast, als ich in Seoul war. Es hat mir gefallen, obwohl ich in der Stadt so viel Staub eingeatmet habe. Zu schade, dass der Staubsauger nicht bis in meine Lunge reicht.«
Soo-Ja lachte. »Ich fand es auch schön, dich zu sehen.«
»Also bist du nicht böse auf mich, weil …«
»Natürlich nicht«, unterbrach Soo-Ja. Sie fühlte sich schuldig, weil sie eine Freundin in Unruhe versetzt hatte. »Aber sprechen wir nicht mehr darüber.«
»Aber wie wirst du jetzt das Geld auftreiben?«
»Um ehrlich zu sein, Jae-Hwa, habe ich inzwischen akzeptiert, dass ich es nicht schaffen werde«, sagte Soo-Ja und seufzte leise. »Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Geld bringt im Grunde nur Ärger.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.
»Jae-Hwa, was ist?«, fragte Soo-Ja besorgt.
»Nichts, nur … also, ich habe dich angeschwindelt. Ich habe dir gesagt, ich könnte dir das Geld nicht leihen, aber das ist nicht wahr. In Wirklichkeit wäre der Betrag, um den du mich gebeten hast, kaum der Rede wert.«
»Jae-Hwa, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Es war falsch von mir, dich unter Druck zu setzen.«
»Nein, das stimmt nicht. Früher hast du mir immer Geld geliehen. Jedes Mal, wenn wir ausgingen, hast du bezahlt, und du hast das Geld nie zurückverlangt.«
»Es hat mir nichts ausgemacht, dir zu helfen«, sagte Soo-Ja, die mit der langen, beigefarbenen Telefonschnur spielte. Sie stellte sich Jae-Hwa am anderen Ende vor: Wahrscheinlich saß sie gerade in einem Kaschmirkostüm im Wohnzimmer auf ihrem Brokatsofa. »Ich habe es gern getan.«
»Soo-Ja, ich habe dir das Darlehen nicht gegeben, weil … nun, als ich dich besuchte und das Hotel sah und die kleinen Zimmer, in denen du mit deiner Familie wohnst … da dachte ich, du willst das Geld nicht, um es zu investieren, sondern schlicht und ergreifend, um über die Runden zu kommen.«
Soo-Ja fiel die Kinnlade herunter. »Jae-Hwa, ich bin zwar arm, aber nicht so arm. Und ich würde dich nicht anlügen.«
»Ich weiß. Aber ich habe gesehen, wie du angezogen warst, und dachte: Sie wird mir das Geld niemals zurückzahlen können. Und deswegen habe ich es dir nicht gegeben. Es tut mir leid.«
»Das braucht dir nicht leidzutun«, erwiderte Soo-Ja nur. In diesem Augenblick beschloss sie, dass sie Jae-Hwas Geld nicht wollte. Wofür hielt sie Soo-Ja eigentlich? Für eine Bettlerin? Selbst wenn Jae-Hwa angerufen hätte, um ihr das Zehnfache der Summe anzubieten, hätte Soo-Ja es nicht angenommen.
»Ich hoffe, das ändert nichts an unserer Freundschaft«, sagte Jae-Hwa.
»Natürlich nicht«, entgegnete Soo-Ja mühsam beherrscht. Sie würden niemals mehr Freundinnen sein. Der Klassenunterschied stand zwischen ihnen wie eine unüberwindliche Mauer.
Soo-Ja hielt den Telefonhörer in der Hand, war aber noch nicht in der Lage, die Nummer zu wählen. Jeden Moment würde sie Gi-yong Im anrufen und ihm mitteilen, dass sie es nicht geschafft hatte, das Geld für den Kauf der Parzelle aufzutreiben. Sie würde ihm danken, dass er ihr die zusätzliche Zeit eingeräumt hatte. Dann würde sie den Hörer einhängen, und alles wäre vorbei. Und eben weil es vorbei wäre – weil ihr die Hoffnung endgültig genommen und durch die Dornenkrone der Niederlage ersetzt würde –, zögerte sie mit dem Anruf.
»Ah, meine Lieblingskundin, Frau Soo-Ja Choi«, säuselte Gi-yong lebhaft. Er war immer im Verkaufsmodus – egal, ob es um ein Stück Land, eine Idee oder ein Gefühl ging. »Wie geht es Ihnen?«
»Gut. Das heißt, es könnte besser gehen. Darum rufe ich auch an«, erläuterte Soo-Ja und presste den Hörer fest gegen das Ohr. Ihre Hand ballte sich zur Faust.
»Wenn Sie Ihre Meinung geändert haben, ist es jetzt zu spät. Das Geld ist schon unterwegs auf mein Konto, und wenn es einmal dort angekommen ist, werden Sie es mir wohl kaum wieder aus den Fingern reißen können«, scherzte Gi-yong.
Soo-Ja konnte hören, wie er mit einem Bleistift auf seinen Schreibtisch klopfte. »Ja, das Geld. Es tut mir leid, aber ich habe es nicht zusammenbekommen. Deswegen rufe ich an. Um Ihnen zu sagen, dass Sie das Land an jemand anderen verkaufen können. Ich habe mein Bestes getan, aber es war nicht genug.«
»Frau Choi, das Land gehört Ihnen«, erwiderte Gi-yong ruhig. Sie konnte hören, wie er sich nach vorn beugte. Sie hatte seine Aufmerksamkeit erregt. »Ihr Geld ist unterwegs und die Verträge sind aufgesetzt. Ich dachte, Sie rufen an, um einen Termin für die Unterzeichnung zu vereinbaren.«
Soo-Ja war verwirrt. Es kam ihr vor, als hätte Gi-yong in einer fremden Sprache gesprochen, die sie erst langsam übersetzen musste, Wort für Wort. »Sagten Sie gerade ›Ihr Geld ist unterwegs‹?«
»Von Ihrem stillen Teilhaber«, erklärte Gi-yong jetzt ein wenig ungeduldig.
»Von meinem stillen Teilhaber?«
»Ja, und er ist so still, dass ich nicht einmal weiß, wer er ist. Das Geschäft wurde von seinem Finanzberater abgeschlossen. Er hat mich heute Morgen darüber informiert, dass er Ihnen einen Kredit einräumen würde, und jetzt ist alles in trockenen Tüchern.«
Es gab nur einen einzigen Menschen, der das für sie tun würde. Yul, du sturer Bock. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich dein Geld nicht will?
»Herr Im, ich fürchte, da ist ein Fehler passiert«, erklärte Soo-Ja mit Bitterkeit in der Stimme. »Bitte stornieren Sie das Geschäft. Sofort.«
»Seien Sie doch nicht dumm! Sie wollten das Land so sehr, und jetzt gehört es Ihnen!«, erwiderte Gi-yong übermütig. Soo-Ja konnte die Federn seines Ledersessels quietschen hören, als er sich zurücklehnte.
»Herr Im!«
»Schicken Sie morgen Ihren Mann vorbei, damit er den Vertrag unterschreiben kann. Obwohl ich es natürlich vorziehen würde, wenn Sie persönlich kämen.« Er versuchte nicht, die Lüsternheit in seiner Stimme zu verbergen. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie den Vertrag lieber selbst und mit ihrem eigenen Namen unterzeichnen würden, aber ich weiß, dass Sie klug genug sind, ihren Mann nicht das Gesicht verlieren zu lassen.«
»Herr Im! Ich meine es ernst. Dieses Geld …«
»Oh, bevor ich es vergesse«, unterbrach sie Gi-yong, »ihr stiller Teilhaber bat mich, Ihnen etwas auszurichten. Er möchte betonen, dass es nur ein Darlehen ist und Sie es ihm zurückzahlen müssen.«
Soo-Ja schloss die Augen und versuchte, diese Information zu verarbeiten. Yul wusste, dass er sie nur auf diese Art dazu bewegen konnte, seine Hilfe anzunehmen. Aber ich hätte lieber den Mann als das Geld. Kann ich nicht tauschen?
»Jedenfalls bin ich überrascht, dass Sie es geschafft haben. Sie versprachen, am Ende des Monats wiederzukommen, und das haben Sie wahrgemacht, sogar drei Tage früher. Jetzt sind Sie vielleicht an einigen Gerüchten interessiert, die im Rathaus herumschwirren: Ursprünglich hatte ich ja gedacht, sie würden das Land vielleicht in fünfzehn oder zwanzig Jahren bebauen. Und danach wurden die Parzellen auch bewertet. Aber … es gibt da ein paar Gerüchte.«
»Was für Gerüchte?«, fragte Soo-Ja und zog die Stirn kraus.
»Darüber kann ich nicht reden«, antwortete Gi-yong mit gedämpfter Stimme. »Ich möchte keine falschen Hoffnungen wecken, falls es nicht so kommen sollte. Aber die Leute werden so langsam unruhig. Neuwahlen sind unvermeidbar, und der Präsident steht unter gewaltigem Druck, sich stärker für die Städte einzusetzen. Diese Saemaul-undong-Bewegung, die etwas für die ländlichen Gebiete tun will, ist ja schön und gut, aber die Regierung kann nicht erwarten, dass die Leute sich von der Stadt fernhalten. Sie kennen ja die Redensart: ›Wenn du einen Sohn hast, schick ihn nach Seoul.‹«
»Das klingt vielversprechend«, entgegnete Soo-Ja und hörte die Untertreibung in ihrer eigenen Stimme.
Gi-yong lachte. »Ach übrigens: Verraten Sie mir, wer Ihr stiller Teilhaber ist?«
Soo-Ja schluckte. »Auf Wiedersehen, Herr Im.«
Behutsam klopfte Soo-Ja an Yuls Tür. Als sie keine Antwort bekam, zögerte sie erst und zog dann ihren Generalschlüssel hervor. Das Zimmer war dunkel und leer. Yul war fort, und mit ihm sein Gepäck. Bevor sie begriff, was geschehen war, stand Hana vor ihr. Ihre Tochter berührte sie sanft am Arm, und als Soo-Ja in ihr ovales Gesicht schaute, sah Hana sie durchdringend an.
»Sie haben vor ein paar Stunden das Hotel verlassen«, sagte Hana.
»Sie sind gegangen?«, fragte Soo-Ja, während sie die Leere des Zimmers in sich aufnahm.
»Ja. Yul hat das hier für dich hinterlassen.«
Hana gab ihrer Mutter einen Zettel. Als Soo-Ja ihn auseinanderfaltete, las sie die Worte: Vergiss mich nicht. Zitternd legte sie den Zettel wieder zusammen, während Yuls Worte sich in ihre Haut brannten.
Als sie gemeinsam das Zimmer verließen, bemerkte Soo-Ja, dass Hana bestürzt wirkte. Sie fragte sich, wie viel ihre Tochter über Yul und sie wusste. Kinder, so glaubte Soo-Ja, hatten einen siebten Sinn, was solche Dinge betraf. Sie musste sich eine Erklärung ausdenken, um Hana davon abzuhalten, zu ihrem Vater zu gehen. Zugleich aber sollte diese Erklärung die Wunde daran hindern, eine Narbe bei ihrer Tochter zu hinterlassen, und sie sollte Hana dazu bringen, ihrer Mutter eine Tat zu vergeben, die sie nicht begangen hatte.
»Ich bin froh, dass er weg ist«, erklärte Hana. »Ich mag ihn nicht.«
»Warum magst du ihn denn nicht?«, fragte Soo-Ja behutsam.
»Er hat seine Frau betrogen«, erklärte Hana. Soo-Ja merkte, dass die Worte ihrer Tochter zwar eine Anklage, zugleich aber auch ein vorsichtiges Vorantasten waren.
»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Soo-Ja und beschloss, nicht so zu tun, als wüsste sie nicht, worauf Hana anspielte. »Er war ihr immer treu.«
»Er ist ein schlechter Mensch«, beharrte Hana.
»Das ist einfach nicht wahr. Er ist ein guter Mensch. Sag bitte nichts Schlechtes über Yul«, schloss Soo-Ja, und ihr wurde klar, dass sie keine Gelegenheit mehr bekommen würde, ihm zu danken. Sie musste ihren Dank schlicht auf die lange Liste der Dinge setzen, die sie ihm niemals würde sagen können.