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»Das ist doch ein Witz«, erklärte Eun-Mee, sobald sie eingetreten war. Soo-Ja wurde sich plötzlich bewusst, wie einfach ihr Hotel war zwei Zimmerfarne standen an den Seiten des Tresens, Fenster gab es keine, dafür eine Neonröhre, die das austauschbare Gemälde einer Python und eines Hirsches beleuchtete.

Yuls Frau schien überhaupt nicht an einen solchen Ort zu passen. Ihre ganze Erscheinung war außergewöhnlich: Das lange schwarze Haar trug sie in einem gepflegten französischen Zopf, und ihr hübscher Teint, ihre gerade Nase und ihre großen, durch Mascara zusätzlich betonten Augen machten sie zu einer wahren Schönheit. Sie trug eine Jacke mit auffälligem Goldmuster und dazu einen knallgelben Rock mit weißen Streifen, der ihr gerade bis unter die Knie reichte. Ihre überdimensionierte Handtasche hatte eine raue Oberfläche, vermutlich Eidechsenleder. Yul, der hinter Eun-Mee stand, vermied den direkten Blickkontakt mit Soo-Ja und schaute abwechselnd zu ihr und auf den Boden. Er trug einen schweren grauen Trenchcoat mit einer Reihe silbern glänzender Knöpfe, der vorne durch einen Gürtel geschlossen wurde. Die Hände hielt er die ganze Zeit in den Taschen vergraben.

Yul schien kaum gealtert, seit sie sich vor acht Jahren zum letzten Mal gesehen hatten, aber er musste inzwischen Ende dreißig sein. Seine Haare waren etwas länger geworden, wodurch er beinahe knabenhaft aussah, aber sein Gesicht wirkte hübsch und ernsthaft wie eh und je; es hätte besser zu einem Studentenführer als zu einem Arzt gepasst. Soo-Ja tat so, als hätte sie in den vergangenen Jahren nicht ein einziges Mal an ihn gedacht. Aber das hatte sie natürlich doch, und sie war verblüfft, dass er dem Bild in ihren Träumen so nahekam. Noch immer hatte er diese tiefgründigen Augen, die den Kummer der ganzen Welt in sich zu tragen schienen. Doch wenn er lächelte, verwandelte sich sein ganzes Gesicht, und er bekam Lachfältchen um die Augen.

Soo-Ja hoffte, sie würde einfach nur Freude und Überraschung darüber empfinden, einen alten Freund wiederzusehen das war er ja offiziell auch: ein entfernter Freund, den man alle zehn Jahre auf einer Hochzeit oder einer Beerdigung traf. Aber stattdessen spürte sie einen Stich im Herzen, und ihre Atemzüge wurden flach. Soo-Ja konnte ihm nicht in die Arme fallen wenn das zuvor nicht möglich gewesen war, warum glaubte sie dann, es ginge jetzt?

»Hier können wir nicht bleiben! Das muss eine Verwechslung sein«, sagte Eun-Mee zu Yul, als wäre Soo-Ja gar nicht da. »Wer auch immer uns dieses Hotel empfohlen hat, muss uns einen Streich gespielt haben.«

Yul verbeugte sich vor Soo-Ja, und sie erwiderte die Geste. Dann fragte er sie nach ihrer Gesundheit und der ihrer Tochter. Da zeigte Yuls Frau, dass sie verstanden hatte und deutete auf Soo-Ja.

»Ach! Ihr Mann muss ein Freund meines Mannes sein!«, rief Eun-Mee affektiert, lächelte nun freundlich und verbeugte sich. Dann wandte sie sich an Yul. »Du willst deinen Freund unterstützen, darum wohnen wir hier! Warum hast du mir das nicht gleich erzählt?«

Yul gab keine Antwort, und Soo-Ja wusste, dass er seine Frau nicht anlügen wollte.

»Unsere Ehemänner waren zusammen in einer Jugendgruppe, damals in den Sechzigern«, warf Soo-Ja ein.

Eun-Mee lächelte Soo-Ja an. »Ach so! Ich hatte mich schon gewundert, was wir hier machen. Ich dachte, es wäre ein Scherz. Ich will dir nicht zu nahe treten, aber wir sind bessere Unterkünfte gewohnt. Jetzt verstehe ich allerdings! Mein Mann ist ein Freund von euch, und wir bekommen hier Rabatt. Wo wir doch befreundet sind, könntet ihr uns das Zimmer aber doch eigentlich auch umsonst überlassen!«

Dieses Verhalten war Soo-Ja nicht fremd je wohlhabender der Gast, desto mehr erwartete er, und das zum kleinsten Preis. Yul trat vor. »Wir bezahlen natürlich den vollen Preis. Nur weil wir uns kennen, wollen wir sie doch nicht ausnutzen!«

»Ach, Liebling. Überlassen wir das doch lieber ihr, nicht wahr?«

Soo-Ja holte das Gästebuch und einen Taschenrechner hervor, um ihre Nervosität zu überspielen. »Wie lange werdet ihr bleiben?«, fragte sie ohne aufzusehen.

Die Frage war an Yul gerichtet gewesen, aber Eun-Mee übernahm die Antwort. »Das wissen wir noch nicht. Mindestens zwei Wochen, vielleicht auch länger.«

Soo-Ja schaute sie verwirrt an. Yul schenkte seiner Frau ein mattes Lächeln und wandte sich dann an Soo-Ja. »Wir bleiben zwei Tage.« Da begriff sie, dass er eigentlich gar nicht in ihrem Hotel schlafen wollte. Sie konnte sich nicht erklären, was die beiden hergeführt hatte, aber ihr war klar, dass Yul nach einer Möglichkeit suchte, ihren Aufenthalt abzukürzen, ohne dass es wirkte, als hätte er etwas zu verstecken.

»Zwei Tage? Nein, viel länger, ganz sicher! Jedenfalls bis unser Haus fertig ist.« Eun-Mee blickte Soo-Ja an. »Hast du’s schon gehört? Wir bauen gerade ein großes Haus hier in Seoul. Ich habe Yul jahrelang darum gebeten, dass wir aus diesem Dreckloch Pusan fortziehen, und er hat endlich Ja gesagt. Seoul passt viel besser zu mir, und das Haus ist wunderschön. Sobald das letzte Badezimmer fertig ist, ziehen wir ein. Es ist ein modernes Badezimmer. Mit Toilette. Und Fliesen auf dem Fußboden!«

Soo-Ja versuchte, die Emotionen, von denen sie übermannt wurde, zu verbergen. Die Zeit hatte ihre Gefühle für Yul nicht abgeschwächt sie liebte ihn noch immer und war gleichzeitig starr vor Angst und freudig erregt, dass er da war. Und er war nicht bloß in der Stadt, nein, er war in ihrem Hotel! Einen kurzen Moment lang scherte sie sich keinen Deut um seine Frau oder darum, dass ihr eigener Mann in ihrem Zimmer auf sie wartete. Natürlich würde zwischen ihnen nichts passieren. Aber er war bei ihr, und das bedeutete ihr alles. Manchmal genügte es, das Gesicht eines geliebten Menschen nur zu sehen der unerträgliche Schmerz kam später. Und sehen konnte sie ihn, vielleicht sogar jeden Tag. Na schön, dachte sie, als hätte sie gerade einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und den Kürzeren gezogen, hier hast du die Liebe, aber sie hängt an einer Schnur, und wenn du nach ihr greifst, ziehe ich sie dir immer wieder vor der Nase weg.

»Sag mal, da wir ja befreundet sind, macht es dir doch sicher nichts aus, wenn ich mir alles anschaue und das Zimmer aussuche, das mir am besten gefällt?« Eun-Mee schien völlig vergessen zu haben, wie unmöglich sie das Hotel anfangs gefunden hatte. Die Aussicht, gratis hier zu wohnen, schien ihre Bedenken zu zerstreuen.

»Natürlich nicht. Fräulein Hong, zeigen Sie der Dame bitte alle freien Zimmer, und auch das, was ich den Gästen ursprünglich geben wollte«, sagte Soo-Ja.

Fräulein Hong, das Zimmermädchen, war von dem lauten Gespräch an der Rezeption angelockt worden. Sie verbeugte sich vor Eun-Mee und bat sie, ihr zu folgen. Eun-Mee lächelte wie die Siegerin eines Preisausschreibens, die sich nun ihren Gewinn zeigen ließ.

Als sie gegangen war, sprachen Soo-Ja und Yul nicht sofort. Aber sie konnte nicht ewig so tun, als wäre sie in ihr Rechnungsbuch vertieft, und er konnte sich nicht endlos räuspern.

»Sie Eun-Mee hat einen Zettel mit deinem Namen und der Telefonnummer des Hotels auf meinem Schreibtisch gefunden. Da wurde sie misstrauisch, weil es ja ein Frauenname war, und ich hatte nicht gleich eine Ausrede parat. Also habe ich ihr gesagt, das wäre bloß das Hotel in Seoul, in dem wir wohnen würden. Ich weiß nicht, ob sie angerufen hat, weil sie mir nicht geglaubt hat «

»Warum hattest du meine Telefonnummer denn auf dem Schreibtisch liegen?«, unterbrach ihn Soo-Ja schnell, da Eun-Mee jede Sekunde zurück sein konnte.

Yul gab ihr keine Antwort.

»Soo-Ja, ich verspreche dir, wir werden das Hotel so bald wie möglich verlassen. Ich weiß, das ist eine unangenehme Situation.«

Yul sah ihr direkt in die Augen und hob unvermittelt die Hand. Soo-Ja dachte schon, er würde ihr Gesicht berühren, aber er hielt in der Bewegung inne und legte die Hand schließlich auf dem Tresen ab.

»Nein, bleibt«, bat Soo-Ja. »Ich fände es schön, wenn ihr beide hier wohnen würdet. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum hattest du meine Telefonnummer auf dem Tisch liegen?«

Yul blickte ihr fest in die Augen. Als er endlich anfing zu sprechen, wusste sie, was er sagen würde. »Weil ich dich noch immer liebe.«

»Wieso meint der eigentlich, er könnte hier etwas umsonst kriegen? Ich kenne ihn doch kaum«, sagte Min, der neben Soo-Ja auf dem Boden lag. Sie plauderten oft noch ein bisschen vor dem Einschlafen. Meist erzählte Min ihr von den Erlebnissen seines Tages, etwa von dem Fischverkäufer, der ihm versehentlich das Doppelte für ein Pfund Seeohr hatte abknöpfen wollen, oder von dem erkälteten Bekannten, der in seine Hand geniest und sie ihm dann zur Begrüßung gereicht hatte.

»Das meint er ja gar nicht. Seine Frau hat darum gebeten«, berichtigte Soo-Ja. Sie hatte sich auf die Unterarme gestützt und betrachtete die Zimmerdecke.

Doch Min hörte nicht auf sie und fuhr fort. »Als wir zusammen in der Studentengruppe waren, hatte er nie etwas für mich übrig. Und jetzt meint er, wir wären Freunde? Er kann froh sein, wenn ich ihm mal zunicke.«

»Wie wie war er früher so?« Soo-Ja versuchte, die Neugier in ihrer Stimme zu verbergen. Über Yul zu sprechen, war eine Art Luxus für sie. Niemand in ihrer Umgebung kannte ihn oder wusste, was er ihr bedeutete.

»Ich habe ihn eigentlich nie persönlich getroffen. Wir haben nur ein paarmal miteinander telefoniert«, erklärte Min. »Wahrscheinlich hast du mehr Zeit mit ihm verbracht als ich. Du erinnerst dich doch auch an ihn, oder?«

»Kaum. Das ist so lange her.«

»Seid ihr damals nicht zusammen zum Haus dieser Frau gefahren? Du weißt, die Frau, deren Sohn ermordet wurde? Das muss schwierig gewesen sein.«

»Eigentlich nicht. Zu dem Zeitpunkt wussten wir ja noch nicht, dass der Junge tot war.«

»Ja. Die Welt ist schlecht. Aber wir haben es gut, nicht wahr?«

»Sicher. Gute Nacht, Min.«

»Gute Nacht. Und wenn Yul abreist, soll er gefälligst ein ordentliches Trinkgeld dalassen.«

Eun-Mees Gepäck kam am nächsten Morgen, und auch am Nachmittag trudelten noch Sachen von ihr ein. Am Ende war es so viel, dass ein Teil davon im Flur vor ihrem Zimmer stand. Eun-Mee war den ganzen Tag über damit beschäftigt, in Bademantel und Duschhaube dazusitzen, nach bestimmten Dingen zu suchen und ihren gelegentlichen Besuchern ein Lächeln zu schenken. Sie holte Dutzende von Mänteln und Kleidern aus den Koffern in allen Farben und für jede Jahreszeit und arrangierte sie im Zimmer, als wären sie etwas sehr Kostbares. Was Soo-Ja allerdings besonders auffiel, waren ihre Schuhe manche sahen aus, als kämen sie direkt aus Italien.

Seitdem Soo-Ja für das Stück Land in Gangnam sparte, hatte sie sich nichts mehr geleistet. Ihre Schuhe trug sie, bis sie auseinanderfielen, und wenn sie in Eun-Mees Nähe war, versteckte sie die Füße verlegen unter dem Saum ihres Kleides. Schuhe sind wichtig, hörte sie ihren Vater sagen. Worauf du stehst, ist was du bist.

Yul wohnte in einem eigenen Zimmer. Das fand Soo-Ja seltsam, aber sie sprach das Thema lieber nicht an. Schon bald wurde sie wie von Zauberhand immer wieder in seine Ecke des Flurs gelenkt, und wenn man ihre Gedanken hätte sehen können, hätte man sich wohl sehr über die elektrischen Feldlinien und die Funken gewundert, die direkt vor seine Zimmertür wiesen.

Yul hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Das hatte Soo-Ja einen Tag zuvor bei seiner Anreise gemerkt. In Eun-Mees Gegenwart hatte er zur großen Zufriedenheit seiner Frau die Zimmerbestätigung unterschrieben, auf der ein erheblicher Rabatt vermerkt war. Doch als sie wegschaute, hatte er dem Betrag schnell 1000 Won hinzugefügt mehr, als Soo-Ja normalerweise berechnete.

Sie bewahrte das zusätzliche Geld in einem Umschlag auf, den sie beiseitelegte. Sie wollte es Yul bei der Abreise wiedergeben. Dabei konnte sie es ihm natürlich nicht einfach so zustecken, denn er würde sich weigern, es anzunehmen. Also würde sie ihm den Umschlag wohl unauffällig in die Manteltasche gleiten lassen.

Wenn die Gäste einen Wunsch hatten, drückten sie einen Rufknopf, und dann schickte Soo-Ja normalerweise Fräulein Hong zu ihnen. Doch als Zimmer 311 sich meldete, beschloss sie, selbst dorthin zu gehen. Sie atmete tief durch und wischte sich die feuchten Hände an ihrem Kleid ab. Die Zimmertür stand einen Spalt offen, und Soo-Ja trat zögernd ein. Yul stand mit dem Rücken zu ihr. Das Zimmer hatte wie alle anderen keine Fenster, nur angedeutete Muster auf der Tapete, die an die traditionellen Holzgitterfenster erinnerten. In der Ecke stand ein kleiner Strohkorb voller Baumwolldecken.

»Hast du mich gerufen? Ist mit dem Zimmer alles in Ordnung?«, fragte Soo-Ja.

»Ja, das Zimmer gefällt mir gut. Ich wusste nicht, ob ich dich herrufen sollte oder nicht. Es tut mir leid, dass ich den Knopf gedrückt habe, das wirkt so erniedrigend, aber ich wusste nicht, wie ich sonst mit dir allein sein kann.«

»Das ist schon in Ordnung. Du bist ja nicht nur ein Gast, sondern auch ein Freund. Und du sollst dich hier wohlfühlen.«

»Ich habe darüber nachgedacht, was ich gestern zu dir gesagt habe. Ich wollte es eigentlich nicht so direkt formulieren. Es ist nur so die letzten zehn Jahre waren schwierig, und ich will nicht, dass die nächsten zehn genauso werden.«

Soo-Ja vernahm Stimmen, die aus dem Nachbarzimmer kamen. Einen Moment lang fürchtete sie, dass die anderen sie auch hören konnten, und trat in die Mitte des Zimmers, so dass sie neben Yul stand. »Bist du krank?«

Yul lachte kurz auf. »Soo-Ja, niemand kann uns hören. Du bist mit mir allein. Und ich kenne dich.« Yul ging an ihr vorbei zur Tür und schloss sie, sodass es still im Zimmer wurde. Dann kam er zurück und stellte sich wieder neben sie. »Erinnerst du dich an unser erstes Treffen? Die lange Busfahrt? Weißt du noch, wie ich in deine Zeichenschule gekommen bin und wir zusammen gemalt haben? Warum redest du mit mir nicht mehr wie damals?«

»Das ist lange her. Jetzt führe ich ein anderes Leben.« Mit einer Bewegung, die auch zu einem feinen Herrn gepasst hätte, der sein seidenes Taschentuch hervorholt, zog Soo-Ja einen schmutzigen Putzlappen aus der Tasche. »Schau dir das an. Früher hätte ich nicht mal im Traum die Fußböden geschrubbt. Anscheinend hat sich mein Körperschwerpunkt verlagert.«

Zu ihrer Überraschung nahm Yul ihr den Lappen aus der Hand und drückte ihn sich sanft gegen den Handrücken. Diese Geste wirkte warm und herzlich, und sie stellte sich vor, wie zärtlich er sie halten würde, wenn er nur könnte. »Was meinst du, warum bringt uns das Schicksal immer wieder zusammen?«

»Es ist nicht das Schicksal. In Pusan bin ich zu dir gekommen, und jetzt bist du zu mir gekommen. Es ist der freie Wille.«

»Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, dass ich mit dir zusammen sein kann.«

»Ich liebe meinen Mann«, sagte Soo-Ja und holte sich den Lappen zurück. Yul gab ihn nicht sofort frei, darum musste sie ihn ihm aus den Fingern winden. In diesem Moment spürten beide, wie ihre Körper voneinander angezogen wurden.

»Du lügst. Du bleibst bloß bei ihm, weil du befürchtest, er könnte dir Hana wegnehmen. Ich kenne die Scheidungsgesetze.«

Soo-Ja wich seinem Blick aus und zog fester an dem Lappen. »Ich gebe zu, es ist nicht alles eitel Sonnenschein. Aber ich mache das Beste daraus.« Über die Jahre hatte sie ihre stoische Fassade perfektioniert.

»Ich werde dich in Ruhe lassen, aber erst, wenn du mir ins Gesicht sagst, dass du nichts mehr für mich empfindest.«

»Ich empfinde nichts mehr für dich«, sagte Soo-Ja und spürte im selben Augenblick, wie ihr die Tränen kamen. Und da gab Yul das Stück Stoff endlich frei. Soo-Ja vergrub ihre Finger darin. Warum hatte er den Lappen losgelassen, warum hatte er sie losgelassen? Warum hatte er nicht weiter festgehalten?

»Heißt das, du denkst gar nicht mehr an mich? Ich weiß noch, wie wir uns zum letzten Mal gesehen haben, und deinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Ich hätte schwören können, du wärst mit mir durchgebrannt.«

»Warum sind wir denn nicht miteinander durchgebrannt?«, fragte Soo-Ja. Sie sehnte sich danach, endlich durch die Oberfläche zu brechen und nach Luft zu schnappen. »Na schön, du willst, dass ich dir sage, ob ich dich noch liebe? Ist das das Wort, von dem du glaubst, ich vermeide es? Liebe? Das könnte ich sehr wohl aussprechen. Aber was haben wir davon? Rein gar nichts, außer, dass wir uns schlecht fühlen.«

»So empfindest du also?«

»Ich bin eine verheiratete Frau. Ich kann nicht einfach so über meine Gefühle sprechen.« Das stimmte, aber sie sagte es nur, weil sie fürchtete, sie könnte nicht mehr aufhören, wenn sie einmal angefangen hatte. »Deine Frau wohnt nur ein paar Meter weiter den Flur hinunter.«

»Ich weiß. Ich dachte, ich würde dich mit der Zeit vergessen, aber das ist mir nicht gelungen. Als ich jünger war, glaubte ich, es wäre im Herzen immer nur Platz für einen einzigen Menschen. Und jedes Mal, wenn man jemanden kennenlernte, müsste man denjenigen, der vorher dort lebte, hinauswerfen. Aber jetzt ist mir klar geworden, dass es viele Zimmer in einem Herzen gibt. Man muss seiner alten Liebe nicht die Tür weisen, sie bleibt einfach da und wartet auf einen.«

Soo-Ja spürte, dass er sie auf der Stelle küssen würde, wenn sie es ihm erlaubte. Und da begriff sie, dass sie sich nicht wünschte, ihn in der Gegenwart für sich zu haben wie konnte sie auch, wo er doch eine Frau hatte und sie einen Mann. Nein, sie wollte die Vergangenheit neu schreiben, ihn mit einer Zeitmaschine einige Jahre zurückschicken, damit er alles ändern und so ordnen konnte, dass sie sich jetzt küssen dürften. Es hätte keiner großen Anstrengungen bedurft, ihn nun zu küssen; sie hätte nur einen Schritt machen und ihr Gesicht leicht zu ihm hinzudrehen brauchen. Aber in Wirklichkeit hätte man die gesamte Molekülstruktur zwischen ihnen ändern müssen, angefangen von ihrem ersten Treffen bis zum heutigen Tag.

»Yul, vergiss mich. Solange du hier bist, werde ich dich als einen Gast betrachten.«

Wie konnte ich dich nur zurückweisen, um stattdessen Min zu heiraten?, fragte sich Soo-Ja, die nun die Vergangenheit im kalten Licht der Gegenwart vor sich sah. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.

Als ihr schwindlig wurde, verließ sie das Zimmer und war froh darüber, dass ihr auf dem Flur kein Gast entgegenkam. Ansonsten hätte derjenige sie vielleicht dabei gesehen, wie sie in Tränen ausbrach und heftig und gepresst atmete, und er hätte sich sicherlich gefragt, was ihr gerade zugestoßen war.