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»Ich sehne mich mehr denn je nach Tiefgang in meinem Leben«, schrieb Soo-Ja an Min. »Ja, das ist genau das Wort, das ich meine: Tiefgang. Ich habe Tage voller Brisanz und Bedeutung erlebt und kann nicht mehr in ein sinnloses Leben zurückkehren. Mein Alltag ist so langweilig. Ich weiß, dass ich alles habe, was sich eine Frau meiner Herkunft nur wünschen kann aufmerksame Dienstboten, handgenähte Kleider, ein Haus wie ein Tempel und trotzdem fühle ich mich wie in einem goldenen Käfig. Mir ist klar, was passiert, wenn ich in Daegu bleibe: Ich werde niemals beweisen können, wozu ich tatsächlich fähig bin. Ich muss einfach Diplomatin werden.«

Soo-Ja lag reglos auf dem Boden und dachte darüber nach, warum sie Min so falsch eingeschätzt hatte. Wieso hatte sie ihn so schnell abgewiesen? Bei den Demonstrationen hatte er sein Leben riskiert, genau wie sie selbst. Sie hatten das gleiche erlebt nur wenige Meilen voneinander entfernt. Hatte er an sie gedacht, als er den Kugeln auswich oder gegen die Panzerung eines Polizisten geschubst wurde? Er hatte sie doch nur um ein Rendezvous gebeten. Wenn sie einfach Ja gesagt hätte, wäre er aus der Gefahrenzone raus gewesen.

Komm zurück, flüsterte Soo-Ja. Wenn er kam, würde sie ihm das Rendezvous gewähren, das er sich so sehr gewünscht hatte. Sie könnten am abendlichen Fluss entlangspazieren und die Sternbilder betrachten. Wenn es kalt würde, könnte er ihr seinen Karo-Pullover leihen. Oder vielleicht würde er Soo-Ja auch um ihren bitten. Da begriff sie, dass es ihr nichts ausmachte, wenn sie selbst der starke Pol sein müsste. Es gefiel ihr, für Min da zu sein und sich um ihn zu kümmern, denn manchmal wirkte er wie ein Waisenkind. Wie hatte er es bloß geschafft, sich bis jetzt ohne ihren Schutz durchzuschlagen? Er war das absolute Gegenteil von Yul, der nichts und niemanden zu brauchen schien. Nicht einmal eine Frau, dachte Soo-Ja.

Min hatte Glück gehabt. Er war bei der großen Demonstration vor der Nationalversammlung gewesen, von der das Radio mehr als hundert Tote und tausend Verletzte gemeldet hatte. Aber ihm war nichts passiert. Das hatte er ihr in seinem Antwortbrief berichtet. Er hatte ihr auch mitgeteilt, dass er schon sehr bald nach Daegu zurückkommen würde. »Meine Arbeit hier ist getan«, schrieb er vollmundig. »Syngman Rhee ist abgesetzt worden. Der Freiheitskampf unserer Nation der damit begann, dass wir uns von den japanischen Besatzern befreiten, und weiterging, indem wir Krieg gegen die Kommunisten führten ist mit dem Sieg gegen die Diktatur nun zu Ende gegangen. Ich habe mit den Menschen gesprochen, die mit mir an der Straße standen und zusahen, wie der Autokorso des Präsidenten vorüberfuhr. Und weißt du, was erstaunlich war? Manche weinten. Ich weiß nicht, ob sie an die schlimmen Dinge dachten, die er getan hatte, oder ob er und seine Frau ihnen leidtaten. Auf jeden Fall ist er jetzt fort, und heute ist ein guter Tag für die Demokratie.«

Min war als Taugenichts nach Seoul gefahren und würde als Held zurückkehren.

Soo-Ja saß auf den Stufen vor ihrem Haus und sah den Dienstbotinnen bei der wöchentlichen Kleiderwäsche im Hof zu. Eine bediente mit ihren kräftigen Armen den Hebel der Wasserpumpe, bis ein Strahl sauberen Wassers hervorschoss. Eine andere saß auf einem Stein und schrubbte die nassen, seifigen Kleider auf einem Waschbrett. Eine dritte schließlich wusch die Sachen unter der Pumpe aus und hängte sie mit Klammern an die Leine. Soo-Ja betrachtete ihre plumpen Körper, versteckt unter alten Hanboks, und dachte verlegen daran, dass sie selbst, die ohnehin schon dünn war, in letzter Zeit auch noch abgenommen hatte.

Sie lauschte den Unterhaltungen der Frauen, die redeten wie die Leute vom Land, ohne die formale Nachsilbe »io« hinter jedem Satz. Manchmal überlappten sich ihre Worte wie bei einem Kanon, und Soo-Ja hörte neidisch zu, wie sie sich salopp neckten oder zankten. Wenn Soo-Ja je die Sprache verlor und sie von Neuem lernen musste, konnte sie einfach diesen Frauen zuhören. Oft erzählten sie sich stundenlang Geschichten. Die Hausarbeit kochen, putzen, waschen schien eher nebenher zu laufen. Aus Soo-Jas Sicht bestand ihre Hauptaufgabe in Klatsch und Tratsch. Sie fragte sich, ob die Frauen hinter ihrem Rücken auch über sie redeten, und ihr wurde klar, dass es ganz selbstverständlich so sein musste.

Soo-Ja schloss die Augen. Sie wurde oft schläfrig, wenn sie melancholische Anwandlungen hatte. Ihr Kopf wurde immer schwerer und dann waren die Dienstbotinnen plötzlich still. Sie öffnete die Augen und sondierte die Lage: Da war ein Eindringling! Unangekündigt war ein Mann durch das Tor in den Innenhof getreten. Er wirkte müde und erschöpft und trug eine Armeejacke mit abgeschnittenen Ärmeln und Hosen mit aufgekrempelten Beinen. Auf dem Rücken hatte er eine Tasche. Einen Moment lang glaubte Soo-Ja, es sei einer ihrer Brüder, der aus einem Krieg zurückkam, von dem man ihr nichts erzählt hatte.

Erst nach ein paar Sekunden begriff sie, dass es Min war, und da sprang sie auf und rannte zu ihm hin. Er hatte schon einmal ihr Haus besucht, aber damals war sie noch nicht bereit für ihn gewesen. Dieses Mal fiel sie ihm in die Arme, ohne Rücksicht auf Sitte und Anstand. Sie umarmten sich herzlich und hielten sich so lange fest, bis ihre Körper zu einer Einheit wurden: ihr Kinn auf seinem Brustbein, ihre Schläfe an seiner Wange. Er war nicht verloren gegangen; er war ihr zurückgebracht worden.

»Ist dein Vater hier?«, fragte Min, als sie sich endlich wieder losließen.

»Ja, wieso?«

Er blickte sie verlegen an. »Ich möchte ihn etwas fragen.«

»Was denn?« Soo-Ja betrachtete seine kirschgroße Nase und seine zu Boden geschlagenen Augen.

»Ich will ihn um deine Hand bitten.«

»Du willst also Soo-Ja heiraten?«, fragte der Vater verwundert.

»Ja.« Min saß ihm gegenüber auf dem Boden, die Tasche neben sich.

»Kommt das nicht ein bisschen plötzlich?«, fragte der Vater, um Selbstbeherrschung bemüht.

»Die Proteste all die Gewalt in Seoul haben mir gezeigt, wie zerbrechlich das Leben ist. In einer einzigen Sekunde könnte alles vorbei sein«, erklärte Min.

Soo-Ja rückte näher an ihn heran und nahm ihn instinktiv beim Arm. Die Idee, um ihre Hand anzuhalten, hatte er selbst gehabt, ohne ihr Zutun. Sie fragte sich, ob er durchschaute, dass sie nach Seoul wollte, um in den diplomatischen Dienst einzutreten. Über ihre Träume hatte sie mit Min nämlich immer nur vage gesprochen, niemals bestimmte Pläne erwähnt, damit er sich nicht benutzt fühlte. Aber vielleicht wusste er es ja. Vielleicht hatte er ihre Gedanken gelesen, als sie zum ersten Mal daran gedacht hatte, an dem Tag auf der Tribüne der Sportanlage. Vielleicht war sie ja ein offenes Buch für ihre Mitmenschen, und die waren nur zu höflich, um es zu kommentieren.

»Aber eine Heirat will gut überlegt sein«, gab der Vater, der plötzlich nach Worten zu suchen schien, zu bedenken. »Nein, es geht nicht ohne einen Vermittler, ohne jemanden, der euch einander vorstellt, so wie es sich gehört. Wir brauchen jemanden, der mir von deiner Familie erzählt und der deiner Familie von uns erzählt. Danach müssen Soo-Jas Mutter und ich deine Eltern kennenlernen und die Ahnenrollen zurate ziehen, um eure Abstammungslinien zu bestimmen. Eine Ehe ist keine Vereinigung zweier Menschen, wie ihr anscheinend glaubt, sondern die Vereinigung zweier Familien.«

Soo-Ja und Min hielten den Kopf gesenkt und sahen zu Boden.

»Abeoji, Min kommt aus einer sehr guten Familie«, versicherte Soo-Ja.

»Mein Vater ist Textilfabrikant«, erklärte Min. »Seide, Baumwolle, Viskose. Er ist ein Industrieller, wie Sie.«

Das schien Soo-Jas Vater jedoch nicht zu beeindrucken. Im Gegenteil, er wirkte noch sorgenvoller als zuvor.

»Wenn dein Vater eine Fabrik besitzt, warum arbeitest du dann nicht bei ihm?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Das wollte mein Vater nicht. Mein Bruder arbeitet bei ihm.«

»Dein älterer Bruder?«

»Nein, ich bin der Älteste.«

»Du bist der Älteste?« Das schien den Vater zu verblüffen. »Wenn du der Älteste bist, dann gehört alles dir auch die Verantwortung. Warum hat dein Vater das Geschäft nicht dir anvertraut?«

»Er wollte nicht, dass ich in der Fabrik rumhänge«, sagte Min mit einer Spur Selbstzufriedenheit in der Stimme. »Die Mädchen, die dort arbeiten, haben immer mit mir geflirtet. Diese Frauen aus der Arbeiterklasse sehen den Sohn des Chefs und kommen auf dumme Gedanken. Mit Frauen muss man vorsichtig sein. Bei Soo-Ja brauche ich mich nicht zurückzuhalten, denn wir stammen beide aus derselben Schicht.«

»Wie schön für dich«, brummte der Vater. »Aber als diese Fabrikmädchen etwas von dir wollten, war da eine Besondere dabei? Irgendeine, die sich besonders hervorgetan hat?«

Min zögerte, und seine Nasenlöcher bebten ein wenig. »Es sind gehorsame Mädchen. Aber sie machen viel Mühe.«

»Dein Bruder scheint keine Schwierigkeiten damit zu haben, sie zu ignorieren«, sagte Soo-Jas Vater resolut. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Abeoji, hör bitte auf, ihn in die Mangel zu nehmen!«, unterbrach ihn Soo-Ja. »Min ist Gast in unserem Haus. Willst du, dass er geht und allen erzählt, wie du mit den Leuten umgehst?«

Da schlug der Vater mit der flachen Hand auf den Boden. »Ja, tu das nur. Erzähl es allen.«

»Abeoji, bitte. Gib Min noch eine Chance «

»Du solltest jetzt gehen«, sagte ihr Vater zu Min.

Der blieb mit gesenktem Kopf sitzen.

»Ich sagte, du kannst jetzt gehen«, wiederholte der Vater.

Soo-Ja schaute nicht hoch, als Min aufstand, sich vor ihrem Vater verbeugte und das Zimmer verließ. Er eilte hinaus, als wäre der Aufbruch seine Idee gewesen, als wäre er derjenige, der die andere Partei für nicht gut genug befunden hatte.

Sobald Min gegangen war, rannte Soo-Ja nach draußen in den Hof. Es hatte angefangen zu regnen; sie spürte, wie die Tropfen gegen ihren Körper prasselten und wie ihre Füße auf dem nassen Boden ausrutschten, darum stützte sie sich an einer Kiefer ab, deren angegriffene Zweige beinahe abbrachen. Sie war auf dem Weg in ihr Zimmer auf der anderen Hofseite, als ihr Vater, der ihr gefolgt war, sie aufforderte, zurück ins Haupthaus zu kommen. Es war eine spannungsgeladene Situation, in der sie sich gegenüberstanden.

»Wieso glaubt er bloß, dass er dich heiraten kann? War er Klassenbester? Ist er Arzt oder Ingenieur? Er hat ja nicht mal die Universität abgeschlossen!«, brüllte der Vater. In dem strömenden Regen konnte er nur mit Mühe die Augen offenhalten, und seine Kleider waren sofort durchweicht.

»Das ist mir egal«, sagte Soo-Ja, die sich beherrschen musste, um nicht zu zittern. Ihr langes, nasses Haar bedeckte das ganze Gesicht, wobei ihr ein Büschel am Mund klebte und einzelne Strähnen wie Linien über den Augen hingen.

»Ach, das ist dir egal? Einen Burschen wie diesen ohne Universitätsabschluss oder Ausbildung würde eine Heiratsvermittlerin doch bloß auslachen!«

»Aber er kommt aus einer guten Familie! Sie besitzen eine Fabrik«, keuchte Soo-Ja.

»Ein Erstgeborener, den man aus der elterlichen Fabrik verbannt hat, muss etwas sehr Schlimmes angestellt haben«, konstatierte der Vater.

Soo-Ja blickte hinüber zum Zimmer der Mutter, in dem das Licht anging. »Wir haben Mutter aufgeweckt.«

»Er ist völlig inakzeptabel. Und er ist der älteste Sohn. Weißt du überhaupt, was es heißt, die Ehefrau des ältesten Sohnes zu sein?« Der Vater kam auf Soo-Ja zu. »Du wärst für die ganze Familie verantwortlich. Weißt du, wie viel Arbeit es ist, deinen angeheirateten Verwandten die ganze Zeit zu Diensten zu sein? Hat er Brüder oder Schwestern?«

»Er hat einen Bruder und eine Schwester.«

»Na schön, wenigstens hat er nicht viele Geschwister, aber es wäre deine Aufgabe, die, die er hat, mit zu erziehen. Und dazu kommen noch deine eigenen Kinder. Soo-Ja, es ist viel Arbeit, den ältesten Sohn einer Familie zu heiraten.«

»Appa, ich weiß, du willst nur mein Bestes, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Bis jetzt habe ich doch immer gute Entscheidungen getroffen, oder?«

Einen Moment lang stand Soo-Jas Vater regungslos da, während seine Kleider vom Regen durchtränkt wurden. »Es ist nicht gut, bei den unwichtigen Dingen recht zu haben und dafür bei den wichtigen Dingen unrecht.«

Soo-Ja wusste, dass dieser Ausspruch stimmte. Eine Ehe war eine ernste Sache. Der einzige Anlass, bei dem eine Frau ihren Willen durchsetzen konnte, war die Wahl ihres Ehemanns. Wählte sie weise, so konnte sie auf ein angenehmes Leben hoffen. Wählte sie töricht, so würde sie es bis in alle Ewigkeit bereuen. Ihr Ehemann würde jede Einzelheit ihres Lebens bestimmen: ihre soziale Schicht, ihren Tagesablauf, ja, ihr ganzes Glück. Und obwohl Soo-Ja wusste, dass ihr Vater recht hatte, wurde sie noch renitenter.

»Das ist die einzige Entscheidung, die ich treffen darf, und deine Zustimmung brauche ich dazu nicht.«

An dem verletzten Gesichtsausdruck ihres Vaters erkannte Soo-Ja, wie sehr sie ihm wehgetan hatte innerhalb von fünf Sekunden schien er um fünf Jahre gealtert. Wie sahen die Verjährungsfristen aus, wenn man Streit mit seinen Lieben hat?, fragte sich Soo-Ja. Konnte man mit früher erfahrenem Unrecht einfach so auftrumpfen, es aus der Tasche ziehen wie ein silbernes Messer und damit die Position des anderen kurz und klein hacken und zerstören?

»Willst du ihn deswegen heiraten? Weil du mich bestrafen willst? Wegen Seoul?«

»Natürlich nicht«, sagte sie ein bisschen zu schnell. Der Vater schaute sie von der Seite an und blinzelte. Ob er etwas von ihren Umzugsplänen nach Seoul ahnte? Eine gefühlte Ewigkeit lang schwieg er, ganz so, als rätselte er weiter über die Motive seiner Tochter. Der Gefangene denkt immer an die Flucht, aber woran denkt der Wärter?, überlegte Soo-Ja. Plötzlich schien ihr Vater die Kälte zu spüren und erschauerte. Hilflos sahen sie einander an.

»Es regnet«, sagte der Vater, als hätte er es gerade erst bemerkt. »Geh auf dein Zimmer.«

Soo-Ja nickte. Es war ihr beinahe unheimlich, dass sie gewonnen hatte. Vor der Tür ihres Zimmers angelangt, musste sie sich sehr beherrschen, nicht zu ihrem Vater zurückzurennen.

Schließlich zog sie die Schuhe aus und trat über die Schwelle. Im Zimmer schaltete sie die Lampe ein und setzte sich auf den warmen Boden, um Atem zu schöpfen. Mit dem Rücken in eine Ecke gelehnt, ließ sie ihre langen Arme und Beine ganz locker herabhängen, wie zerbrochene Streichhölzer. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Nach einer Weile konnte sie ihre Gefühle nicht mehr unterdrücken und begann zu weinen. Ihr ganzer Körper bebte, und kurze, kehlige Laute entschlüpften ihren Lippen. Ein Feind oder ein Fremder konnten ihr wenig anhaben, doch ihr Vater ihr geliebter Vater konnte sie tief verletzen. Warum nur? Aus Schmerz allein weinte sie nie, doch die Kombination von Schmerz und Liebe besonders die Liebe konnte sie dazu bringen, hemmungslos zu schluchzen.

Soo-Ja schnappte gerade nach Luft, als sie hörte, wie die Tür aufgeschoben wurde. Sie drehte sich um, bereit, ihren Bruder oder einen Dienstboten oder wen auch immer anzuschreien. Doch als sie Min erkannte, blieb sie stumm.

»Ich habe deiner Zofe gesagt, sie brauche mich im Regen nicht hinauszubegleiten, ich würde den Weg alleine finden. Und als ich am Tor stand, habe ich nur laut am Riegel gerüttelt und es kräftig zugeworfen.«

Soo-Ja hörte auf zu weinen. Sie drehte am Lichtschalter, bis es wieder dunkel wurde. Min nahm das als Zeichen, dass er näher kommen durfte. Er ging auf sie zu und kniete sich vor ihr hin. So hockten sie einander zugewandt, wie zwei Menschen beim Gebet. Während sie sich flüsternd unterhielten, spürte sie ein Prickeln über ihren Körper gleiten.

»Dann hast du also alles gehört, was mein Vater gesagt hat?«

»Ja.«

»Und, hat er recht?«

»Nein.«

»War da ein Mädchen in der Fabrik? Hast du eine geschwängert?«

»Nein! Natürlich nicht.«

Soo-Ja nickte. »Dann hatte ich recht. Mein Vater kennt dich nicht.«

»Aber es stimmt, dass ich ein glückloser Kkang-pae bin, eine schlechte Partie«, sagte Min nüchtern.

»Sag doch nicht so was. Du solltest etwas mehr Selbstbewusstsein zeigen.«

»Niemand sieht das Gute in mir. Nur du, Soo-Ja.«

»Bitte red doch nicht so«, sagte sie und kämpfte gegen die Gefühle an, die in ihr aufstiegen. Min war sich dessen nicht bewusst, aber er hatte die magischen Worte gefunden. Sie fand die Vorstellung unwiderstehlich, dass sie alleine seinen Wert erkennen konnte und er ihr deswegen ewig dankbar sein würde.

»Hast du nicht gehört, was dein Vater gesagt hat? Ich kann dir nichts bieten«, sagte Min.

Soo-Ja fuhr mit den Fingern durch sein Haar. »Aber du bist ein guter Mann, das weiß ich.«

Min zuckte zusammen, denn er hatte ein Geräusch von draußen gehört. »Was war das?«

»Gar nichts. Keine Sorge, alles schläft. Im Haupthaus kann uns niemand hören«, versicherte ihm Soo-Ja.

»Warum bist du so gut zu mir, Soo-Ja? Wo alle anderen doch so übel mit mir umspringen?« Er schloss die Augen, und sie strich mit dem Finger über sein Gesicht, spürte seine Wangen und die Bartstoppeln auf seinem Kinn.

»Soll ich aufhören? Stört es dich?«, fragte sie ihn lächelnd.

»Dadurch wird es bloß noch schlimmer, wenn du mich verlässt«, erwiderte er und öffnete die Augen wieder. Soo-Ja fuhr mit dem Finger über seine Augenbrauen. Sie verstand, dass er eine Frage gestellt hatte, die sie beantworten musste.

»Min, ich weiß nicht, ob ich dich heiraten kann. Nicht nach dem, was heute Abend passiert ist.«

Min schüttelte den Kopf. »Wenn du deinem Vater nicht gehorchst, wird er böse auf dich sein, aber mit der Zeit wird er merken, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast.«

»Aber es würde ihm gar nicht gefallen, dass er mich verlieren würde, wenn du mich von hier fortbringst. Schon gar nicht, wenn du mir erlaubst Diplomatin zu werden und wir das Land verlassen.« Soo-Ja gebrauchte mit Absicht deutliche Worte, denn sie wollte sehen, wie er reagierte.

»Mir ist es egal, wo wir hingehen, solange wir nur zusammen sind.«

Überglücklich schaute Soo-Ja in Mins schöne Augen, die sie anstrahlten wie die sieben Sterne des Nordens. Sie berührte seine dunklen Augenbrauen, die einen starken Kontrast zu seiner blassen Haut bildeten. Lächelnd dachte sie an die Freiheit, die ihr geschenkt würde, wenn sie ihn heiratete. Min aber verstand ihr Lächeln als Einladung und küsste sie. Er legte seine weichen Lippen auf ihre, und seine Hand streichelte sanft über ihren Hals.

»Liebst du mich?«, fragte er, als er sie wieder losließ.

Soo-Ja war versucht zu lügen und Ja zu sagen, aber in Wahrheit kannte sie ihn doch kaum. Es war nicht Liebe, sondern die Verheißung eines neuen Lebens. Es war das Namdaemun das Stadttor im Herzen Seouls , das auf sie wartete, und außerdem Visa für fremde Länder und exotische Sprachen. Bei dem Gedanken strahlte Soo-Ja, was Min als Antwort nahm, so dass er noch glücklicher zurücklächelte.

»Ich liebe dich«, säuselte er in seiner süßen, beinahe noch jugendlich klingenden Stimme. »Ich liebe dich so sehr, dass mein Inneres fast explodiert. Wenn du mich nicht liebst, dann heirate mich nicht aus Liebe, sondern aus Mitleid. Ohne dich habe ich nichts, wofür ich leben kann. Schenk mir etwas, für das ich leben kann. Meinen Eltern bin ich egal. Ich habe keine Zukunft, keinen Grund weiterzumachen. Nur du kannst mich retten. Heirate mich. Heirate und rette mich. Mein Leben liegt in deiner Hand.«

In diesem Moment spürte Soo-Ja, dass ihr eigenes Leben noch nie so wichtig gewesen war. Ihr Körper zitterte wie der eines Süchtigen beim allerersten Rausch. Nie hatte sie sich mächtiger gefühlt. Ihr Vater hatte unrecht gehabt. Min mochte weder Bildung noch Aufstiegschancen besitzen, aber in dieser Sekunde war das völlig unwichtig. Sie würde nie einen anderen finden, der so viel Leidenschaft für sie aufbrachte wie Min er war ein liebeskranker Junge, der eher sterben als ohne sie leben würde. Er brauchte sie, und dieses Bedürfnis war berauschend. Es war sogar noch stärker als Liebe. Min schien wie im Fieber, und sie fürchtete, er könnte jeden Moment in Ohnmacht fallen. Sie würde ihn retten, jawohl, retten vor sich selbst und vor der Welt, die ihm übelwollte.

Vorsichtig begann sie, seinen Kopf zu massieren. Min verstand das als Vorspiel und küsste sie von Neuem. Soo-Ja erwiderte den Kuss, und Min umarmte sie. Dann lagen sie auf dem Boden. Soo-Ja spürte, wie sich ihre Körper miteinander verbanden, Arm mit Arm, Hüfte mit Hüfte, bis nicht mal mehr ein Blatt Papier zwischen sie passte. Seine feuchte Zunge lag auf ihrer wie eine saftige Mango. Obwohl Soo-Ja die Augen geschlossen hatte, war jeder Zentimeter ihres Körpers hellwach und leitete ihre Empfindungen von Zelle zu Zelle weiter. Als sie die Augen öffnete, konnte sie die Lust in Mins Pupillen erkennen, und sie war stolz, dass sie sie erzeugt hatte.

Min hatte jetzt die Beine um ihre geschlungen, und seine Hände streichelten ihr Gesicht. Soo-Ja legte die Arme um seinen Rücken und schmiegte ihren Körper an seinen. Ihn zu berühren fühlte sich so natürlich an, als würde sie atmen, und fiel ihr ebenso leicht. Sie waren das perfekte Paar, jedenfalls physisch gesehen. Jeder Kuss führte zum nächsten; sie öffneten den Mund, um Luft zu holen und den anderen einzulassen.

Min knöpfte seine Hose auf, aber als er ihren Rock hochschob, stoppte Soo-Ja ihn instinktiv. Sie wusste, dass sie nicht mit ihm schlafen konnte, dass sie es nicht durfte und nicht sollte. Aber sie spürte auch eine plötzliche Anwandlung von Dankbarkeit; sie wollte berühren und berührt werden. Es fühlte sich gut an, genauso wie der Gedanke an ihre Zukunft. Außerdem: Wenn sie jetzt miteinander schliefen, war das so gut wie eine unterschriebene Heiratsurkunde. Kein Mann, der alle Sinne beieinander hatte, würde sich trauen, eine Frau zu entjungfern und sie dann nicht zu heiraten. Sonst würde er ihr Leben zerstören. Es konnte ihr also zum Vorteil gereichen.

Als Min ihren Rock zum zweiten Mal hochschob, hielt Soo-Ja ihn nicht zurück. Min nahm ihre Arme und führte sie nach oben, als wollte er ihren Körper strecken, und verschränkte seine Finger mit ihren. Sie küssten sich wieder, und als die Küsse intensiver wurden, schloss Soo-Ja die Augen und glaubte zu schweben. Ihre Körper bewegten sich im selben Rhythmus, und sie fühlte sich unwirklich, als würden sie beide von der Erde abheben und durch die Luft fliegen, dem Regen entgegen, der gegen ihr Fleisch prasselte.

Bamm, bamm, bamm, tönten die Holztrommeln.

Min und seine Freunde trugen laut singend und musizierend die Hochzeitstruhe die Straße entlang. Sie waren meilenweit zu hören. Alle trugen Männer-Hanboks graue Pluderhosen und darüber blaue, über der Brust mit Schleifen zusammengehaltene Jacken mit weiten Ärmeln. Stolz marschierten sie im Gleichschritt voran. Einer hielt eine Jwa-go-Trommel mit Flaggensymbol und schlug sie jedes Mal, wenn ein Gesang beendet war.

»Kauft den Hahm! Kauft den Hahm

Min folgte ihnen, auch er in einen Hanbok gekleidet. Soo-Ja hatte ihn noch nie in dem traditionellen Gewand gesehen. Min bevorzugte westliche Anzüge, immer schick geschnitten und ordentlich gebügelt. Aber der Hanbok mit seinem frischen Blau und Gelb stand ihm auch gut, und als er auf ihr Haus zumarschierte, spürte Soo-Ja eine plötzliche Freude in sich aufsteigen als wäre alles eine Überraschung und nicht etwas, was sie schon wusste und lang geplant hatte.

»Was ist denn hier los?«, fragte eine Nachbarin von der anderen Straßenseite. Sie wirkte verschlafen und verwirrt. »Ist jemand gestorben?«

»Nein, jemand heiratet bald«, erwiderte Soo-Ja mit einem Lächeln.

»Sie heiraten?«, fragte die Nachbarin. »Welchen denn?«

»Alle«, rief Soo-Ja.

Sie sah eine andere Nachbarin aus dem Haus kommen, eine alte Frau mit runzligem, müdem Gesicht, die einen hellblauen Hanbok und eine rote Chogori-Jacke trug. »Der Bräutigam singt mit lauter und fester Stimme. Das ist ein gutes Zeichen. Das heißt, er hat Ausdauer und Kraft für die erste Nacht!«, sagte sie und begann dann zu klatschen und mit dem Kopf zu nicken.

»Gut«, entgegnete Soo-Ja. »Ich werde ihm nämlich viel zu tun geben in dieser Nacht!«

Soo-Ja rannte zurück ins Haus und ging in die Küche, wobei sie auf die Schwelle achtete, denn die Küche lag dreißig Zentimeter tiefer als der Rest des Hauses. Die Dienstboten waren mit den Reiskuchen beschäftigt, die sie den Männern übergeben wollten, wenn diese das Haus erreicht hatten. Die Leckerei, die mit Adzukibohnen überzogen war, symbolisierte Glück und Harmonie. Soo-Ja machte sich nicht viel aus Tteok sie fand sie nicht süß genug und außerdem zu trocken und klebrig. Aber was wäre eine Feier ohne die Reisküchlein gewesen?

Als die Dienstboten die Tteok in den Flur brachten eigentlich war es gar kein Flur, sondern eher ein großer, leerer Raum, der die anderen miteinander verband , stellten sich Soo-Ja und ihre Mutter nebeneinander auf den gelben Boden, zusammen mit zwei Tanten. Und in diesem Augenblick spürte Soo-Ja die Abwesenheit ihres Vaters und die ihrer Freundin Jae-Hwa. Jae-Hwa, die die Nachricht von der Verlobung erstaunt aufgenommen hatte, hatte eigentlich kommen wollen, war dann aber doch nicht erschienen. Soo-Ja erinnerte sich noch gut an den tadelnden Ton in der Stimme ihrer Freundin, als diese ihr vorgeworfen hatte, nicht wirklich in Min verliebt zu sein. Soo-Ja hatte Jae-Hwa nichts über die Nacht der Leidenschaft erzählt es hätte sie bloß schockiert.

Als die Männer sich dem Haus näherten, ließen ihre lauten, hungrigen Stimmen die dünnen Wände erzittern und den Boden schwanken. Doch als die Dienstboten die Schiebetüren öffneten und die Frauen die Männer sehen konnten, wurden alle still.

Die Männer stellten den Hahm die Hochzeitstruhe auf den Boden und verbeugten sich feierlich. Die Frauen, die sich inzwischen hingesetzt hatten, erwiderten die Verbeugung. Dann nahmen die Männer ihre bootsförmigen Gummischuhe mit den nach oben gerichteten Spitzen ab und trugen die Truhe die zwei Stufen hinauf in den Raum. Sie stellten sie direkt vor Soo-Jas Mutter ab.

Im Tausch für die Truhe gab sie den Trauzeugen einen weißen Umschlag mit Bargeld. Entgegen der üblichen Gebräuche versuchten Mins Freunde nicht zu handeln das hatte Min ihnen vorher so eingeschärft. Auch Soo-Jas Mutter handelte nicht Soo-Ja hatte sie zuvor darum gebeten.

Im Bewusstsein, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, begann Soo-Jas Mutter die dicken Baumwollschnüre, die um die Truhe gebunden waren, zu lösen. Mit den Fingernägeln puhlte sie die Knoten auf und nahm die Schnüre ab, sodass die wunderschöne rote Truhe darunter zum Vorschein kam. Sie war mit glänzenden Ornamenten aus Perlmutt verziert und hatte goldfarbene Scharniere. Die Mutter vollführte ihre Pflicht mit einer solchen Geschicklichkeit, dass man annehmen musste, sie habe ihr Leben lang dafür geübt.

Nachdem sie die Truhe geöffnet hatte, nahm sie die Schriftrolle heraus, die von der Familie des Bräutigams geschickt worden war. In eleganter Kalligraphie stand dort geschrieben, dass Soo-Ja und Min heiraten würden, und dann wurden die vier Säulen des Bräutigams aufgelistet: das Jahr, der Monat, der Tag und die Uhrzeit seiner Geburt, die allesamt beweisen sollten, dass er unter einem guten Stern geboren war. Soo-Jas Mutter las die Daten laut vor, und die anderen nickten voller Anerkennung.

Danach nahm sie sich die Geschenke vor, eins nach dem anderen: ein rosa Nachthemd, ein Jadearmband und einen neuen Hanbok. Lächelnd hielt sie die Präsente hoch. Ein solches Lächeln hatte Soo-Ja bis dahin nur selten auf dem Gesicht ihrer Mutter beobachtet, und sie schloss daraus, dass es ein persönlicher Triumph für ihre Mutter war: Sie hatte es geschafft, eine Tochter zu verheiraten, hatte die Pflicht einer Mutter erfüllt, endlich. Unwillkürlich musste auch Soo-Ja lächeln, denn alles an diesem Tag war so ansteckend: die Freude der Männer, der Jubel der Nachbarn, die Anerkennung ihrer Mutter. Einen Tag lang würde Soo-Ja der Himmel sein, und die Gefühle durchströmten sie wie Wolken, während ihr Wesen ständig seine Farbe änderte.