10

Das alles könnte mir gehören, dachte Soo-Ja, als sie durch die leeren Felder von Gangnam südlich des Hangang-Flusses spazierte. Min und Hana folgten ihr. Es war ein kalter Freitagmorgen im Frühwinter, und Soo-Ja war unterwegs, um einen Bauunternehmer zu treffen, der ihren Vater kannte. Gi-yong Im verkaufte Landparzellen in noch unterentwickelten Teilen von Seoul, und Spekulanten (oder Möchtegern-Spekulanten wie sie) kauften und verkauften dieses Land, um einen Gewinn zu machen. Die Verabredung mit Gi-yong war ihr erstes richtiges Geschäftstreffen. Eigentlich hätte sie deswegen aufgeregt sein sollen, doch sie war freudig erregt. Es war Min, der schwitzte. Er hatte wiederholt gefragt, ob er nicht mit Hana zu Hause bleiben könnte. Soo-Ja wäre tatsächlich lieber allein gegangen, aber sie wusste, dass der Bauunternehmer niemals mit ihr als Frau ein Geschäft abschließen würde. Sie musste so tun, als wäre sie nur ein Anhängsel und Min in Wirklichkeit derjenige, der investieren wollte.

Soo-Ja hatte Min einen eleganten braunen Anzug mit körperbetontem Schnitt herausgelegt, der ihm breite Schultern und ein schmales Profil verlieh. Sie selbst trug eine gelbe Seidenbluse mit Rüschenbesatz entlang der Knopfleiste und eine lange Perlenkette, die ihr bis zur Taille reichte und gerade über ihre rote Polyesterhose hing. Hanboks waren ihrer Meinung nach nur noch etwas für Hausangestellte und alte Leute. Westliche Mode war jetzt der letzte Schrei, besonders der amerikanische und französische Stil: Miniröcke, leuchtende Farben, goldene Pailletten und Muster, die von der Folkmusik inspiriert waren.

Gi-yong hatte vorgeschlagen, sich direkt bei der Parzelle zu treffen, einer unfruchtbaren Wüste aus Felsen und ausgedörrter Erde, einem braunen und gelben See, so leblos wie Stroh. Über ihnen wölbte sich ein klarer, blauer Himmel, und neben der Parzelle verlief der Fluss, in dem der Himmel sich spiegelte. Sie entdeckte Gi-yong in seinem schweren wollenen Trenchcoat, schwarzen Lederhandschuhen und einer weißen Maske, die sein Gesicht warm halten sollte. Soo-Ja schätzte ihn auf Ende vierzig, obwohl sein Haar noch schwarz glänzte. Es fiel ihr nicht leicht, das Alter von Männern einzuschätzen, da deren Gesichter oft relativ glatt wirkten. Ihren Status dagegen konnte sie viel schneller beurteilen, denn mächtige Männer in Seoul traten niemals bescheiden auf.

Das Land war trostloser, als sie erwartet hatte. Die nächsten Gebäude waren kilometerweit entfernt. Niemand hatte Interesse, hier zu bauen, und damit war das Land wertlos. Alle Bautätigkeit erfolgte auf der anderen Seite des Flusses, in Gangbuk. Man war sich einig, dass dies die Richtung war, in die Seoul vermutlich weiterwachsen würde wenn es überhaupt noch wachsen konnte und das maximale Aufnahmevermögen nicht schon erreicht war. Zudem war der Präsident sehr daran interessiert, die ländliche Umgebung zu fördern, um diese Gebiete attraktiver zu machen. Wäre er damit erfolgreich, würde sich der stetige Zuzug in die Hauptstadt bald abschwächen. Aber darin lag natürlich der Reiz des Investierens. In fünf oder zehn Jahren konnte dieses Land zehntausend Won oder gar zehn Millionen Won wert sein.

Als Soo-Ja auf Gi-yong zuging, griff Min nach ihrem Arm und hielt sie zurück. Einen Augenblick lang glaubte sie, er wollte ihr äußeres Erscheinungsbild prüfen. Also nahm sie ihren roten Schal vom Kopf und wickelte ihn sich um den Hals. Sie wollte ja nicht aussehen, als wäre sie gerade dem Bus aus Sigol entstiegen. Aber stattdessen warf Min ihr einen ernsten Blick zu und schüttelte sanft den Kopf.

»Gehen wir besser nach Hause, Soo-Ja«, sagte Min. »Das ist nichts für uns. Meoggo-salja.«

Soo-Ja schaute ihn an und musste ihre Enttäuschung unterdrücken. Das Sprichwort, das Min zitiert hatte, bedeutete wörtlich: »Iss und lebe«, oder mit anderen Worten: Sei zufrieden, wenn du genug zu essen hast, denn das reicht. Es war eine alte Redensart, die von vielen Leuten beherzigt wurde. Aber einfach nur satt zu sein war nicht genug für Soo-Ja. Überall um sich herum sah sie, wie die Leute über Nacht reich wurden, so wie die Besitzer und Geschäftsführer des großen Elektronikherstellers Chaebols.

Soo-Jas Nation war im Umbruch. Die Bauern plagten sich den ganzen Tag auf den Reisfeldern und kehrten jeden Abend in ihre strohgedeckten Hütten zurück. Die Männer und Frauen aus Seoul (und auch die aus ihrer Heimatstadt Daegu) dagegen zogen in Apartment-Gebäude, die im westlichem Stil erbaut worden waren und die sogar und das wäre zehn Jahre zuvor undenkbar gewesen Spielplätze für die Kinder und hell erleuchtete, klimatisierte Einkaufszentren in der Nachbarschaft boten.

»Das sieht nicht nach einer guten Anlage aus«, fuhr Min fort. »Wer sollte denn hier bauen wollen? Das Grundstück liegt zu nah am Fluss, und es gibt kilometerweit keine Häuser.« Min wies auf das weite, offene Land um sie herum und auf die Felder mit ihrer ausgetrockneten, kargen Erde.

Soo-Ja bemerkte, dass Gi-yong in ihre Richtung schaute und auf sie wartete. Aber sie wusste, dass sie dieses Gespräch mit Min noch führen musste. Sie trat einen Schritt auf ihren Mann zu und sprach leise, sodass Hana sie nicht hören konnte. »Selbst wenn ich einen Menschen aus der Zukunft anschleppen würde, der uns bestätigt, dass wir reich werden, selbst wenn ich dir einen Laborbericht zeigen würde, der beweist, dass unter dieser Erde Gold liegt, würdest du es mir noch immer nicht erlauben und Nein sagen. Habe ich da nicht recht?«

Hana, die sie still beobachtet hatte, deutete in die Richtung hinter ihnen. Sie sahen, dass Gi-yong auf sie zukam, da er offenbar keine Lust mehr hatte, noch länger zu warten. Soo-Ja wandte sich von Min ab und schöpfte tief Atem. Sie versuchte, den Ärger aus ihrem Gesicht zu tilgen.

»Annyeong-ha-seyo«, grüßte Gi-yong sie mit einem Lächeln, das an den aufgehenden Mond erinnerte. Er verbeugte sich tief und gab ihnen dann die Hand. Er versuchte auch, Hanas Kopf zu tätscheln, aber sie hielt sich außerhalb seiner Reichweite.

»Sie ist kein Kind mehr. Sie ist schon fast ein Teenager«, sagte Soo-Ja und lächelte.

Zu Soo-Jas Überraschung war Gi-yong nicht beleidigt oder peinlich berührt. Er lachte herzhaft und nickte. Soo-Ja merkte, dass er nicht aus Höflichkeit lachte, sondern eher, weil sein eigener Fehler ihn amüsierte. Das gefiel ihr sie mochte Leute, die über sich selbst lachen konnten.

»Herr Lee«, begann Gi-yong und schaute Min an. »Das ist das Land, an dem Sie interessiert sind. Es ist zu achtzig Prozent verkauft. Ich hoffe, am Ende des Monats sind es hundert Prozent.«

Min warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Ihr Land sieht nicht gerade beeindruckend aus.«

In diesem Moment trat eine junge Frau, anscheinend seine Assistentin, auf Gi-yong zu und sprach kurz mit ihm, woraufhin er einige Handbewegungen machte, die an Soo-Ja und Min gerichtet waren und die diese teils als Entschuldigung, teils als Bitte deuteten, kurz auf ihn zu warten. Dann folgte er der Frau zu einem provisorischen Büro, das einige Meter entfernt lag.

»Gehen wir besser, gehen wir, bevor er zurückkommt«, rief Min, der unbedingt die Unterhaltung, die Gi-yong unterbrochen hatte, weiterführen wollte.

»Nein! Lass mich das Geschäft abschließen«, entgegnete Soo-Ja und entzog sich ihm, als er nach ihrem Arm griff.

»Du kannst deinem Bruder das Geld zurückgeben«, sagte Min.

Soo-Ja trat ein Stück von Min weg und wandte ihm den Rücken zu. Sie hatte ihm erzählt, dass sie sich das Geld für die Investition von ihrem jüngsten Bruder geliehen hatte, der jetzt als Architekt arbeitete. In Wirklichkeit aber hatte Soo-Ja einiges von dem Geld, das sie in ihrem Beruf als Hotelmanagerin verdiente, gespart. Wenn Min sie fragte, wie viel Geld sie bekommen hatte, zeigte sie ihm immer nur die Hälfte. Die andere Hälfte hatte sie in die Taschen ihrer Kleider in der Kommode gestopft. So war es ihr gelungen, zweihunderttausend Won zu sparen.

»Ja, die Investition ist riskant, aber ich glaube an diese Stadt. Alle ziehen hierher. Ich treffe dauernd auf alte Bekannte aus Daegu und Pusan Frauen mit Kindern, die ich von früher kenne. Die Zukunft liegt hier in Seoul.«

»Du hörst dich an wie Präsident Park. Du weißt, dass er die Leute foltert«, gab Min zu bedenken.

»Nun, wenn du dich an deine alten Zeiten als Studentenrevolutionär erinnerst, kannst du ja gegen ihn kämpfen. Obwohl ich finde, dass du genug mit mir zu tun hast«, antwortete Soo-Ja, wobei sie sich umdrehte und ihn wieder anschaute, die Hände in den Taschen vergraben.

»Sehr witzig«, erwiderte Min ohne zu lächeln. Dann wandte er sich an Hana. »Du hast eine sehr lustige Mutter. Erzähl das den Bewerbern, die dich heiraten wollen, da werden sie sicher unbedingt um deine Hand anhalten.«

»Ich habe darüber schon entschieden. Wir werden nicht von der Hand in den Mund leben. Wir werden investieren und etwas von diesem Land kaufen«, erklärte Soo-Ja und entfernte sich einige Schritte. Niemand konnte die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme missverstehen.

»›Ich habe darüber schon entschieden.‹ Weißt du eigentlich, was du deinem Mann antust, wenn du solche Dinge sagst?«, fragte Min. »Ist es denn nicht meine Aufgabe zu entscheiden? Ist es nicht schon schlimm genug, dass ich meine Frau um Geld bitten muss?«

»Und ich gebe es dir«, antwortete Soo-Ja ruhig. »Ich habe mich nie beklagt oder dich deswegen in peinliche Situationen gebracht. Wenn du damit Probleme hast, kann ich dir nicht helfen.«

Das war ein empfindlicher Punkt bei Min. Tatsache war, dass er während der letzten Jahre keine Arbeit gehabt hatte. Stillschweigend hatten sie vereinbart, dass der Grund dafür nicht Faulheit oder Dummheit war, sondern sein schlimmer Rücken. Vor sieben Jahren hatten Mins Eltern beschlossen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Sie hatten Min aufgefordert, mit ihnen zu kommen und seine Familie mitzubringen, sodass sie dort zusammen in einer Fabrik arbeiten könnten. Soo-Ja weigerte sich jedoch zu gehen, da sie sich nach dem, was ihre Schwiegereltern ihr angetan hatten, nicht in der Lage sah, mit ihnen zusammenzuleben. Min musste sich entscheiden, ob er seinen Eltern gehorchen oder mit seiner eigenen Familie in Korea bleiben wollte.

Ungefähr zu dieser Zeit war Min eines Tages an einem kleinen Lebensmittelladen in der Nähe ihrer Wohnung in Daegu vorbeigeschlendert, als eine alte Frau eine entfernte Bekannte ihn um Hilfe bat. Er sollte ihr einige Apfelkisten in ihren Laden tragen. Sie wies ihn nicht darauf hin, wie schwer die Kisten waren. Als Min die erste anhob, hörte er ein lautes Knacksen das war sein Rücken. In diesem Augenblick hätte Min die Kiste auf den Boden fallen lassen sollen, aber aus Angst, sich vor der alten Frau zu blamieren sie könnte ja denken, er wäre zu schwach , trug er die Kiste den ganzen Weg in den Laden, einen quälenden Schritt nach dem anderen, und ruinierte sich auf diese Weise den Rücken vollends.

Min litt tagelang große Schmerzen, und sein Rücken war nie mehr richtig verheilt. Er sagte seinen Eltern, dass er in diesem Zustand nicht nach Amerika ziehen konnte, und so verließen sie das Land ohne ihn. Und auch als er sich wieder normal bewegen konnte, beschloss Min, dass der schlimme Rücken der offizielle Grund dafür war, warum er nicht arbeiten konnte. Diese Erklärung wurde zu einer tragenden Säule ihres Lebens sie machte Hana begreiflich, warum ihr Vater im Gegensatz zu anderen Männern seines Alters keine Arbeit hatte, und sie zeigte auch den anderen, wieso Soo-Ja diejenige war, die den Lebensunterhalt verdiente.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen!« Gi-yong wedelte lebhaft mit den Händen.

»Das macht doch nichts«, entgegnete Soo-Ja, nachdem ihr klar geworden war, dass ihr inzwischen schmollender Ehemann Gi-yong keine Antwort geben würde, auch wenn das Wort an ihn gerichtet war. »Mein Mann ist von dieser Gelegenheit zur Geldanlage sehr angetan. Es gibt Leute, die behaupten, unser Land würde nicht wachsen, aber ich bin anderer Meinung. Ich denke, wir stehen gerade erst am Anfang.«

Gi-yong nickte. »Es gibt da allerdings eine Sache, die ich erwähnen möchte, bevor wir weitermachen.« Sie bemerkte, dass Gi-yong sich in Wirklichkeit an sie richtete, obwohl er sie beide abwechselnd ansah.

»Was für eine Sache?«, fragte Soo-Ja.

»Seit unserem ersten Gespräch ist fast ein Jahr vergangen. Damals habe ich gesagt, ich würde den Pyeong für dreihundert Won verkaufen. Weil aber die Nachfrage nach dem Land so gestiegen ist, sind die Preise hochgegangen. Wenn Sie nun nicht mehr kaufen wollen, verstehe ich das.« Gi-yong wirkte verlegen.

»Wie viel kostet es denn jetzt?«, fragte Soo-Ja.

»Fünfhundert Won den Pyeong, und die Mindestfläche, die ich verkaufe, sind eintausend Pyeong.«

Fünfhunderttausend Won. Und sie hatte nur zweihunderttausend.

Soo-Ja nickte ruhig. »Ich habe damit gerechnet, dass der Preis gestiegen ist, wegen der Inflation und so weiter. Aber eine solche Steigerung habe ich nicht erwartet.«

Gi-yong sah ihr nun direkt in die Augen. Beide hatten die Scharade, dass Min der Verhandlungspartner war, aufgegeben.

»Sie gefallen mir, und mir wäre es recht, wenn Sie das Land kaufen könnten. Aber ich muss auch an mich denken und an die anderen Investoren. Ich kann für Sie keine Ausnahme machen.«

»Das brauchen Sie auch nicht. Ich habe im Moment nicht das ganze Geld, aber ich werde es zusammenkriegen. Wann muss ich meinen Anteil beibringen?«

Gi-yong seufzte. »Am Ende des Monats.«

Soo-Ja versuchte, ihr Zögern zu verbergen. »Ich werde das Geld bis zum Monatsende haben. Verkaufen Sie meinen Anteil an niemand anderen.«

»Ich kann ihn aber nicht lange reservieren.«

»Keine Sorge, ich werde das Geld auftreiben. Wenn wir uns wiedersehen, Herr Im, werde ich bezahlen, und dieses Land wird mir gehören.«

Soo-Ja konnte in seinen Augen sehen, dass er ihr nicht glaubte, aber das freundliche Lächeln auf seinen Lippen verriet ihr, dass er ihr die Gunst erweisen würde, noch etwas abzuwarten. Als sie aufbrachen, beschloss sie, seinen zweifelnden Blick in Erinnerung zu behalten. Sie wusste, dass sie diese Erinnerung als Ermutigung für die langen, harten Wochen, die sie vor sich hatte, brauchen würde.

Seit Soo-Ja und Min sieben Jahre zuvor nach Seoul gezogen waren, hatten sie miterlebt, wie die Stadt wuchs, ähnlich einer hartnäckigen Pflanze, die aus dem Boden spross und dabei die Erde auf ihrem Weg nach oben zermalmte. Auf leeren Grundstücken und in Slums entstanden Hunderte neuer Gebäude. Wenn Soo-Ja durch die Straßen der Innenstadt ging, sah sie Bulldozer und Lastwagen, die sich jeden Tag durch die harte Erde gruben. Überall standen Gerüste und Rohbauten. Tausende Fabriken und Unternehmen siedelten sich um die Stadt herum an und produzierten Waren, die in die reichen Länder exportiert wurden. Statt Rikschas fuhren jetzt Kias durch die Straßen, und Züge ersetzten die Straßenbahnen. Präsident Chung Hee Park hatte gerade riesige Summen Geld von den Amerikanern geborgt und benutzte es, um Industrieanlagen zu errichten, Werften zu modernisieren und Autobahnen zu bauen. Soo-Ja hatte nicht erwartet, dass sich ihr Land im Verlauf von nur einem Jahrzehnt so stark wandeln würde.

Aber wie sie schnell begriff, brachte die Erneuerung auch eine Menge an Arbeit und Opferbereitschaft mit sich. Jedermann um sie herum schien sechzig Stunden die Woche zu arbeiten, angefangen vom Fabrikarbeiter bis hin zum Schuhputzer. Schüler von der ersten bis zur zwölften Klasse auch Hana mussten früh am Morgen aufstehen, sich selbst Frühstück machen und den ganzen Tag mit Auswendiglernen und mathematischen Aufgaben verbringen. Niemand sprach von Glück oder davon, den Tag zu genießen. Die Menschen waren von jeher dazu erzogen worden, Opfer zu bringen, entweder für ihre Eltern oder für ihre Kinder, und jetzt wurden sie aufgefordert, diese Gefühle auf ihre Vorgesetzten oder ihre Arbeitsplätze zu übertragen. So schufteten sie also und erlebten bald, wie die Gebäude in den Himmel wuchsen und das Geld zu fließen begann.

Präsident Park regierte wie ein Diktator, das wusste jeder. Mithilfe der neuen Verfassung die er selbst entworfen hatte verhinderte er jeden Versuch, ihn aus dem Amt zu entfernen (oder ihn vom Thron zu stoßen, wie manche es formulierten). Aber es gelang ihm, den allgemeinen Lebensstandard zu heben, und seine gelegentlichen populistischen Aktionen die Jagd auf korrupte Geschäftsleute oder das Asphaltieren der Strohdächer auf dem Land sicherten ihm die Zuneigung der Armen. Park war gewissermaßen Vater und Mutter der Landbevölkerung geworden. Er hatte ihr den Kapitalismus als neue Religion geschenkt.

Soo-Ja arbeitete normalerweise Zwölfstundentage im Hotel, fand daran aber nichts Außergewöhnliches, da alle anderen ähnliche Arbeitszeiten hatten. Es war ehrenhaft, produktiv zu sein, und Kapital zu erzeugen war jedermanns Pflicht. Die Philosophie des Konfuzius hatte sie gelehrt, pflichtbewusst zu sein, und der Kapitalismus gab ihnen etwas, auf das sie ihr Pflichtbewusstsein richten konnten: die Gesetze des wirtschaftlichen Wohlstandes. Es spielte keine Rolle, was sich hinter geschlossenen Türen abspielte, in den Schlafzimmern, im Privatbereich welche Tränen vergossen, welche Wünsche unterdrückt wurden. Gefühle, Emotionen, Hoffnungen all das musste hintangestellt werden, denn das Individuum zählte nicht, nur der kollektive Wille, erfolgreich zu sein.

Und Soo-Ja war entschlossen, ein Teil dieses Erfolges zu werden. Sie verwarf die Redewendung »Meoggo-salja« »essen und leben« reichte ihr nicht. Sie wollte, dass ihre Familie in einem der eindrucksvollen Häuser residierte, wie sie gerade in Seoul für die Söhne und Töchter der neureichen Hersteller von Elektronikartikeln gebaut wurden. Sie wollte für ihre Tochter Kleider in den eleganten Ateliers und Boutiquen kaufen, die überall in der Stadt aus dem Boden schossen und Mode im Pariser Stil verkauften. Aber vor allem wollte sie ihrem Vater sein Geld zurückzahlen. In ihrer Fantasie fand Soo-Ja einen Weg, ihren Schwiegervater dazu zu bringen, das Geld zurückzugeben. Aber sie wusste, dass das nicht sehr realistisch war und dass sie das Geld selber verdienen musste, wenn sie es ihrem Vater zurückzahlen wollte. Das Land in Gangnam war der Schlüssel dazu.

Seit sie nach Seoul gezogen waren, hatten Soo-Ja und Min davon gelebt, ein Hotel zu leiten. Wie in den meisten kleineren Unternehmen üblich, wohnte Soo-Ja mit ihrer Familie auch dort, in zwei kleinen Zimmern in der Nähe des Eingangs. Diese Arbeit, mitsamt den anspruchsvollen Kunden und langen Arbeitsstunden, war nicht sehr gut bezahlt. Soo-Ja wusste, dass darin keine Zukunft lag. Was sie noch weniger daran mochte, war die Tatsache, dass die Idee dazu von einem Freund ihres Schwiegervaters stammte, und sie hasste es, deswegen in seiner Schuld zu stehen.

Soo-Ja verachtete auch die Männer, die nachts auftauchten, ohne Vorbestellung, und ein Zimmer brauchten, um ihren Rausch auszuschlafen, oder ein Mädchen dabeihatten, oder beides zusammen. Oft verlangten sie auch von ihr, ihnen ein Mädchen aufs Zimmer zu schicken. Zuerst ignorierte Soo-Ja die Aufforderungen. Aber dann kamen die Frauen von selbst und fragten, ob einsame Männer im Hotel wären. Sie trugen keine Fuchsmäntel oder Miniröcke. Sie fluchten nicht und grinsten auch nicht anzüglich. Sie sahen aus wie gewöhnliche Frauen, einige hatten sogar ihre Kinder dabei. Sie waren hungrig und blickten sie aus müden Augen an. Da sagte Soo-Ja ihnen, an welche Türen sie klopfen sollten, und manchmal warnte sie sie vor einem besonders unangenehmen Gast.

Wenn Soo-Ja im Radio den Präsidenten hörte, wie er über seinen Fünfjahresplan sprach, der die Wirtschaft modernisieren sollte, und über sein hochfliegendes Ziel, ein, wie er es nannte, »rückständiges« Land in eine große Supermacht zu verwandeln, dachte Soo-Ja an diese Frauen.

Sie fragte sich, was sie wohl für eine Rolle in diesem neuen Land spielen würden als von ihren Männern verlassene oder von ihren Familien verstoßene Frauen. Sie erinnerten sie an die Scharonrose, die Nationalblume von Korea: Weiß, mit purpurnen Kelchöffnungen und winterharten Kronblättern, hatte man sie auserwählt wegen ihrer Fähigkeit, Trockenheit, Hitze und schlechten Boden zu ertragen. Ihre Blüte war prächtig, doch sie erforderte Geduld, da sie erst spät im Frühjahr zum Vorschein kam. Einmal erblüht zeigte sie jedoch den ganzen Sommer über ihre Schönheit und überdauerte alle anderen Blumen.

Als sie von ihrem Besuch in Gangnam zum Hotel zurückkehrten, vergaß Soo-Ja ihre üblichen Sorgen. Obwohl das Geld noch nicht reichte, spürte sie ein aufgeregtes Prickeln sie fühlte sich wie ein Kind am Beginn der Sommerferien, mit einer Zukunft, die sich warm und verheißungsvoll in der Ferne abzeichnete. Es war Hana, die sie aus ihrer Träumerei riss, indem sie ihr ein Briefchen überreichte. Soo-Ja war noch dabei, Mantel und Schal abzunehmen, als ihre Tochter das zusammengefaltete Papier auf den Tresen legte. Min war schon in ihr Zimmer gegangen, um sein tägliches Nachmittagsnickerchen abzuhalten.

»Was ist das?«, fragte Soo-Ja.

Sie standen an der Rezeption, wo Soo-Ja sich meistens aufhielt und die Kunden begrüßte. Es war ein bescheidener Empfangsbereich: ein weißer Holztresen, einige abgenutzte Eichenstühle und ein Glastisch mit veralteten Zeitschriften. In der hinteren Ecke bedeckten einige Bambuspflanzen die Rückwand, und eine Anschlagtafel wies auf Vergünstigungen für Sehenswürdigkeiten und nahe gelegene Restaurants hin. Ansonsten war nicht viel Platz. Wenn die Gäste durch die Eingangstür traten, standen sie schon fast unmittelbar vor Soo-Ja.

»Dieser Mann hat es mir zugesteckt, als wir gerade gehen wollten. Er hat mir aufgetragen, es dir zu geben, wenn wir alleine sind«, erklärte Hana.

»Meinst du Gi-yong Im? Den Mann, mit dem wir uns gerade getroffen haben?« Soo-Ja griff nach dem Zettel und öffnete ihn gespannt.

Ich würde Ihnen einen Preisnachlass geben, wenn Sie sich auf ein Rendezvous mit mir treffen. Sie sind sehr hübsch, und Ihr Mann braucht ja nicht alles zu wissen.

Soo-Ja unterdrückte einen Fluch. Sie war erstaunt, dass er glaubte, sie würde einem solchen Vorschlag zustimmen. Innerlich brodelte sie. Sie ärgerte sich, dass sie ihn nicht anrufen und ihm den Kopf waschen konnte, denn sie brauchte ihn mehr als er sie. Stattdessen versuchte sie, die Demütigung herunterzuschlucken und knüllte das Papier zu einer kleinen Kugel, die sie dann in die Tasche steckte, damit das Zimmermädchen sie nicht im Abfallkorb finden oder, Gott bewahre, Min selbst darüber stolpern würde.

»Hana, du hast den Brief nicht geöffnet, oder?«, fragte Soo-Ja ihre Tochter, wobei sie versuchte, die Frage beiläufig klingen zu lassen.

»Nein«, antwortete Hana. »Warum?«

»Darum. Und jetzt hilf deiner Mutter und sag Fräulein Hong, dass sie sich noch einmal kurz Zimmer 312 vornehmen soll. Die Frau, die es telefonisch gebucht hat, scheint besonders anspruchsvoll zu sein und wird ein schmutziges Zimmer nicht sehr schätzen.«

»Ja, ich weiß, ich habe mit ihr gesprochen«, sagte Hana. »Sie hat heute Morgen noch einmal angerufen. Sie konnte nicht glauben, dass wir keine Duschen im Hotel haben. Was meint sie denn, wofür das Badehaus auf der anderen Straßenseite gut ist? Und dann hat sie gefragt, ob sie umsonst ein weiteres Zimmer für ihre Kleider haben könnte. Na klar, aber verdienen diese Kleider ihr eigenes Geld und bezahlen für ihr Extrazimmer? Es gibt wirklich so einige Ukineon-Frauen.«

»Hana, bitte, nicht diesen Ausdruck«, schimpfte Soo-Ja.

»Aber sie hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Was denkt sie sich bloß? Sie hat gefragt, ob wir Ratten im Hotel hätten! Kannst du dir das vorstellen? Was ist das denn für eine Frage?«

»Hana, bitte lauf jetzt und rede mit Fräulein Hong.«

Hana schickte sich an zu gehen und stand mit dem Rücken zu ihrer Mutter, als sie fragte: »Du wirst Herrn Ims Angebot also nicht annehmen?«

Soo-Ja bemerkte die Enttäuschung in der Stimme ihrer Tochter. »Du hast den Zettel gelesen.«

»Du wirst es doch annehmen?«

»Hana, wenn du wüsstest, was du da von mir verlangst, würdest du nicht so reden.«

»Warum willst du es denn nicht annehmen?«

War Hana gerade dabei, ihren geliebten Vater zu verraten? Oder sprach sie nur aus, was Min selbst sagen würde? Immerhin brachte er es fertig, gleichzeitig sowohl irrsinnig eifersüchtig auf andere Männer zu sein als auch totale Gleichgültigkeit an den Tag zu legen, was Soo-Jas Wert für ihn betraf.

»Hana, er fragt mich nicht bloß, ob wir zusammen einen Bohnenkuchen im Lebensmittelgeschäft kaufen gehen. Wenn erwachsene Männer so einen Brief schreiben, meinen sie viel mehr.«

»Ich weiß. Er will das, was im Kino passiert, wenn ein Mann und eine Frau sich küssen und die Leinwand schwarz wird«, erläuterte Hana. Anscheinend war sie sich sehr wohl bewusst, was geschah, wenn die Leinwand schwarz wurde.

Soo-Ja betrachtete das glatte Teenagergesicht ihrer Tochter, ihr Haar mit den zwei kleinen Pferdeschwänzen, ihren rosa Angorapullover mit dem weißen Kragen und den Knöpfen auf der Vorderseite. Hana war zwölf und sah auch so aus, aber sie war die reifste Zwölfjährige, die Soo-Ja kannte.

»Hana, ich weiß, es ist frustrierend für dich, wenn du siehst, wie deine Freunde mit dem Taxi fahren und sich jede Saison im Baeg-hwa-jeom neue Kleider kaufen. Aber glaub mir, sie sind deshalb nichts Besseres als du. Jetzt geh auf dein Zimmer und mach deine Hausaufgaben. Und erzähl unter keinen Umständen deinem Vater von dem Zettel. Das würde ihn verletzen.« Soo-Ja fügte die letzte Bemerkung nur hinzu, weil sie wusste, dass das der einzige Weg war, um Min aus der Sache herauszuhalten. Hana schwärmte für ihren Vater, liebte ihn mehr als ihre Mutter, insbesondere, weil er ihr mehr durchgehen ließ das vermutete Soo-Ja jedenfalls.

Als Hana ging, stellte Soo-Ja sich vor, wie ihre Tochter in ihrem Schlafzimmer zusammen mit Min auf dem Boden sitzen und kleine Orangen essen würde. Min würde sie sorgfältig schälen und die weiße Haut von jedem Stückchen entfernen, bevor er es Hana in den Mund schob, eins nach dem anderen. Hana fand es wunderbar, dass ihr Vater immer Zeit für sie hatte, mehr Zeit als alle anderen Erwachsenen. Min las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, erfüllte auch noch ihre unerhörtesten Forderungen und kaufte ihr Schallplatten, Comics und Zeitschriften. Er behandelte sie eher wie eine kleine Königin als wie seine Tochter.

Manchmal erkannte Soo-Ja den prahlerischen Charakter seiner Liebe zu Hana, als wollte er sagen: Schau, ich bin kein schlechter Vater, ich habe Eigenschaften, die meine Fehler aufwiegen, und ich bin bei allem doch zur Liebe fähig bloß nicht dazu, dich zu lieben, weil du nicht fähig bist, mich zu lieben.

Soo-Ja dagegen musste ihre Tochter oft enttäuschen. Sie war mit der Betreuung der Gäste meist zu beschäftigt, als dass sie sich Hanas Schwärmereien über den Sänger Jung Hyeon Shin und den Schauspieler Sung-Il Shin hätte anhören können. Sie weigerte sich, Hana neue Kleider zu kaufen, als es kalt wurde und sie ohnehin die ganze Zeit einen Wintermantel trug. (Soo-Ja glaubte nämlich an die Theorie, dass man nicht zu viel für Sachen aufwenden sollte, die andere Leute nicht sehen konnten, was auch den bedauernswerten Zustand ihrer eigenen Unterwäsche erklärte.)

Als Hana ungefähr sechs oder sieben Jahre alt gewesen war, hatte Soo-Ja ihr oft einen Klaps versetzen müssen, damit sie auch nur die einfachsten Dinge erledigte, zum Beispiel ihren Pyjama anzuziehen oder ihre Mahlzeiten zu essen. Immer, wenn Soo-Ja dazu gezwungen war, schrie Hana: »Das tut mir überhaupt nicht weh!« Diese Frechheit erstaunte Soo-Ja und erweckte in ihr den Wunsch, ihre Tochter noch härter zu schlagen (was sie aber nicht tat). Hana gab niemals klein bei, und die Willensstärke ihrer Tochter ärgerte und beeindruckte Soo-Ja zugleich.

Hana war in letzter Zeit ein wenig ruhiger geworden und hatte für die Schule so viel zu tun, dass sie ihrer Mutter keine großen Schwierigkeiten mehr machte. Gelegentlich ertappte Hana Soo-Ja dabei, wie sie sie anstarrte, und fragte: »Was guckst du denn so?« Und Soo-Ja lächelte dann geheimnisvoll und antwortete: »Ich schaue dich einfach nur an.« Soo-Ja war noch immer verzaubert von dieser hübschen Tochter, die ihr gleich doppelt geschenkt worden war zum ersten Mal bei der Geburt, zum zweiten Mal in Pusan und überschüttete sie daher auch mit der doppelten Menge an Liebe.

Hana, weißt du, dass ich dich liebe? Ich beneide die Mütter in den amerikanischen Filmen, die das einfach so sagen können.

Ich weiß, dass ich es nicht laut aussprechen kann, aber ich sage es unhörbar, wenn ich dich auffordere, deine Jacke oder deine Kapuze anzuziehen. Ich kann es nicht laut aussprechen, aber ich sage es unhörbar, wenn ich dir zum Geburtstag Seetangsuppe mache und dir dazu auch Kokosnusskuchen besorge, deine Lieblingsspeisen. Dein Vater und ich stehen im Wettstreit um deine Liebe, aber das geben wir nicht offen zu; wir erinnern dich bloß daran, respektvoll und gehorsam zu sein. Sei gehorsam, meine Tochter. Sei gehorsam.

»Hatten Sie einen schönen Aufenthalt?«, fragte Soo-Ja und lächelte den beiden Gästen zu, die vor ihr standen. Die beiden Frauen waren ungefähr in ihrem Alter. Sie antworteten nicht so als wäre Soo-Ja eine Art Maschine, die einfach nur dazu diente, die Formalitäten bei der Abreise durchzuführen. Anhand ihrer guten Kleidung vermutete Soo-Ja, dass es sich um verheiratete Damen handelte, die ein paar Tage ohne ihre Kinder und Ehemänner genossen. Während sie die Rechnung erstellte, bemerkte sie, dass die beiden sie intensiv anstarrten und miteinander flüsterten. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete eine der Frauen. »Meine Freundin meint, sie kennt Sie von früher, aber ich denke, da irrt sie sich.«

»Ach«, erwiderte Soo-Ja, blickte die beiden neugierig an und versuchte, ihre Gesichter einzuordnen.

Die eine Frau war hochgewachsen und hatte dauergewelltes Haar, das sich an ihren Wangen herunterringelte. Die andere war klein und sah aus wie sechzehn, obwohl sie offenbar doppelt so alt war. Soo-Ja kannte keine von beiden, schloss aber nicht aus, dass die Frau recht hatte. Besonders während der Collegezeit hatten viele Leute sie gekannt mit Namen oder nur vom Sehen her.

»Meine Freundin glaubt, dass Sie Soo-Ja Choi sind, aus Won-dae-don.« Soo-Ja lächelte und wollte es gerade bestätigen, kam aber nicht zu Wort, weil die Frau unverdrossen weiterredete: »Aber ich behaupte, dass sie falsch liegt. Diese Soo-Ja war reich. Was sollte sie als kleine Angestellte in einem Hotel verloren haben?«

»Ich bin keine kleine Angestellte«, entgegnete Soo-Ja, und ihr Lächeln verschwand augenblicklich. »Sie ist es!«, unterbrach die andere Frau. Sie beugte sich vor und inspizierte Soo-Jas Gesichtszüge. Dabei redete sie, als wäre Soo-Ja überhaupt nicht dabei. »Sie sieht ihr aber gar nicht mehr ähnlich. Sie ist lange nicht mehr so hübsch, und die Soo-Ja, an die ich mich erinnere, würde im Leben keine solchen Wühltischklamotten tragen. Aber sie ist es!«

»Du irrst dich, Bok-Hee. Glaubst du wirklich, dass Woon-Gyu Chois Tochter an einem Ort wie diesem arbeiten würde? Sie lebt jetzt wahrscheinlich in Frankreich und lässt gerade ihr Schloss neu einrichten.« Die Frauen taten, als könnte Soo-Ja sie nicht hören. Dabei starrten sie sie an und studierten ihre Kleidung, ihre Haltung, ihr Aussehen.

»Das ist sie! Ich weiß genau, das ist sie!«, rief Bok-Hee. »Du bist es, nicht wahr?«, wandte sich Bok-Hee schließlich an Soo-Ja. »Du bist Soo-Ja Choi.«

Bok-Hee triefte vor Selbstzufriedenheit und schaute auf Soo-Ja, als hätte sie ihr die Maske vom Gesicht gerissen. Sie lächelte breit und dachte offensichtlich, sie wäre die Gewinnerin im Spiel des Lebens. Und sie konnte es wohl kaum erwarten, ihre alten Klassenkameradinnen von der Entdeckung zu unterrichten. Soo-Ja wich ihrem Blick aus und legte ihnen die Rechnung vor.

»Ich habe keine Ahnung, von wem Sie reden«, sagte sie kurz angebunden. »Das bin ich nicht.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Bok-Hee mit einem Lächeln, das bereits auf ihr Vergnügen hindeutete, wenn sie die Neuigkeit verbreiten würde.

Du wirst niemals erraten, wen ich gerade hinter dem Empfangstresen eines Ein-Sterne-Hotels gesehen habe

Nachdem die beiden Frauen gegangen waren, hätte Soo-Ja das Hotel am liebsten für den Rest des Tages geschlossen und vielleicht für den Rest ihres Lebens. Aber sie wusste, das konnte sie nicht tun. Im Gegensatz zu den Gästen, die gerade gegangen waren, hatte sie nämlich keinen Ehemann, der für sie sorgen konnte. Nur das Land in Gangnam konnte ihr die Freiheit erkaufen.

In diesem Augenblick fragte sich Soo-Ja, ob sie deshalb nach Seoul gegangen war: War sie einfach nur vor ihren alten Klassenkameradinnen geflohen, die sie unweigerlich ständig getroffen hätte, wäre sie in Daegu geblieben? Die Ironie des Ganzen war ihr nicht verborgen geblieben mehr als zehn Jahre zuvor hatte sie unbedingt nach Seoul gewollt, um auf die Diplomatenschule zu gehen, aber als sie endlich in der Stadt ihrer Träume angekommen war, arbeitete sie als Hotelangestellte. Sie hatte so viele Rechnungen zu zahlen, und das wirkliche Leben lastete wie ein schweres Gewicht auf ihren Schultern. Die Vorstellung, nur eine sorglose Studentin zu sein, klang dagegen wie eine entfernte Fantasie.

Soo-Ja schaute auf die Liste der Gäste, die in Kürze erwartet wurden, und dachte einmal mehr an die Frau, mit der sie am Tag zuvor telefoniert hatte. Eun-Mee Kim. Kannte sie sie? War sie auch mit ihr zur Schule gegangen? Es hätte sie nicht überrascht, wenn Eun-Mee Kim eine alte Klassenkameradin aus der Grundschule gewesen wäre, die mit eigenen Augen sehen wollte, welches Schicksal Soo-Ja Choi, die einstmals stadtbekannte Schönheit, ereilt hatte. Eun-Mee Kim, Eun-Mee Kim.

Soo-Ja sagte den Namen leise vor sich hin, um zu sehen, ob er irgendwelche Erinnerungen wachrief, und es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihr klar wurde, wer die Frau war, die jetzt vor ihr Gestalt annahm. Eun-Mee Kim brauchte sich nicht vorzustellen, als sie die Rezeption betrat, gefolgt von Soo-Jas geliebtem Yul höchstpersönlich. Soo-Ja hatte das Gefühl, die Erde hätte aufgehört sich zu drehen, als sie sie zum ersten Mal mit eigenen Augen sah: Yuls Ehefrau.