16

»Ach, Sie sind ja zu Hause. Alle anderen sind über Seollal ausgeflogen«, sagte Gi-yong am anderen Ende der Leitung. Sie hatten sich wochenlang nicht gesehen, aber Soo-Ja konnte sich ohne Weiteres sein schmieriges Lächeln, seinen blauen Mantel aus Vicunja-Wolle und sein mit ausrangierten Möbeln vollgestopftes Büro vorstellen. Sie hatte nicht damit gerechnet, so bald von ihm zu hören, und war davon ausgegangen, das Land mindestens zehn Jahre zu behalten.

»Ach, das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Soo-Ja, die gerade an der Rezeption saß.

»Jedenfalls bin ich froh, dass ich Sie erwischt habe. Ich habe Neuigkeiten für Sie.«

»Ach ja?«, fragte Soo-Ja neugierig.

»Die Hoffnung, Sie zu meiner Geliebten zu machen, kann ich wohl begraben. Sie werden bald eine reiche Frau sein.«

»Was meinen Sie damit?« Soo-Jas Finger spielten nervös mit der Telefonschnur.

»Die Regierung möchte Ihr Land bebauen«, erklärte Gi-yong und rollte dabei jede Silbe über die Zunge wie einen Lutscher.

»Wirklich?«

»Ja. Die Regierung möchte Ihr Land kaufen und Häuser darauf setzen.«

»Wie viel bieten sie mir denn?«

»Fünftausend Won den Pyeong.«

»Was? Das ist ja zehnmal so viel, wie ich dafür bezahlt habe!«

»Ja, aber Sie haben auch ein leeres Feld im Nirgendwo gekauft. Die Regierung hat ihr Auge auf den zukünftigen Standort einer neuen Gewerbezone geworfen. Und dabei ist es noch immer ein Schnäppchen. Jetzt wollen wir hoffen, dass die großen Unternehmen die Gegend in ein riesiges Industriegebiet verwandeln. Ich habe ja schon immer gesagt, dass Seoul überfüllt ist. Die Stadt kann den ganzen Verkehr und die Menschenmassen nicht mehr aufnehmen.«

»Ich kann es nicht fassen. Das ist ja wunderbar.« Soo-Ja schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wenn Sie das Land verkaufen, bekommen Sie fünf Millionen Won. Wie viel haben Sie noch gleich investiert? Fünfhunderttausend?«

»Sie haben es von Anfang an gewusst, nicht wahr? Als Sie mir das Land verkauften, wussten Sie schon, dass sich der Wert vervielfachen würde.«

»Ja. Ich habe einen Tipp von einem Freund bei der Planungsbehörde bekommen. Sie mussten sich zwischen einem Stück Land in Gyeonggi-do und unserem entscheiden. Das andere Grundstück erwies sich bald als Zankapfel in einem Familienerbstreit. Unser Land dagegen können sie viel einfacher bekommen. Sie wollen bald mit dem Bau beginnen.«

»Wenn Sie davon gewusst haben, warum haben Sie es dann an mich verkauft? Warum haben Sie es nicht selbst behalten?«

Gi-yong antwortete nicht sofort. »Sie meinen wohl, Geschäftsleute sind immer kalt und berechnend. Das stimmt nur zum Teil; wir sind nämlich auch schrecklich sentimental. Ich dachte, wenn ich Ihnen helfe, würden Sie mich vielleicht mögen.«

»Ach, Herr Im, gerade mag ich Sie furchtbar gern«, erwiderte Soo-Ja, um seinem Geständnis den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Das kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich habe eine grausige Woche hinter mir. Vielen herzlichen Dank, Herr Im.«

»Sie brauchen mir nicht zu danken. Es wäre ja auch möglich gewesen, dass sie sich für das andere Grundstück entscheiden. Dann wäre unser Land vermutlich noch dreißig Jahre lang wertlos geblieben.«

»Dreißig Jahre? Sie sprachen von zehn oder zwanzig!«

»Vertrauen Sie nie einem Geschäftsmann, Soo-Ja.«

Sie lachte. Ein Gast kam durch die Tür. Sie nickte ihm kurz zu, richtete ihre Aufmerksamkeit aber weiterhin auf das Telefongespräch. »Ich muss Schluss machen. Aber eine Frage noch: Haben wir irgendeinen Verhandlungsspielraum?«

»Das ist eine knifflige Sache. Es ist so: Die Regierung könnte das Land einfach beschlagnahmen, wenn sie wollte. Das Angebot ist also eine Geste des guten Willens, und sie gehen davon aus, dass wir es annehmen.«

»Die Eigentümer der anderen Parzellen verkaufen also auch?«

»Jedenfalls alle, mit denen ich gesprochen habe.«

»Setzen Sie meinen Namen auf die Verkäuferliste. Und «

»Ja?«

»I love you, Mister Gi-yong Im«, sagte Soo-Ja auf Englisch.

Gi-yong lachte. Sie wusste, er konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören.

»Wir sind reich! Wir sind reich!« Hana tanzte durch das Zimmer, tat so, als stieße sie gegen die Wand, ließ sich zu Boden fallen, rappelte sich wieder auf und taumelte gegen die andere Wand. Min, der in seiner üblichen Ecke vor dem Nong-Schrank saß, rührte still in seinem Abendessen.

»Hana, setz dich und iss. Du tust dir noch weh«, ermahnte Soo-Ja ihre Tochter und wedelte mit ihren Essstäbchen.

»Welche Summe hat er dir noch gleich genannt?«, wollte Min wissen.

»Fünf Millionen Won«, sagte Soo-Ja. Äußerlich gab sie sich ganz ruhig, doch innerlich hüpfte ihr Herz genauso wie Hana.

»Erzähl deinem Bruder bloß nicht, dass es so viel ist. Vielleicht will er dann einen Anteil«, warnte Min. Soo-Ja verkniff sich eine Bemerkung und nickte. Irgendwann würde sie ihm gestehen müssen, woher das Darlehen wirklich gekommen war. »Du warst schon immer ein Glückskind, Soo-Ja.«

»Ich, ein Glückskind? Die letzten sechs Jahre habe ich mich als Hotelmanagerin abgeschuftet. Und davor war ich praktisch das Dienstmädchen deiner Eltern«, entgegnete sie.

Min lächelte. »Meine Eltern denken, wir kommen gerade so über die Runden. Stell dir mal vor, was sie für ein Gesicht machen werden.«

»Ihnen gefällt einfach die Vorstellung, dass sie es besser haben als wir.«

Hana, die sich wohl vernachlässigt fühlte, sprang ihrem Vater auf den Schoß, wo sie gerade noch so eben hinpasste. Im Augenblick war sie die fröhlichste Zwölfjährige, die Soo-Ja je gesehen hatte.

»Was machen wir denn mit dem Geld?«, wollte Hana wissen.

»Hast du vielleicht einen Vorschlag?«, fragte Min, die Nase in ihrem seidigen schwarzen Haar vergraben.

»Ich finde, wir sollten nach Amerika fahren«, antwortete sie.

Sofort blickte Soo-Ja von ihrer Schüssel auf. Warum war sie so überrascht, wo doch alle, die sie kannte, vom Auswandern nach Amerika träumten? Warum sollte ausgerechnet ihre Tochter eine Ausnahme sein?

»Wer hat dir denn diesen Floh ins Ohr gesetzt?«, fragte Soo-Ja ernst und hatte sofort Min im Verdacht.

»Elizabeth Taylor und Paul Newman«, erwiderte Hana.

»Dein Amerika existiert nur in Filmen«, gab Soo-Ja zurück.

Flink stand Hana auf und holte etwas aus dem Nong-Schrank: eine Dose Pringles-Chips, die ein paar amerikanische Gäste zurückgelassen hatten. Sie öffnete den Deckel, nahm einige wellenförmige Chips heraus und betrachtete sie voller Bewunderung.

»Das ist Amerika«, erklärte sie. »Ich esse Amerika.«

»Ach ja, und da sie natürlich nicht alleine reisen kann, musst du mitfahren«, sagte Soo-Ja zu Min, um ihm klarzumachen, dass sie ihn durchschaute.

»Ich will keine Reise nach Amerika machen, ich will da wohnen!«, rief Hana aufgeregt.

»Dann tu das. Geh und wohne bei Elizabeth Taylor und Paul Newman. Hana, das Leben, das du gerne hättest, ist bloß ein Traum, ein Filmschauspielertraum. Wenn wir nach Amerika gingen, wären wir noch immer ganz unten. Ich wäre vermutlich noch immer Hotelmanagerin, nur würde ich dann in einem Land arbeiten, wo niemand mich versteht. Die Umgebung ist dort vielleicht hübscher, aber unser Leben wäre das gleiche.«

»Aber wir haben doch Geld«, wandte Hana ein.

»Hana, ich habe es dir schon einmal gesagt. Wir werden nicht alles behalten können. Wir müssen deinem Großvater in Daegu sein Geld zurückzahlen.« Soo-Ja lächelte innerlich, denn sie war stolz darauf, ihrem Vater das Darlehen, das er Mins Vater vor vielen Jahren gewährt hatte, zurückzahlen zu können.

»Ich dachte, das Geld wäre für mich! Du hast doch gesagt, du investierst, um für meine Zukunft vorzusorgen!« In der Stimme ihrer Tochter hörte Soo-Ja eine bislang ungekannte Verzweiflung.

»Ja, das stimmt natürlich. Wenn wir das Land erst in zwanzig Jahren verkauft hätten, würde alles dir gehören. Aber mein Vater lebt noch, und ich will ihm sein Geld zurückzahlen.«

»Das ist ungerecht!« Hana sprang auf und rannte aus dem Zimmer. Die Papiertür ließ sie offen stehen. Soo-Ja fragte sich, ob sie ihre Tochter vielleicht zu sehr verwöhnt hatte. Würde sie die Liebe ihrer Eltern je zu schätzen lernen?

Geduldig erhob Soo-Ja sich und schloss die Tür. Sie wollte nicht, dass die Gäste in ihr Zimmer sehen konnten.

»Meine Eltern bieten weiterhin an, zurückzuzahlen, was sie sich von deinem Vater geliehen haben«, erklärte Min, ohne von seiner Schüssel mit Doenjang-Suppe aufzuschauen.

»Was für einen beleidigenden Vorschlag haben sie jetzt schon wieder? Sie wollen dieselbe Summe zurückzahlen, ohne die Inflation zu berücksichtigen? Dafür kann man sich heute gerade mal einen Fernseher kaufen. Damals bekam man drei Häuser mit dem Geld!«

»Du kannst nicht das zurückbekommen, was du verloren hast.«

»Was meinst du damit?«

»Die Jahre, die du mit ihnen verbracht hast. Die wird dir das Geld auch nicht zurückbringen.«

»Ich war ihre Sklavin.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber du sprichst von meinen Eltern!«

»Du willst auch nach Amerika, nicht wahr?«

»Natürlich«, sagte er leise. Sie hörte den Kummer in seiner Stimme.

»Wenn es nach dir ginge, würden wir gleich morgen ins Flugzeug steigen, stimmt’s?«

»Du erlaubst es ja nicht«, zischte Min. »Du versuchst, uns von ihnen fernzuhalten.«

»Das ist nicht wahr. Außerdem wohnen meine Eltern auch nicht in meiner Nähe.«

»Es sind bloß vier Zugstunden.«

»Mein Vater ist zu krank zum Reisen. Ich sehe ihn so gut wie nie.«

»Aber du siehst ihn wenigstens ab und zu. Ich habe meine Eltern fast zehn Jahre nicht gesehen.«

Min tat so eifrig wie ein verschmähter Liebhaber. Er sprach oft über seine Pläne, zu seinen Eltern zu stoßen Pläne, die Mins Vater weder unterstützte noch unterband. Wenn Soo-Ja die Gründe aufzählte, derentwegen sie nicht fahren konnten Mins Eltern hatten sie hintergangen, sie wollte nicht mit ihnen leben, sie konnte ihre Eltern nicht verlassen , entgegnete Min immer bloß: Aber es sind doch meine Eltern. In diesen Momenten wusste sie, dass er einfach nicht imstande war, schlecht von ihnen zu denken, egal, was sie ihm angetan hatten. Er bog sich die Vergangenheit zurecht und machte gedankliche Verrenkungen, um seine Eltern als Opfer hinzustellen und Soo-Ja mit der er leben musste, die ihm geblieben war als die Schurkin.

Doch die Idee setzte sich fest. Am nächsten Morgen war sie wieder da, im bitteren Kaffee, in den würzigen Udon-Nudeln. Sie zog an Soo-Jas Ohrläppchen und legte sich um ihre Fußknöchel.

»Du brauchst ja nicht mitzukommen, wenn du nicht willst. Ich kann alleine bei Großpapa und Großmama wohnen«, sagte Hana.

»Sag doch nicht so was«, erwiderte Soo-Ja.

»Warum?«

»Weil ich darauf angewiesen bin, dass du mich brauchst.«

»Aber es ist doch Amerika!«, rief Hana wie ein Mantra. Soo-Ja verstand den Frust ihrer Tochter, die vermutlich nicht nachvollziehen konnte, wieso ihre Mutter ihr all das vorenthielt: sonnige Nachmittage, breite Straßen und Luft, so sauber, dass man sie in großen, übermütigen Schlucken trinken konnte. In Amerika hupten die Autofahrer nicht, niemand drängelte sich in der Schlange vor oder sprach schlecht über andere. In Amerika war jeder Tag ein Feiertag, selbst die Arbeitstage.

Wenn Hana einmal nicht über Amerika redete, fing Min davon an. Hatten sie miteinander vereinbart, Soo-Ja abwechselnd zu bearbeiten?

»Sie hat keine Flausen im Kopf«, sagte Min beim Mittagessen zu Soo-Ja. Es gab dünne Scheiben Rindfleisch mit scharfen Radieschenwürfeln. »Sie macht sich bloß Sorgen um ihre Zukunft. In der Schule läuft es nicht besonders gut.«

Wie unangenehm, Neuigkeiten über seine Tochter vom Ehemann zu erfahren!, dachte Soo-Ja. »Das wird schon wieder. Den Sommer über muss sie lernen.«

»In Amerika braucht man nicht gut in der Schule zu sein. Dort muss man nur lächeln und Hände schütteln können. Das kann Hana schnell lernen.«

»Hör mal, wenn sie wegen der Schule nach Amerika wollte, würde ich noch einmal darüber nachdenken. Aber du kennst Hana doch. Sie will in einem schicken Hotel am Swimmingpool liegen und einen Kennedy heiraten.«

»Na schön, dann fahren wir vielleicht ohne dich«, erklärte Min mit vollem Mund und schob seinen Teller von sich.

»Wenn du das machst, bring ich dich um«, drohte Soo-Ja und eilte wieder an die Rezeption.

Sie hatte genug von den Überredungsversuchen. Und sie konnte es nicht erwarten, ihrem Vater zu berichten, dass sie ihm endlich das Geld zurückzahlen würde. Bald würde sie ihn besuchen, mit einem Scheck im Gepäck.

Die vergangenen acht Jahre hatte Soo-Ja mit permanenten Schuldgefühlen gelebt. Ständig musste sie an das Geld denken, das er ihretwegen verloren hatte. Ihr Vater war mittlerweile über sechzig und hätte die Früchte seiner lebenslangen Arbeit genießen und sich erholen sollen, während Soo-Ja und ihre Brüder sich um ihn kümmerten. Doch Soo-Ja hatte ihm in dieser Phase seines Lebens nicht helfen können; nicht zuletzt deshalb, weil sie in eine andere Stadt gezogen war.

Ihre Brüder lebten noch immer in Daegu, aber Tae, der Erstgeborene, hatte gegen den Vater aufbegehrt. (Er war der Ansicht, dass sein Vater Soo-Ja ihm vorzog.) So war es jetzt Kwang-Ho, das jüngste Kind, das sich zwar gewissenhaft, aber doch widerstrebend um die Eltern kümmerte eigentlich die Pflicht des Ältesten.

Seit Soo-Ja nach Seoul gezogen war, hatte sie versucht, die Gedanken an ihre Familie zu verdrängen. Trotz allem litt sie sehr, als das Anwesen ihrer Vorfahren nicht mehr zu halten gewesen war und die Familie in eine kleine Wohnung umsiedeln musste. Jetzt endlich konnte sie alles wiedergutmachen.

»Eomma, kannst du mir bitte Vater geben?«, bat Soo-Ja aufgeregt.

Es war spät am Abend, und Soo-Ja saß in der kleinen Kammer, die ihr als Büro diente. Das Tagwerk war erledigt, jetzt konnte sie in Ruhe mit ihrem Vater telefonieren.

»Soo-Ja, bist du das? Ich weiß gar nicht mehr, wie die Stimme meiner Tochter klingt«, antwortete die Mutter.

»Bitte, Eomma.« Soo-Ja wollte sich die gute Laune nicht nehmen lassen. »Gib mir Vater.«

»Ich sage ja bloß, dass du lange nicht mehr angerufen hast. Und über Seollal warst du auch nicht zu Hause.«

»Ich weiß, es tut mir leid.«

»Wenn du nicht mal über die Feiertage nach Hause kommst, wann dann?«

»Eomma, bitte hol Vater. Ich habe gute Nachrichten für ihn.« Soo-Ja hörte ihren Vater leise im Hintergrund reden. Ihr Herz hüpfte vor Freude, bis ihr klar wurde, dass er sang. Auch hatte sie das Zögern in der Stimme ihrer Mutter gespürt, bevor diese den Hörer schließlich weiterreichte.

»Soo-Ja? Bist du das?« Er klang, als hätte er ein Mikrofon verschluckt. Seine Worte dehnten sich wie Kaugummi.

»Hallo, Appa.«

»Deine Mutter will mir nichts vorsingen! Niemand will mir etwas vorsingen! Aber du tust mir den Gefallen, ja?«

»Nein, Appa, ich « Besorgt zog Soo-Ja die Stirn kraus. Die Telefonschnur baumelte ihr wie ein widerspenstiges Armband ums Handgelenk.

»Sing mir was vor! Sing mir was vor!«

»Appa, du wirst Kwang-Ho aufwecken. Er muss morgen früh aufstehen.« Soo-Ja hörte Stimmen im Hintergrund und glaubte, ihren Bruder zu erkennen. Seit Monaten hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen.

»Kwang-Ho ist nicht mehr mein Sohn!«, rief der Vater laut. »Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.«

»Appa, du wohnst in seinem Haus. Er kümmert sich um dich.«

»Er schleift mich aus der Sul-jib und stellt mich vor meinen Freunden bloß. Was ist das denn für ein Sohn?«

Soo-Ja schloss die Augen. Die Trunkenheit des Vaters entsetzte sie. Dann wurde der Hörer weitergegeben, und sie vernahm wieder die Stimme ihrer Mutter.

»Soo-Ja, dein Vater ist müde. Ruf doch morgen noch einmal an.«

»Was ist nur los mit ihm? Warum lasst ihr ihn so viel trinken?«, fragte Soo-Ja. Sie zog so heftig am Telefonkabel, dass sie es beinahe abriss.

»Dein Vater macht eine schwierige Zeit durch. Er kann nicht damit umgehen, auf Kwang-Hos Kosten zu leben. Er war ja noch nie auf andere Menschen angewiesen, bisher kamen alle zu ihm, um sich Geld zu leihen. Jetzt ist es umgekehrt. Er hat nichts mehr. Denk daran, er war einmal der reichste Mann von Won-dae-don.«

Als Soo-Ja ein kleines Mädchen gewesen war und ihrem Vater die größte Fabrik im Ort gehört hatte, war sie immer dabei gewesen, wenn er Besuch von Bittstellern bekommen hatte. Verwandte echte und falsche und Freunde von Freunden hatten ihn aufgesucht und ihm ihre Probleme geschildert. Manche behaupteten, ihre Tochter würde heiraten, wenn sie das Geld für ihre Geliebte brauchten. Andere baten um einen Zuschuss für die Beerdigung eines Verwandten, wollten in Wirklichkeit aber nach Japan in den Urlaub fahren. Einige aber hatten wirkliche Gründe, etwa ein krankes Kind oder ein hilfsbedürftiges Elternteil. Soo-Ja und ihr Vater hörten jedem aufmerksam zu. Und jedes Mal forderte der Vater seine Tochter auf, sich ein Urteil zu bilden. Er selbst wusste natürlich bereits, wem er Geld geben würde und wem nicht, aber er gab ihr das Gefühl, an der Entscheidung beteiligt zu sein. Soo-Ja hatte von ihrem Vater sowohl das Mitgefühl geerbt als auch die Fähigkeit, Lügner zu erkennen. Sie waren immer einer Meinung, und meistens hatten sie recht. Wenn Soo-Ja schließlich das Geld austeilte, kniete der Bittsteller vor ihr und nannte sie weise. So hatte sie ihre Kindheit verbracht.

Als Soo-Ja endlich in Daegu ankam, war er schon tot. Sie saß im Zug, starrte auf die weiten Felder und weinte. Es war ihr nicht vergönnt gewesen, sich von ihm zu verabschieden. Während der Reise betete sie, der Zug möge ewig weiterfahren, nie anhalten, nie sein Ziel erreichen.

Später saß sie steifgefroren im Taxi zum Haus ihres Bruders; es war die längste halbe Stunde ihres Lebens. Das Taxi hielt vor einem riesigen Wohnkomplex, der an ein Labyrinth erinnerte. Alle Häuser sahen gleich aus weiß, mit kleinen Balkonen und waren nur durch die großen dreistelligen Hausnummern zu unterscheiden. Das war also das neue, aufstrebende Daegu.

Soo-Ja klopfte an die Wohnungstür ihres Bruders, und er öffnete selbst. Als sie ihm in die Augen sah, spürte sie einen Kloß im Hals. Hinter ihm klagten und heulten die trauernden Frauen, die wild die Arme in die Luft warfen. Soo-Ja und ihr Bruder sagten nichts. Sie blieben an der Tür stehen und umarmten sich, und als sie seinen warmen Körper spürte (er hatte die Statur des Vaters geerbt), kamen ihr die Tränen.

Am Ende blieb Soo-Ja viel länger in Daegu, als sie geplant hatte. Es war immer etwas los, denn es gab so viele Leute, mit denen sie schon lange nicht mehr gesprochen hatte. Alle wollten sie sehen: entfernte Verwandte und Freunde der Familie. Sie sagten, mit Soo-Ja zusammen zu sein, wäre so gut wie mit ihrem Vater zusammen zu sein sie hätte dasselbe Lächeln und strahlte dieselbe Wärme aus. So klapperte sie nach und nach alle Freunde in ganz Daegu ab und wurde zum öffentlichen Gesicht der Familie, während die Mutter zu Hause blieb und sich mit der Pfeife in ihr Zimmer und in ihr Schweigen verkroch.

Min und Hana kamen zur Beerdigung, reisten aber danach sofort wieder ab. Min erklärte Soo-Ja, jemand müsse sich schließlich um das Hotel kümmern, und dagegen konnte sie kaum etwas vorbringen. Da wusste sie noch nicht, was in ihrem Mann und ihrer Tochter vorging. Sie wusste nicht, dass sie sich schon entschieden hatten. Später, wenn Soo-Ja anderen Leuten erzählte, was ihr Mann und ihre Tochter ihr angetan hatten, fragten diese immer: Warum bist du auch so lange in Daegu geblieben? Warum hast du ihnen die Gelegenheit dazu gegeben? Eigentlich ist alles deine Schuld, siehst du das denn nicht?

Soo-Ja fühlte sich wohl in Daegu, und es gefiel ihr, dass die Menschen um sie herum trauerten. Sie alle zelebrierten den Verlust: ihre Brüder, ihre Mutter und sie selbst. Es gefiel ihr, dass die Mahlzeiten wie von Zauberhand vor ihr erschienen, dank zahlloser Freunde, die ihnen Essen brachten, und zwar nicht auf Plastiktellern, sondern auf echtem Porzellan, mit richtigem Besteck. Es gefiel ihr, dass sie in Daegu weinen konnte, wann sie wollte, ohne dass jemand sie bemitleidete als wäre es ganz normal, beim Geschirrspülen in Schluchzen auszubrechen. Abends las sie wieder und wieder die Briefe, die ihr Vater ihr geschrieben hatte, und seine Buchstaben aus blauer Tinte verschwammen unter den Tränen, die darauftropften.

Meine liebe Soo-Ja,

sehr lange schon habe ich nichts mehr von dir gehört. Ich kann mir vorstellen, dass du viel im Hotel und mit Hana zu tun hast. Manchmal werde ich traurig, wenn ich daran denke, wie hart du arbeiten musst, und ich schäme mich, dass ich meiner Tochter kein besseres Leben bieten konnte. Alles, wofür ich gearbeitet habe die Fabrik, das Unternehmen , war dazu ausersehen, dir ein Leben im Wohlstand zu ermöglichen. Aber ich habe versagt.

Es schmerzt mich, dass ich dir nicht mehr geben kann, denn ich habe nur noch so wenig. Alles, was ich dir noch schenken kann, ist meine Liebe, und das erscheint mir so unbedeutend, so gering. Meine Liebe kann dir keinen freien Tag bescheren und keine Schüssel Reis kaufen. Mein Vermögen ist dahin, genau wie meine Gesundheit. Ich sehe, wie meine Freunde Trost im Gebet finden und im Alkohol, dem auch ich nie abgeneigt war, wie du weißt , aber ich möchte meinen Freunden sagen, dass sie keine Angst vor dem haben müssen, was vor uns liegt. Ich habe keine Angst vor dem Tod, nur davor, welchen Schmerz er über meine Hinterbliebenen bringen wird. Wenn mir etwas zustößt, dann weine um mich, aber nicht zu lang, trauere um mich, aber nicht zu viel.

Du sollst wissen, dass ich mich glücklich schätze, in meinem Leben so viel Liebe erfahren zu haben von deiner Mutter, von deinen Brüdern und dir. Besonders von dir, die immer vor mir davonläuft. Aber ich werde dich immer finden, egal, wohin du gehst. Ich werde immer ein Teil deines Lebens sein. Ich werde dich immer begleiten und behüten.

Dein dich liebender Vater

Soo-Ja saß auf dem Bett ihres Vaters und blätterte durch alte Fotoalben, als ihre Mutter in der Tür erschien. Die Mutter war ihr immer alt vorgekommen, selbst, als sie noch deutlich jünger gewesen war. Jetzt, wo sie Großmutter war, schien sie endlich die Rolle auszufüllen, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte. In letzter Zeit hatte sie immer dieselbe Kleidung getragen, fast wie eine Uniform: eine schwere, wattierte braune Hose, weiße Socken und eine grüne Strickjacke mit weißen Knöpfen.

»Warum hast du Geld auf meine Frisierkommode gelegt?«, fragte die Mutter.

»Für die Telefongespräche nach Seoul.«

»Das ist mehr, als ein paar Telefongespräche nach Seoul kosten«, bemerkte die Mutter und trat ein. Soo-Ja rutschte ein Stück zur Seite, damit ihre Mutter sich neben sie auf das Bett setzen konnte.

»Das ist schon in Ordnung so, Mutter. Wir wissen beide, dass ich Vater viel Geld geschuldet habe. Ich werde euch in Zukunft noch mehr schicken, jeden Monat.«

Die Mutter sah die Tochter prüfend an, als versuchte sie, ihre Gedanken zu lesen. »Quälst du dich noch immer wegen des Darlehens an diesen Nam Lee?«

»Wie könnte ich das denn vergessen? Vater musste hier wohnen. Ohne Geld. Und all das war meine Schuld.«

»Nein, Soo-Ja. Dein Vater hat alles verloren, weil er zu viel getrunken hat. Immer, wenn er nach Hause kam, warteten Verwandte auf ihn und baten ihn um Geld. Sein Bruder hat ihm seinen Namensstempel gestohlen, um an sein Konto heranzukommen. Und ein anderer Lump hat das Geld genommen, mit dem dein Vater eine Schule bauen wollte, und ist damit getürmt. Das Geld, das er deinetwegen verloren hat, fällt dagegen kaum ins Gewicht.«

Zuerst sagte Soo-Ja nichts. Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Ihr war, als drohte sie auseinanderzubrechen; ihre Schuldgefühle waren ein Teil von ihr geworden wie ihre Arme und Beine. »Ich dachte immer, er hätte sich meinetwegen ruiniert.«

»Und dein Vater hat dich in dem Glauben gelassen«, seufzte die Mutter und holte eine Tüte unter dem Bett hervor, in der sich getrockneter Beifuß und Räucherstäbchen befanden. Sie nahm eine Rolle Beifuß und presste sich ein Ende gegen den Finger, während sie das andere Ende mit einem der Räucherstäbchen anzündete. Als sie das Räucherstäbchen wegzog, klebte der erhitzte Beifuß an ihrem Finger.

Soo-Ja keuchte atemlos. »Warum hat er das gemacht? Kannst du dir vorstellen, wie entsetzlich ich mich die ganzen Jahre über gefühlt habe? Weißt du, wie schuldig ich mir vorgekommen bin?«

Die Mutter nahm noch eine Rolle Beifuß und legte sie sich auf den Zeigefinger. Der Duft von Räucherstäbchen erfüllte das Zimmer.

»Manchmal bist du so naiv, dass es mir in den Ohren wehtut. Unter seiner harten Schale hatte dein Vater einen weichen Kern. Er hatte furchtbare Angst, dich zu verlieren. Du hattest gerade erst geheiratet, und er brauchte etwas, um dich an ihn zu binden.«

Da begann Soo-Ja zu weinen. Die Mutter zündete immer neue Beifußrollen an, bis an jedem Finger der linken Hand eine klebte. Soo-Ja hatte sie oft dabei beobachtet. Der Beifuß würde langsam abbrennen und sollte sich günstig auf verschiedene Leiden auswirken. Für Soo-Ja gehörten diese Stäbchen zu ihrer Mutter wie ihre Augen oder ihre Nase, und sie würde sich noch lange nach ihrem Tod daran erinnern.

»Sei nicht zornig auf deinen Vater. Du bist jetzt selbst Mutter und kannst nachempfinden, was es heißt, wenn einem das eigene Kind langsam aus den Fingern gleitet.«

Soo-Ja betrachtete ihre Mutter, deren Gesicht von einer dünnen weißen Rauchschicht eingehüllt wurde. Einen Moment lang sehnte sie sich danach, ihre faltige Hand zu nehmen und sie an ihr eigenes Gesicht zu legen. Die Mutter war klein und gebeugt, aber noch immer stark. Sie führte ein ganz anderes Leben als ihre Tochter.

Plötzlich klingelte das Telefon auf dem Nachttisch und riss Soo-Ja aus ihren Gedanken. Vermutlich waren es Min und Hana. Es war schon spät, später, als sie sie normalerweise in Seoul anrief, und Soo-Ja dachte, sie machten sich Sorgen. Die Mutter bedeutete ihr, den Hörer abzunehmen und ging diskret aus dem Zimmer.

Doch als Soo-Ja sich meldete, hörte sie nicht Mins Stimme, sondern Fräulein Hongs ländlichen, runden Sigol-Dialekt. Sie schien den Tränen nahe und sprach undeutlich, sodass Soo-Ja eine Weile brauchte, um zu begreifen, wieso das Zimmermädchen sie anrief. Aber selbst als sie die Worte verstanden hatte, konnte sie sie nicht glauben.

Vor Entsetzen ließ sie fast den Hörer fallen.