5

Draußen vor dem Tempel ging langsam die Sonne unter, als Soo-Jas Yin ihre Nacht Mins Yang seinen Tag berührte. Sie kamen getrennt in traditionellen Sänften: Während Soo-Ja in einer abgeschlossenen Kabine saß, die sie vor der Welt versteckte, thronte Min auf einem offenen Holzstuhl, der von vier Männern getragen wurde. Soo-Ja trug einen grüngelben Seidenhanbok mit Puffärmeln und hatte die Arme vor dem Körper übereinandergelegt. Ihr langes schwarzes Haar war hinten zusammengebunden und mit einer Nadel festgesteckt, deren Kopf ein Drachenornament zierte. Min hatte einen hohen schwarzen Hut auf dem Kopf, der an den Seiten abgeflacht war und an ein Paar Flügel erinnerte; dazu trug er eine dunkelbraune Jacke mit zwei eingestickten Mandschurenkranichen. Seine locker fallenden Seidenhosen waren auf Wadenhöhe abgeschnitten, sodass die schwarzen Stiefel aus Stoff zur Geltung kamen.

Nachdem die Träger die Sänften abgestellt hatten, stiegen Soo-Ja und Min aus und zeigten sich ihren etwa zweihundert Gästen. Geleitet von seinen Dienern, nahm das Paar die Anfangsposition ein. Zu den Klängen der zwölfsaitigen Zither drehten die Diener Soo-Ja und Min vorsichtig mit dem Gesicht zueinander, und die beiden verbeugten sich zum ersten Mal langsam und absolut synchron.

Als Nächstes musste sich das Brautpaar gegenseitig eine Schale mit Reiswein darbieten. Während Min die Schale langsam auszutrinken hatte, gebot die Tradition, dass Soo-Ja nur einen kleinen Schluck nehmen und verlegen die Schale zurückgeben sollte, aber zur allgemeinen Überraschung trank Soo-Ja alles in einem Zug aus und zeigte genüsslich, wie sehr es ihr schmeckte.

Unterdessen nahmen Mins Eltern wie erfahrene Schauspieler ihren Platz auf dem Boden ein. Das Brautpaar wandte sich ihnen zu und vollführte eine lange, aufwendige Verbeugung. Dann trat Soo-Ja mit kurzen Schritten, den Blick zu Boden gerichtet, zu ihnen und offerierte auch ihnen Wein. Mins Vater deutete eine Verneigung an und nahm die Gabe entgegen. Die Dienerin füllte die Schale wieder auf, damit Soo-Ja auch ihrer künftigen Schwiegermutter vom Wein anbieten konnte, und diese nahm feierlich einen kleinen Schluck.

Damit war Soo-Jas Aufgabe erfüllt, und sie stand wieder auf, während Mins Vater einige rote Datteln in die Luft warf. Sie hatte Schwierigkeiten, an ihren Platz zurückzugehen, denn sie musste die Arme in einer unbequemen Position halten und gleichzeitig den schweren Seidenstoff ihres Gewands unter Kontrolle bringen.

Min, der einige Schritte vor ihr ging, schien Soo-Jas Anwesenheit gar nicht richtig zu bemerken und wäre ihr beinahe davongelaufen.

Während des anschließenden Essens erzählte Soo-Ja ihrer Freundin Jae-Hwa, wie peinlich dieser Moment für sie gewesen war, doch Jae-Hwa erwiderte, sie solle sich deswegen nicht so anstellen, sie habe nämlich großartig ausgesehen, und außerdem sei es eine der schönsten Zeremonien gewesen, die sie bis jetzt erlebt habe.

Wenn eine junge Frau heiratet, gebietet der Brauch, dass sie drei Tage mit ihren eigenen Eltern verbringt und danach mit ihrem Ehemann bei seinen Eltern lebt. Doch als Soo-Ja das Tor von Mins Anwesen durchschritt, kam sie sich vor wie ein Eindringling. Niemand aus der Familie ihres Mannes war aufgeblieben, um sie zu begrüßen, und sowohl das Haupthaus als auch die angrenzenden Gebäude lagen im Dunkeln. Alle Lichter waren ausgeschaltet, auch die im Hof. Sie musste sich langsam vortasten, um nicht zu stolpern. Min hatte keine Schwierigkeiten, denn er war es so gewohnt, aber er kümmerte sich nicht um sie, und schließlich musste sie ihn bitten, etwas langsamer zu gehen.

Soo-Ja folgte Min an einem kleinen Garten vorbei in den rückwärtigen Teil des Anwesens. Dort angekommen, sah sie, wo das Haupthaus endete und Mins eigenes, direkt daneben liegendes Haus begann. Es war einstöckig und genauso bescheiden und unaufdringlich wie ein entfernter Cousin. Min und Soo-Ja hatten zwei Zimmer für sich allein; eines, in dem er Besucher empfangen konnte, und ein weiteres, in dem sie schlafen würden. Küche und Esszimmer lagen im Haupthaus und waren für alle Bewohner des Anwesens zu nutzen, und von Soo-Ja wurde erwartet, dass sie beim Kochen half. Das Toilettenhäuschen auf der anderen Hofseite wurde ebenfalls gemeinschaftlich benutzt.

Als sie in Mins Haus traten, wartete Soo-Ja darauf, dass er Licht machte, aber sie wartete vergeblich. Also suchte sie selbst nach der Lampe und schaltete sie ein. Min sah sie an, als hätte sie etwas falsch gemacht.

»Das darfst du nicht.«

»Was darf ich nicht? Die Lampe anmachen?«

»Meine Mutter mag es nicht, wenn wir Strom verschwenden«, erklärte er und deutete auf die Lampe.

»Aber es ist dunkel.«

»Ich weiß. Wir sollten schlafen. Mach das Licht aus.«

»Aber ich kann nichts sehen. Wie soll ich denn die Decken finden?«

»Sie sind dahinten, oben auf dem Schrank. Und jetzt mach es aus, sonst sieht meine Mutter das Licht«, sagte Min und zeigte wieder auf die Lampe.

»Ist sie denn noch wach?«

»Sie ist im Haus und betet.«

»Wofür betet sie?«, fragte Soo-Ja verwirrt.

»Was glaubst du denn?«, gab Min schroff zurück.

Für einen Enkelsohn, natürlich. Und das bereits wenige Tage nach ihrer Hochzeit. Die Schwiegermutter betete von da an jeden Abend, bis Soo-Ja ihr die erlösende Nachricht überbrachte, dass sie ein Kind erwartete. Manchmal betete sie sogar laut vor dem Haus, wo sie mit geschlossenen Augen den Oberkörper hin- und herwiegte. Am nächsten Tag würden sie auf Hochzeitsreise nach Jeju gehen, und Soo-Ja wusste, dass man von ihr erwartete, dort schwanger zu werden. Das war nicht unromantisch, sondern in erster Linie praktisch. Sie hatten zwei Tage für sich allein und konnten so laut sein, wie sie wollten.

Widerstrebend schaltete Soo-Ja das Licht aus, aber erst, nachdem sie sich alles im Zimmer genau eingeprägt hatte. Es gab im Grunde kaum Möbel, nur den Perlmuttschrank für Kleider und Decken sowie einen kleinen Eichentisch direkt an der Wand. Als Soo-Ja das Bett zurechtmachte, erinnerte sie sich plötzlich an eine Sache, die ihr schon während des Hochzeitsfestes aufgefallen war.

»Wer waren eigentlich die drei Jungen, die bei unserer Hochzeit die ganze Zeit neben deinen Eltern standen?« Es war dunkel, und sie konnte Min nicht sehen, nur seine Atemzüge hören. Sie arbeitete sich durch die ungewohnten Decken, die sie nur unterscheiden konnte, indem sie sie befühlte. Die dünnere breitete sie auf dem Boden aus, darauf schliefen sie, und mit der dickeren würden sie sich zudecken. Sie konnten sich nicht direkt auf den Boden legen, das wäre unhygienisch gewesen, und egal, wie heiß es auch war, sie mussten sich mit etwas zudecken, so gebot es die Sittsamkeit. Während Soo-Ja das Lager richtete, wartete sie auf Mins Antwort.

»Das sind meine Brüder«, sagte er schließlich.

»Du hast doch gesagt, du hättest nur einen Bruder und eine Schwester.«

»Dann hast du mich wohl missverstanden.«

Sie hörte das Geräusch eines Zündholzes, das Mins Gesicht eine Sekunde lang erhellte, als er sich eine Zigarette ansteckte.

»Wie alt sind sie denn?«, wollte sie wissen.

»Chung-Ho ist siebzehn, Du-Ho zehn, und In-Ho acht. Und dann ist da noch meine Schwester Na-yeong, sie ist vierzehn.«

»Dann hast du also drei Brüder und eine Schwester«, bemerkte Soo-Ja überrascht.

»Zwei Schwestern. Seon-ae ist mit achtzehn von zu Hause ausgezogen.«

»Und wo ist sie jetzt?«

»Keine Ahnung.«

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du eine so große Familie hast?«, fragte sie, ohne sich zu bewegen.

»Ist das Lager fertig?«

»Beinahe. Min, das hättest du mir sagen müssen.«

»Das konnte ich nicht riskieren. Ich wollte nicht, dass du mir noch durch die Finger gleitest.«

»Wie ein Vogel, meinst du?«, fragte Soo-Ja, nur halb im Scherz. Sie faltete die Decke auseinander und breitete sie ordentlich aus.

»Ich kann’s gar nicht glauben. Ich hab’s geschafft. Ich habe dich hergelockt«, murmelte Min vor sich hin, zündete noch ein Streichholz an und schaute ihm beim Abbrennen zu. Seine Stimme klang völlig fremd, als hätte er zuvor mit einem Akzent gesprochen, den er nun über Bord geworfen hatte. Auch seine Gesichtszüge schienen sich neu zu modellieren und zu einem früheren, ihr unbekannten Ausdruck zurückzufinden.

»Was hast du geschafft?«

»Meine Eltern haben mir nicht zugetraut, eine Frau zu finden. Wegen meiner schlechten finanziellen Aussichten. Aber Eltern sind einfach so. Sie bemerken es gar nicht, wenn ihr Sohn unverschämt gut aussieht.«

»Ich habe dich nicht wegen deines Aussehens geheiratet«, sagte Soo-Ja hart.

»Hast du die Gesichter meiner Freunde gesehen? Hast du gemerkt, wie neidisch sie waren? Niemand hat mir das zugetraut. Niemand hat an mich geglaubt.«

Soo-Ja war fertig mit der Bettstatt. Obwohl sie Min kaum sehen konnte, wusste sie, dass er Hemd und Hose ausgezogen hatte, bevor er unter die Decke kroch und dort in seinen Schlafanzug schlüpfte. Sie legte sich nicht neben ihn.

Stattdessen lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand, wartete ab und lauschte dem Geräusch seiner rauchgeschwängerten Atemzüge. Min verlangte nicht von ihr, sich zu ihm zu legen; als wäre er bereits erschöpft. Er sah aus, als wäre der wichtige Akt schon vollzogen, als müsste er sich davon erholen und den Moment genießen.

»Ich hab’s geschafft. Ich habe dich bekommen.«

»Und ich habe dich bekommen«, gab Soo-Ja betont lässig zurück.

Min lachte, als wäre sie eine Närrin. »Ja, genau das hast du.«

Soo-Ja war noch immer verletzt, weil Min die Unwahrheit über die Anzahl seiner Geschwister gesagt hatte. »Hast du mich noch in anderen Dingen belogen?« Sie merkte, dass sie barsch klang, aber Min schien das gar nicht zu hören. Das Thema der Unterhaltung war jedenfalls merkwürdig für eine Hochzeitsnacht.

»Ich konnte nicht riskieren, dass du kalte Füße kriegst. Wenn du gewusst hättest, dass ich fünf Geschwister habe, hättest du mich nie geheiratet.«

»Ich habe mir keine Gedanken um deine Familie gemacht. Ich habe nämlich immer gewusst, dass wir von hier weggehen und nach Seoul ziehen werden, nur wir beide«, sagte Soo-Ja und spürte das Prickeln der Vorfreude.

»Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragte Min mit seltsam metallischer Stimme. »Wir gehören hierher, zu meinen Eltern. Es ist unsere Pflicht, ihnen zu dienen.«

Soo-Ja hatte das Gefühl, als würde ihr die Luft aus den Lungen gepresst. »Aber du hast gesagt, du würdest mit mir nach Seoul gehen«, rief sie und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Damit ich meine Diplomatenausbildung beginnen kann. Du hast gesagt, du würdest mich dorthin «

»So etwas habe ich nie gesagt«, entgegnete Min ein wenig zu schnell, fast schon brüsk. »Warum sollte ich dir so etwas versprechen?«

»Ich dachte du hast doch gesagt «, stammelte Soo-Ja enttäuscht.

»Redest du von dem Brief, den mir dein Vater gegeben hat?«, fragte Min.

»Mein Vater?« Soo-Ja fiel die Kinnlade herunter. »Er hat dir den Brief «

»Ja, aber ich habe ihn weggeworfen. Solche Papiere sind gefährlich, man kann sich leicht an ihnen schneiden.«

Das Zimmer schien sich um Soo-Ja zu drehen, und sie musste sich an der Wand abstützen, um nicht umzufallen. In diesem Moment begriff sie, wie sehr sie sich in Min getäuscht hatte. Er würde sie niemals auf die Diplomatenschule gehen lassen. Er würde sie niemals in ihren Zielen unterstützen. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie in einem ganz eigenen Universum leben könnte, befreit von den Zwängen, denen alle anderen sich unterwerfen mussten. Aber sie hatte sich schwer getäuscht.

»Was hat mein Vater zu dir gesagt, als er dir den Brief gegeben hat?«, wollte Soo-Ja wissen.

»Dein Vater ist nicht wie meiner«, erklärte Min, ohne damit die Frage zu beantworten. »Wenn mein Vater einmal eine Entscheidung gefällt hat, bleibt er dabei. War es bei dir eigentlich immer schon anders? Dein Vater sagt Nein, und am nächsten Tag tut es ihm leid und er sagt Ja? Ich wette, du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man etwas nicht bekommt. Du bist dein ganzes Leben lang verwöhnt worden, das habe ich sofort gemerkt, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.« Min stieß eine weitere Rauchwolke aus. Soo-Ja wusste, wie unfair Mins Worte waren. »Außerdem kannst du es einfach nicht zugeben, wenn du verloren hast. Ich weiß noch nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Angewohnheit ist.«

»Mir war nicht klar, dass ich verloren habe«, gab Soo-Ja getroffen zurück. Sie dachte an die Nacht, in der sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. In ihrem Kopf tanzten Lichter, die sie blendeten.

»Ist es dir schon mal passiert, dass du nicht gewonnen hast?«, fragte Min.

»Du hast keine glänzende Partie gemacht. Ich bin nicht gerade eine Prinzessin«, erklärte Soo-Ja, die versuchte, wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

»Nein, aber du bist auch kein Fabrikmädchen oder Bauernkind, und mit solchen bin ich vor dir ausgegangen.«

Soo-Ja schloss die Augen. Sie konnte den Blick nicht auf ihren Mann richten. »Ich glaube, wir sollten schlafen. Wir haben eine lange Reise vor uns. Ich würde dir jetzt Gute Nacht sagen und das Licht ausschalten, aber das ist ja schon aus.«

»Schon gut, es tut mir leid«, versicherte Min halbherzig. »Vergiss, was ich zu dir gesagt habe.«

Im Dunkeln zog Soo-Ja ihre Straßenkleidung aus und den Pyjama an. Dann schlüpfte sie neben Min unter die Decke. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie konnte nicht einschlafen. Sie spürte, dass auch er wach lag. Plötzlich hörte sie einen leisen, kaum auszumachenden Ton, der klang, als wäre er aus der Kehle eines Tieres gekommen. Sie drehte sich zu Min um, und er wiederholte, was er gesagt hatte, jetzt ein wenig lauter.

»Danke«, sagte er.

»Wofür?«

Min wandte ihr den Rücken zu. »Das wirst du schon bald herausfinden.«