6

Soo-Ja betrachtete sich in erster Linie als Mutter, für den Rest der Welt aber war sie eine Schwiegertochter. Und als solche wurde von ihr erwartet, dass sie sich um alle Kinder der Familie Lee kümmerte, besonders um ihre junge Schwägerin Na-yeong, die von ihren Eltern mit allen möglichen teuren Bonbons und Süßigkeiten überschüttet wurde. Soo-Ja war sich nicht sicher, warum sie sich ausgerechnet Na-yeong als das einzige Objekt ihrer Aufmerksamkeit und Liebe ausgesucht hatten. Vielleicht weil sie eine der Jüngsten war, dachte Soo-Ja, und daher am wenigsten vom Leben gezeichnet, oder weil sie diejenige mit der kürzesten Liste an Verfehlungen war. Vielleicht war der ursprünglich Auserwählte ja Min gewesen, bis den Schwiegereltern klar geworden war, dass sie sich nicht auf ihn verlassen konnten Min war zu wankelmütig und zu aufsässig. Er gab an einem Tag sein politisches Engagement auf, fing dann am nächsten Tag mit Boxen an, nur um auch dieses Hobby wieder fallen zu lassen, und kehrte schließlich zur Fabrik seines Vaters zurück, und zwar nicht als Führungskraft, sondern als Packer. Soo-Ja fragte sich, ob ihre Schwiegereltern die Namensliste ihrer Kinder Schritt für Schritt durchgegangen waren und keinen besseren Kandidaten gefunden hatten Mins Schwester Seon-ae, die Zweitälteste, hatte das Haus verlassen und war nie wieder zurückgekommen; Chung-Ho, der Drittälteste, grollte ihnen, weil er gezwungen worden war, die Schule zu verlassen und zu arbeiten; Du-Ho war nicht sehr klug und wurde deshalb abgeschrieben; und In-Ho, der jüngste Sohn, war zu kränklich.

Als Na-yeong dann achtzehn wurde, war das also ein bedeutsamer Zeitpunkt, und ihre Eltern arrangierten ein Treffen mit einer Heiratsvermittlerin, um einen Ehemann für sie zu finden.

Von dem Tag an begann Soo-Ja, Na-yeong mit den Augen eines Bewerbers zu betrachten. Na-yeong war groß, langbeinig und nicht besonders schön, aber auch nicht unattraktiv. Sie hatte feine, fast patrizische Züge, und ihr Gesicht war nicht rund wie das ihrer Eltern, sondern länglich oval. Ihre Augen waren auch größer, und manchmal leuchteten sie. Sie sah nicht aus wie ihre Mutter, die gebräunt und robust war, sondern wie Soo-Ja anhand eines alten Fotos im Familienalbum erkannte genau wie ihre Großmutter. Na-yeongs Züge hatten eine Generation übersprungen, so als käme sie direkt aus der Vergangenheit, vielleicht aus einer langen Linie von Frauen, die genauso aussahen wie sie.

Aber Na-yeong war insofern die Tochter ihrer Eltern, als dass sie genau das gleiche Mienenspiel aufwies und wie ihr Vater niemals lachte. Man konnte auf Anhieb erkennen, dass sie Vater und Tochter waren. Soo-Ja stellte sich vor, dass sich die Charakterzüge ihres Schwiegervaters auf Na-yeongs Körper abbildeten als könnte sich das, was im Inneren eines Elternteils liegt, im äußeren Erscheinungsbild eines Kindes widerspiegeln. Der Schwiegervater hatte die Statur eines Generals und bewegte sich wie ein Baumstamm, aber in Na-yeongs dünner Gestalt konnte Soo-Ja die Leere in ihrem Schwiegervater sehen und in Na-yeongs knöchernen Armen und Beinen seine ausgeprägte Habgier.

Soo-Ja überlegte, was für eine Art von Mann sie für Na-yeong vorschlagen würde, wenn sie die Heiratsvermittlerin wäre. Auch für sie musste es einen geben, denn es gab ja für jedermann ein Gegenstück. Nur in Büchern war die Heirat ausschließlich Heldinnen vorbehalten. Im wirklichen Leben mussten auch die Cousine der Heldin und die Cousine der Cousine heiraten. Soo-Ja stellte sich für Na-yeong einen Mann nach dem anderen vor schlank, rundlich, jung, alt, reich, arm bis Na-yeong sie dabei ertappte, wie sie sie musterte. Sie wandte den Blick ab. Als die Schwägerin aber ihre Aufmerksamkeit auf eine Elster vor dem Fenster richtete, traute Soo-Ja sich wieder hinzuschauen und fragte sich, was es eigentlich war, das zwei Leute füreinander wie geschaffen machte. War es unsichtbar, wie Gas, oder für das Auge erkennbar wie Funken in der elektrischen Leitung?

Wochen ohne irgendwelche Nachrichten von der Heiratsvermittlerin gingen ins Land, bis sie endlich ankündigte, dass sie einen potenziellen Ehemann für Na-yeong mitbringen würde. Die Schwiegermutter klatschte in freudiger Erregung in die Hände, als wollte sie eine Fliege fangen, und als Na-yeong scheu von ihrem Liebesroman aufblickte, schien es Soo-Ja, als könnte sie das Schlagen ihres jungen Herzens quer durch das ganze Zimmer hören. Ihre Verwandten waren also wie sie selbst, begriff Soo-Ja, unfähig, ihre Emotionen zu verbergen und jederzeit bereit, sich auf etwas Neues zu stürzen. Wie kam es, dass sie am Ende des Tages nicht erschöpft und ausgebrannt waren, wenn doch das bloße Versprechen von Liebe sie alle in einen solchen Zustand der Ekstase hineinpeitschen konnte?

An dem Tag, als der Bewerber kommen sollte, war das ganze Haus in Aufruhr, denn sie hatten nur selten Gäste, und wenn, dann niemals bedeutsame. Alle fühlten sich wichtig wie Filmstatisten, die man erst in der Garderobe vergessen und dann endlich zu ihrem Auftritt gerufen hatte. Die Jungen wurden in ihre besten Anzüge gesteckt, und der Schwiegervater und die Schwiegermutter zogen ihre Hanboks an. Soo-Ja selbst verbrachte den Vormittag damit, süßen Reiskuchen zu backen. Sie dämpfte das Korn, bis es klebrig wurde, und zerstieß es mit dem Mörser, bis es hart war. Dann bedeckte sie den weißen Kuchen mit zerstoßenen Adzukibohnen und schnitt ihn in quadratische Stücke.

Soo-Ja beklagte sich nicht darüber, dass sie die Süßigkeiten zubereiten musste. In den Jahren seit ihrer Hochzeit hatte sie sich das angeeignet, was sie ihr äußeres Hahoe-Gesicht nannte: ernsthaft, aber nicht finster. Indem sie diese Maske überstreifte, hinderte sie andere daran, in sie hineinzuschauen und ihre Unzufriedenheit zu sehen. Unter der Maske konnte sie ihren Ärger und Frust verstecken und die Rolle der gehorsamen Schwiegertochter spielen. Für Soo-Ja war das eine Aufgabe wie jede andere auch. Wenn sie schon keine Diplomatin sein konnte, dann würde sie eben all ihre Energie und Disziplin zusammennehmen und auf den Haushalt richten.

Während ihre Schwägerin ständig irgendwelche Krankheiten simulierte, um die lästigen Pflichten zu umgehen, stand Soo-Ja ohne zu murren jeden Morgen früh auf und erledigte den Haushalt.

Als die Zeit für den Auftritt des Bewerbers gekommen war, lief sie zurück in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Sie wollte sich und ihre Tochter vorzeigbar machen. Sie wollte gerade die Tür öffnen, als sie die Schwiegermutter eilig auf sich zukommen sah.

»Der Reiskuchen ist auf dem Teller. Ich ziehe mich nur schnell um«, rief Soo-Ja ihr zu.

Aber die Schwiegermutter ging weiter, bis sie vor ihr stand. Sie sah besorgt aus. »Geh mit deiner Tochter spazieren und bleib ein paar Stunden weg.«

»Weg? Warum?« Soo-Ja stand in dem schmalen Gang zwischen dem Haupthaus und ihrem eigenen Bereich. Ihre Tochter Hana lehnte sich verspielt an ihre Beine.

»Nur, bis er wieder gegangen ist.«

Soo-Ja sah sie betroffen an. »Warum? Warum kann ich denn nicht bleiben?«

»Weil du so aussiehst.«

»Wie sehe ich denn aus?«, fragte Soo-Ja, mehr verwirrt als beleidigt.

»Wie eine arme Verwandte.«

Soo-Ja blickte auf ihre alte rosa Baumwollbluse herab, die nach vielen Wäschen ausgeblichen war. Ihr indigofarbener Rock, den man vor ein paar Jahren noch schick genannt hätte, war inzwischen aus der Mode gekommen. Es war auch schon Monate her, dass sie sich das Haar ordentlich hatte frisieren lassen; jetzt trug sie es die ganze Zeit über nach hinten gebunden.

»Draußen ist es kalt«, sagte Soo-Ja knapp und zog ihre Tochter zu sich heran. »Ich möchte nicht, dass Hana krank wird.«

»Immer suchst du nach einer Gelegenheit, um aus dem Haus zu kommen. Jetzt fordere ich dich aus einem guten Grund dazu auf, und du weigerst dich. Du bist wie der dickköpfige Frosch in der Sage, der immer das Gegenteil von dem tut, was man ihm befiehlt.«

»Ich werde in meinem Zimmer warten, bis der Bewerber gegangen ist.«

»Nein! Das Kind wird Lärm machen und den Gast stören!«

»Das Kind? Du meinst, deine Enkeltochter«, verbesserte Soo-Ja, und die Empörung wallte durch ihren Körper.

»Ja, Enkeltochter, nicht Enkelsohn. Du hast ein großes Maul für jemanden, der seine einzige Pflicht im Leben nicht erfüllt hat. Geh jetzt. Erinnerst du dich nicht mehr, was passiert ist, als du mir das letzte Mal nicht gehorcht hast?«

»Du hast mir Hana einen Tag lang weggenommen«, sagte Soo-Ja. Die Erinnerung daran brannte noch immer in ihrem Gedächtnis.

»Genau. Schauen wir doch mal, wie es dir gefällt, wenn ich eine Woche daraus mache. Aber sie ist nicht das Problem, du bist es. Du kannst sie hierlassen, wenn du willst«, schloss die Schwiegermutter, drehte sich um und eilte zum Haupthaus zurück.

Soo-Ja hätte Hana genauso wenig zurückgelassen wie sie einen Arm oder eine Hand zurückgelassen hätte. Hana ging überall mit ihr hin. Wie schade, dass Mütter keine Beutel hatten wie die Kängurus! Stattdessen sah man sie als Quasimodo-Wesen auf der Straße: Mütter mit Babys (und manchmal Kleinkindern bis zu drei Jahren) auf dem Rücken, vorgebeugt wie zweiköpfige Tiere, ein Gesicht der Vergangenheit, das andere der Zukunft zugewandt.

Hana, die der Unterhaltung gebannt gelauscht hatte und gern aus dem Haus ging, sah ihre Mutter an und wartete auf ihre Entscheidung. Ohne ein Wort zog Soo-Ja ihr den Mantel an und setzte ihr eine warme Wollmütze auf den Kopf. Sofort begann das kleine Mädchen, um sie herumzutanzen, denn sie wusste, dass immer, wenn Soo-Ja nach der Mütze griff, ein Spaziergang bevorstand.

»Ich mag Eomma, wenn Eomma mit mir rausgeht!«, rief Hana aufgeregt.

»Ich weiß, aber es ist kalt, Hana.«

»Ich mag Eomma nicht!«, protestierte Hana, weil sie dachte, die Mutter hätte ihre Meinung geändert.

»Aber gerade sagtest du doch, du würdest Eomma mögen«, entgegnete Soo-Ja im Scherz.

»Nur, wenn Eomma mit mir rausgeht!«

»Ach so, nur wenn Eomma mit Hana rausgeht?«, lächelte Soo-Ja und kniete sich vor ihr hin. »Magst du Eomma denn nicht immer?«

Hana schüttelte den Kopf. »Nein!«

»Aber Eomma mag Hana immer. Mag Hana Eomma, wenn Eomma Hana Süßkartoffeln gibt?«

»Ja!«

»Und wenn Eomma ein Lied für Hana singt?«

»Ja!«

»Dann vermute ich, muss ich die ganze Zeit mit dir rausgehen und dir Süßkartoffeln geben und dir vorsingen, wie?«

»Ja! Mach das!«

»Mach das?« Soo-Ja konnte ihr Vergnügen nicht verbergen. »Gut, dann mache ich das.«

Wie konnte ihre Tochter nur so unterhaltsam sein?, fragte sich Soo-Ja. In dem kleinen Mädchen hatte sie ihre größte Verbündete gefunden. Hana brachte sie zum Lachen und gab ihr das Gefühl, frei zu sein. Und obwohl Soo-Ja viel Zeit aufbrachte, um für sie zu sorgen, hatte sie das Gefühl, dass sie selbst den größeren Gewinn aus dem Handel zog.

Soo-Ja konnte sich das Leben ohne ihre Tochter nicht mehr vorstellen. Vom Augenblick ihrer Geburt an hatte Hana sie in Entzücken versetzt. An jedem Geburtstag dachte sie mit einem Stich im Herzen: Ach, wenn du doch nicht älter würdest. Du wirst niemals mehr so bezaubernd sein wie jetzt. Sie wollte nicht, dass ihr Kind den Babyspeck verlor. Sie würde die Rundlichkeit von Hanas Armen und ihren weichen Bauch vermissen. Sie wollte, dass Hana für immer ein Baby blieb.

Aber Babys haben ihre eigenen Methoden, um ihre Eltern zu überraschen, und so fand Soo-Ja ihre Tochter mit jedem Jahr liebenswerter. Wenn sie mit Hana zusammen war, fühlte sie sich beflügelt, konnte alles tun und sagen. Ihre Tochter, jetzt fast drei Jahre alt, schenkte ihr ein magisches Lasso, und innerhalb dieses Kreises so groß, dass nur sie beide hineinpassten fühlte sich Soo-Ja freier denn je.

»Gut, Hana, gehen wir«, rief Soo-Ja.

Auf ihrem Weg nach draußen sah sie, wie sich die ganze Familie nervös und aufgeregt im Wohnzimmer versammelte. Niemand nahm Notiz von ihr. Alle waren gefangen in den Rollen, die sie zu spielen hatten. Nur Du-Ho, der inzwischen vierzehn war und ihre Hilfe bei seinen Sugje seinen Hausaufgaben schätzte, hielt sie an und fragte, wohin sie ginge. Als sie ihm erzählte, dass sie eine dringende Besorgung machen müsse, lächelte er schalkhaft und versicherte ihr, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Er würde ihr später alles berichten und sie wissen lassen, ob der Mann hässlich war oder gut aussah, und was er anhatte. Wenn er Flanellhosen trug, sagte Du-Ho, dann würde er ihm Grimassen schneiden. Sie lächelte ihm zu und ging weiter Richtung Tür.

Als sie über den Hof lief, sah sie die Fische im trüben Lotusteich schwimmen. Es waren etwa vier oder fünf, und sie schienen genauso aufgeregt zu sein wie die Menschen im Haus. Soo-Ja lächelte und betrachtete ihre intensiven Farben und eigenartigen Formen ein gelber Koi mit langem Schwanz, einige Goldfische mit vorspringenden Mäulern, zwei Orfe mit silbernen Flossen. Die Fische waren gerade dabei, aus ihrem Gesichtsfeld zu verschwinden, als sie bemerkte, wie die ersten Schneeflocken des Winters auf dem Steinrand des Teiches landeten.

Soo-Ja schaute sich um in der Hoffnung, Du-Ho oder einen der anderen Jungen zu finden, aber sie waren alle drinnen, um ihre Anzüge zu richten und sich die Haare zu kämmen, und es war auch keiner von den Dienern zu sehen. Die Wettervorhersage hatte tatsächlich Schnee angekündigt. Soo-Ja fragte sich, warum niemand daran gedacht hatte, die Fische aus dem Teich zu holen und sie ins Haus zu bringen. Als Hana ihre geliebten Wassertiere anzulocken versuchte und mit den Fingern ihrem Zickzackweg folgte, wurde sich Soo-Ja der Tatsache bewusst, dass man die Fische anscheinend einfach sterben lassen wollte.

Ohne weiter nachzudenken, griff sie nach einem Eimer und versuchte, die Fische damit aus dem Teich zu schöpfen. Doch die Tiere waren zu wachsam und schienen ihre Bewegungen vorauszuahnen. Der Frust in ihr wuchs, da sie genau wusste, dass Na-yeongs Bewerber jeden Moment eintreffen konnte. Die Schwiegermutter würde wütend werden, wenn sie sie noch auf dem Anwesen ertappte.

Aber je eifriger Soo-Ja sich den Fischen näherte, desto schneller schienen sie sich davonzumachen. Jedes Mal, wenn sie versuchte, den Eimer aus dem Wasser zu heben, schwammen sie wieder hinaus. Oh, ihr dummen, dummen Fische, murmelte sie. Könnt ihr nicht sehen, dass ich euch retten will? Was glaubt ihr, was passiert, wenn ihr hier im Teich bleibt?

Soo-Ja stellte den Eimer neben den Teich und entschloss sich, die Fische mit der Hand zu fangen. Sie ignorierte das eiskalte Wasser, tauchte ihre ausgestreckten Hände in den Teich und wartete darauf, dass einer der Fische es sich dort gemütlich machen würde. Sie konnte die Hände kaum still halten, da ihr die Kälte direkt ins Gehirn zu dringen schien, und kämpfte gegen die Versuchung, sie wieder herauszuziehen.

Als ein Goldfisch, der faul auf dem Boden des Teiches gelegen hatte, endlich über ihrer Handfläche schwebte, schnappte Soo-Ja zu. Sie spürte, wie der Fisch wild gegen ihre Hand schlug, weil er offenbar nicht wusste, dass sie versuchte, ihn zu retten. Als könnte sie die Gedanken ihrer Mutter lesen, hob Hana schnell den halbleeren Eimer hoch und hielt ihn ihr hin, wobei sie viel Wasser ausschüttete. Soo-Ja öffnete die Hände. Der kleine Fisch zappelte eine Sekunde lang in der Luft, tauchte ins Wasser ein und schlug heftig mit dem Schwanz, bis er schließlich zur Ruhe kam. Soo-Ja wiederholte diese Prozedur mit den anderen Fischen; einer nach dem anderen kam an die Reihe. Als sie fertig war, sahen ihre Hände geisterhaft weiß aus, und sie hatte kein Gefühl mehr in ihnen.

Soo-Ja seufzte erleichtert auf, glücklich, dass alles erledigt war, bevor der Besuch kam und der Schneesturm einsetzte. Aber gerade als sie sich anschickte, endlich den Hof zu verlassen, hörte sie, wie das Tor geöffnet wurde. Ein gut aussehender Mann in den Dreißigern in westlicher Kleidung kam eilig auf sie zu. Er hatte überraschend langes Haar mit einem Pony, der leicht über eines seiner Augen fiel, und eine gesunde braune Gesichtsfarbe, die nahelegte, dass er von weit her kam und viel Zeit in den Bergen verbracht hatte. Er lächelte aufgeregt und verbeugte sich tief. Soo-Ja verbeugte sich ebenfalls und wusste sofort, dass er Iseul war, Na-yeongs potenzieller Ehemann.

»Komme ich zur falschen Zeit? Ich dachte, ich wäre früh dran, aber vielleicht bin ich zu spät, weil ich sehe, dass Sie ungeduldig geworden sind und beschlossen haben zu gehen«, begann Iseul.

Soo-Ja begriff, dass er sie mit Na-yeong verwechselte. Sie schaute hinüber und sah, dass die Heiratsvermittlerin noch am Tor stand und mit dem Taxifahrer feilschte, der sie in seinem Senara hergebracht hatte.

»Sie verwechseln mich mit Nams Tochter«, erklärte ihm Soo-Ja und versuchte, eine Ausrede zu erfinden, um verschwinden zu können. »Ich bin seine Schwiegertochter.«

»Ich glaube Ihnen nicht. Vielmehr denke ich, Sie haben meine schreckliche Visage gesehen und ihre Meinung geändert«, neckte Iseul sie. »Und jetzt wollen Sie irgendeine hässliche Cousine bitten, sich für Sie auszugeben.«

»Und was denken Sie, wer das ist?«, fragte Soo-Ja ungeduldig und deutete auf Hana, die sich hinter dem Rücken ihrer Mutter versteckte.

»Irgendein Kind, auf das Sie aufpassen!«, erwiderte Iseul und kratzte sich an den Armen.

In diesem Augenblick erschienen die Schwiegermutter und Na-yeong. Beide sahen entsetzt aus, als sie Soo-Ja und Iseul miteinander sprechen sahen. Soo-Ja öffnete den Mund und versuchte, die passenden Abschiedsworte zu finden, um unauffällig gehen zu können.

Bevor Soo-Ja jedoch ein Wort sagen konnte, wurde sie von der Heiratsvermittlerin unterbrochen. Die alte Frau war endlich dazugekommen, nachdem sie einige Münzen aus dem Handel mit dem Taxifahrer in die eigene Tasche gesteckt hatte.

»Ich sehe, dass Sie Mins Mutter und ihre liebenswerte Tochter Na-yeong bereits kennengelernt haben«, sagte die Heiratsvermittlerin, wobei sie Soo-Ja vollkommen übersah. »Meine Herrschaften, das ist der Bewerber, von dem ich Ihnen in den höchsten Tönen vorgeschwärmt habe. Er stammt aus einer wunderbaren Familie, die Eigentum in Seoul besitzt, und er ist ein erfolgreicher Ingenieur!«

Die Vermittlerin verstummte auf der Stelle, als sie den finsteren Blick der Schwiegermutter sah. Der Bewerber schaute auf Na-yeong, die wahre Heiratskandidatin, und sein Lächeln erstarb. Na-yeong bemerkte es und sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Soo-Ja hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst.

Der junge Mann wandte sich an die Schwiegermutter und verbeugte sich. Seine anfängliche Begeisterung war wie weggeblasen.

»Es tut mir leid. Ich habe einen dummen Fehler begangen. Ich bin geehrt, Sie kennenzulernen, liebe Mutter von Min.«

Da sie nicht wusste, was sie sagen oder tun sollte, senkte Soo-Ja den Kopf und schickte sich an, die anderen zu verlassen. Aber bevor sie nur einen einzigen Schritt machen konnte, richtete der Bewerber das Wort an sie.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte er verwirrt.

»Ich muss gehen. Ich muss wirklich los«, sagte Soo-Ja und hob den Eimer mit den Fischen an.

»Nein, Sie müssen zum Tee bleiben«, entgegnete Iseul, nahm ihr den Eimer aus der Hand und stellte ihn zurück auf den Boden.

»Sie muss gehen! Lassen Sie sie gehen!«, blaffte die Schwiegermutter. »Kommen Sie herein, bevor die Äpfel sauer und braun werden.«

Aber Iseul wollte nicht gehorchen. »Ich erwarte, dass die ganze Familie anwesend ist«, sagte er bestimmt. »Was ist das denn für ein erstes Treffen, wenn nicht alle da sind? Versuchen Sie vielleicht, etwas zu verbergen?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte die Schwiegermutter mit einem gezwungenen Lächeln.

»Dann gehen wir alle hinein«, bestimmte er.

Soo-Ja versuchte noch einmal zu entkommen, aber der junge Mann ergriff ihren Arm und wies mit der rechten Hand den Weg, ganz als wäre er der Gastgeber und sie der Gast. Er ging den ganzen Weg bis zum Haus neben ihr, übersah die Schwiegermutter und schenkte auch Na-yeong keinerlei Beachtung. Soo-Ja schaute sich nach Hana um und sah, dass diese den Eimer mit den Fischen genommen hatte und ihn jetzt mit ins Haus brachte.

Im Wohnzimmer waren zwei Serviertabletts mit Tee, Reiskuchen und Birnenschnitzen auf dem Boden angerichtet eins für die Erwachsenen und eins für die Kinder. Soo-Ja bemerkte den überraschten Blick auf dem Gesicht des Schwiegervaters, als er sie zurückkommen sah. Er musste jedoch sein Erstaunen überspielen, als er den Besucher empfing. Auch die Jungen schauten verwirrt drein, als sie Soo-Ja und Hana sahen; nur Du-Ho lächelte und bejubelte im Stillen ihre Anwesenheit.

Nach einer Reihe von Verbeugungen zwischen Gästen und Gastgebern setzte sich Iseul schließlich auf eine Matte und forderte Soo-Ja auf, neben ihm Platz zu nehmen. Widerwillig folgte sie, weil sie wusste, dass sie andernfalls nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Sie setzte sich und schickte Hana zu den Jungen an den kleinen Tisch. Die Schwiegermutter plumpste auf der anderen Seite ihres Gastes nieder, während der Schwiegervater gegenüber von Soo-Ja platziert wurde. Na-yeong und die Heiratsvermittlerin, die das Quadrat vervollständigten, saßen am weitesten vom Bewerber entfernt.

»Iseul, Sie haben noch kein Wort mit Na-yeong gesprochen«, säuselte die Heiratsvermittlerin. »Haben Sie jemals eine solche Schönheit gesehen? Ich wusste sofort, dass Sie ein elegantes Paar abgeben würden.«

»Nennen Sie sie doch nicht eine ›Schönheit‹, liebe Heiratsvermittlerin. Es ist zu viel für sie, diesem Anspruch gerecht zu werden. Wer kann einem solchem Druck schon standhalten?«, entgegnete der junge Mann. Er wirkte ziemlich zufrieden mit sich selbst, als hätte er soeben etwas sehr Kluges gesagt. Den verärgerten Blick im Gesicht der Schwiegermutter oder die Scham in Na-yeongs Augen sah er nicht.

»Habe ich schon erwähnt, dass Ihre Tierkreiszeichen hervorragend zueinander passen?«, fuhr die Heiratsvermittlerin fort, als hätte Iseul nichts gesagt. »Sie sind Pferd und Na-yeong Hund.«

»Zu welchem Tierkreiszeichen gehören Sie, Mutter von Hana?«, wollte Iseul wissen und wandte sich dabei an Soo-Ja. Als sie den bewundernden Blick sah, den er ihr zuwarf, verstand sie, warum die Schwiegermutter sie während seines Besuches aus dem Haus hatte verbannen wollen.

»Ich bin Tiger und mein Mann ist Hase«, entgegnete Soo-Ja rasch, aber geduldig. Sie betete darum, dass Na-yeong nicht merken würde, wie Iseul sie anstarrte. Aber als Soo-Ja zu ihrer Schwägerin hinüberschaute, wurde ihr das Herz schwer. Na-yeong kämpfte mit den Tränen und verbarg das Gesicht.

Iseul schien den subtilen Austausch von Blicken zwischen Soo-Ja und Na-yeong zu bemerken. Er schüttelte den Kopf, als wollte er sich selbst bestrafen, und nahm die Hand der Schwiegermutter in seine. »Aber mit dem ganzen Gerede über Tiere habe ich den wirklichen Zweck meines Besuches vergessen.«

Das Gesicht der Schwiegermutter hellte sich auf. »Es gibt keinen wirklichen Zweck für diesen Besuch. Meine einzige Sorge ist, dass Sie sich gut unterhalten.«

»Wenn ich Na-yeong nicht genügend Aufmerksamkeit erweise«, fuhr Iseul fort, »dann nicht deswegen, weil ich sie nicht bezaubernd fände. Aber die Braut ist nur die eine Hälfte der Angelegenheit. Die andere Hälfte ist die Familie.«

Die Heiratsvermittlerin nickte. »Es ist sehr klug von Ihnen, das zu erkennen. Und ich kann Ihnen versichern, dass die Familie Lee wahrhaftig außergewöhnlich ist.«

Iseul warf ihr einen skeptischen Blick zu.

»Sie müssen das sagen. Sie werden doch von ihnen bezahlt.«

Die Heiratsvermittlerin prustete los. Es klang wie ein mädchenhaftes Lachen, war in Wirklichkeit aber eher ein Tadel. Die Schwiegermutter lachte ebenfalls, als versuchte sie, seine Bemerkung als einen Scherz hinzustellen.

»Ich sollte jemanden fragen, der objektiv ist. Jemanden, der nichts daraus zu gewinnen hat«, beschloss Iseul. Dann wandte er sich theatralisch an Soo-Ja. »Vor nicht allzu langer Zeit waren Sie in derselben Lage wie ich. Was halten Sie von dieser Familie? Sind Sie glücklich darüber, dass Sie hineingeheiratet haben?«

»Ich bin nicht sicher, was Sie damit meinen«, wich Soo-Ja ihm aus, weil sie Zeit gewinnen wollte. Sie wusste, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Und sie wusste auch, welche Lüge von ihr erwartet wurde: Das ist eine wunderbare Familie.

»Ich habe doch eine einfache Frage gestellt«, wunderte sich Iseul, der jetzt ein wenig ungeduldig wirkte. »Ich will wissen, ob Sie mir empfehlen, diese Familie als meine Familie anzunehmen.«

Soo-Ja blickte sich um. Ihre Schwiegermutter schien sie mit ihren Blicken töten zu wollen, und Na-yeong sah aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden.

Aber Soo-Ja war einfach nicht in der Lage, auf eine direkte Frage hin zu lügen. »Es tut mir leid, Iseul, aber ich kann das nicht beantworten.«

Damit entschuldigte sie sich und stand auf. Sie schnappte sich Hana und den Fischeimer und verließ das Zimmer, wohl wissend, dass der junge Mann nicht viel länger bleiben und trotz der Anstrengungen der Schwiegermutter wahrscheinlich nie zurückkommen würde.

Die Strafe dafür kam schnell.

Noch am selben Abend betrat Soo-Ja ihr Zimmer und entdeckte, dass jemand in ihren Sachen gewühlt hatte. Als sie ihre Schubladen öffnete und hineinschaute, sah sie, dass ihre Kosmetiktasche verschwunden war. Sie fragte sich, ob vielleicht einer der Jungen sie genommen hatte, um ihr einen Streich zu spielen.

Nachdem sie Hana ins Bett gebracht hatte, beschloss sie, die Schwiegermutter aufzusuchen und sie zu fragen, ob die ihre Schminksachen gesehen hatte. Soo-Ja traf sie in ihrem Wohnbereich an. Sie saß auf dem Boden und bürstete Na-yeong die langen, seidigen Haare. Das Zimmer der Schwiegermutter war eins der größten im Haus und das einzige mit einem Spiegel. Dieser Spiegel, oval und mit einem Rahmen aus Kirschbaumholz versehen, stand auf einer großen, mit Bildern von Drachen verzierten Eichentruhe, die der ganze Stolz der Schwiegermutter war, vermutlich wegen der papierdünnen Intarsien aus Stierhorn. Dadurch wirkte die Truhe, als bestünde sie gänzlich aus dem durchscheinenden Stierhorn, obwohl es tatsächlich nur die äußerste Schicht war.

»Eomeonim, ich frage mich, ob ich eine Sekunde deine Aufmerksamkeit haben könnte?«, bat Soo-Ja, nachdem sie sich eingangs verbeugt hatte. Sie saß vor ihrer Schwiegermutter, berührte dabei mit den Knien den Boden und mit dem Gesäß die Fußgelenke. Das war unbequem, aber die richtige Haltung für eine wohlerzogene junge Dame.

»Aber nur einen Moment. Ich gehe bald ins Bett. Es war ein anstrengender Tag«, sagte die Schwiegermutter, wobei sie die Augen die ganze Zeit über auf ihrer Tochter ruhen ließ.

»Ich wollte nur wissen, ob du dir vielleicht mein Schminkzeug ausgeliehen hast«, erkundigte sich Soo-Ja mit verhaltener Stimme.

»Dein Schminkzeug? Warum gehst du mir mit deinem Schminkzeug auf die Nerven?«, entgegnete die Schwiegermutter und schaute noch immer auf die eigene Tochter. »Bei einem unverheirateten Mädchen sehe ich, warum sie ihr eigenes Schminkzeug braucht. Nämlich, um sich für ihre Verehrer attraktiv zu machen. Aber eine verheiratete Frau? Wozu braucht eine verheiratete Frau Schminksachen?«

Soo-Ja zwang sich, nichts darauf zu erwidern, sondern zog nur die Augenbrauen hoch. »Ich habe heute übrigens kein Make-up aufgelegt«, erklärte sie.

»Ach so? Vielleicht, weil du dich für so schön hältst, dass du es nicht nötig hast?«, fragte die Schwiegermutter und schaute zum ersten Mal auf.

Soo-Ja setzte sich auf dem Boden zurecht und versuchte, ruhig zu bleiben.

»Was hast du mit meinem Schminkzeug gemacht? Hast du irgendetwas damit gemacht?«

»Und wenn es so wäre?«

»Es war meins. Ich habe es mit meinem eigenen Geld gekauft, und zwar bevor ich Min geheiratet habe«, entgegnete Soo-Ja, die innerlich brodelte. »Es war aus Europa, aus Paris. Sehr teuer. Ich habe es sparsam benutzt, damit es länger hält, weil ich wusste, dass ich sehr lange kein neues bekomme. Gib es mir bitte zurück.«

Die Schwiegermutter sah sie voller Abscheu an. »Solange du in meinem Haus lebst, wirst du kein Make-up tragen. Dein Gesicht soll sein, wie Gott es geschaffen hat.«

Dann langte die Schwiegermutter in ihr Bandaji und holte Soo-Jas Schminktasche heraus. Sie schleuderte sie ihrer Schwiegertochter entgegen.

»Es tut mir leid, dass es mit Iseul so unglücklich gelaufen ist«, sagte Soo-Ja ruhig. »Aber das gibt dir nicht das Recht, meine Sachen zu nehmen.«

Die Schwiegermutter funkelte Soo-Ja wütend an, während Na-yeong still zusah. »Du hast keine Angst vor mir. Warum nur? Ich rede oft mit meinen Freundinnen. Ihre Schwiegertöchter erstarren in Furcht vor ihnen. Aber du, du hast überhaupt keine Angst vor mir.«

»Warum sollte ich? Du bist doch kein Bär.«

»Und wieso hast du keine Angst vor deinem Schwiegervater? Die Art, wie du mit ihm sprichst so lässig, fast schon unverschämt.«

»Ich sehe nicht ein, warum ich ihn wie einen Gott behandeln soll, nur weil er als Mann geboren wurde.«

»Ich wusste, dass du eine schlechte Schwiegertochter abgeben würdest, aber ich habe nicht erwartet, dass du so schlecht bist.«

Plötzlich riss die Schwiegermutter Soo-Ja die Schminktasche wieder aus der Hand und nahm einige Kosmetikartikel heraus. Dann zog sie den Lippenstift aus dem Zylinder, den Deckel von der Puderdose und die Borsten von der Mascarabürste, flink wie ein Kind. Sie war vollkommen auf ihr Werk konzentriert und schaute nur gelegentlich auf, um zu sehen, ob Soo-Ja es wagen würde, einzuschreiten. Na-yeong beobachtete das Treiben mit einem Anflug von Überraschung und einer Nuance von Bedauern auf dem Gesicht, denn all diese Dinge hätten ihr gehören können ja, müssen. Schließlich trat Soo-Ja vor und packte einige Stifte und Lippenstifte, die sich ihre Schwiegermutter noch nicht vorgenommen hatte. Doch die versuchte, ihrer Schwiegertochter die Kosmetika gewaltsam aus den Fingern zu winden, und schlug ihr auf den Arm.

»Hör auf damit!«, rief Soo-Ja.

Aber die Schwiegermutter schlug weiter. Dabei beugte sie sich nach vorn und verlagerte das Gewicht so ungeschickt, dass sie sich mit den Armen und Händen auf Soo-Ja abstützte. Als diese zurückwich, um den Schlägen zu entkommen, verlor die Schwiegermutter das Gleichgewicht, fiel um und schlug mit dem Kopf auf den Boden. Sie stieß einen lauten Schmerzensschrei aus.

Durch den Aufruhr alarmiert, traten der Schwiegervater und die Jungen ins Zimmer. Min kam einige Sekunden später. Soo-Ja erkannte sofort, was für ein Bild sich den Verwandten bot: die Schwiegermutter, die sich den Kopf rieb und dabei die Augen in offensichtlichem Schmerz verdrehte; Soo-Ja Feindin, Angreiferin, Schurkin , die über ihr stand, zwar ohne jede Waffe, aber mit ihren starken Händen.

»Sie hat mich geschlagen! Sie hat mich geschlagen!«, schrie die Schwiegermutter.

»Das ist nicht wahr!«, rief Soo-Ja. »Es war ein Unfall.«

»Deinetwegen bin ich gestürzt! Weil du mich geschlagen hast!« Die Schwiegermutter hämmerte mit den Händen auf den Boden, wie eine Frau, deren Körper von einem bösen Geist besessen war. »Aigo meah! Oh Gott!«

Alle Augenpaare richteten sich daraufhin nicht etwa auf Soo-Ja, sondern auf Min, um zu sehen, wie er darauf reagieren würde. Soo-Ja schaute ihn an, als wäre er ein wenig mitschuldig an der Sache, und erwartete, dass er seine Mutter fragte, ob es auch wirklich kein Unfall gewesen sei. Immerhin war er ihr Ehemann, und sie ging davon aus, dass er ihr zur Seite stand. Aber stattdessen blickte er sie hasserfüllt an.

»Warum bist du so gemein zu meiner Mutter?«, rief Min. Er packte Soo-Jas Arm und schüttelte sie. »Ich weiß, was hinter verschlossenen Türen vor sich geht! Wenn ich dabei bin, bist du freundlich zu ihr, aber wenn ihr alleine seid, wirst du ausfällig. Tja, dieses Mal bist du erwischt worden.«

Soo-Ja sah ihn ungläubig an und wandte sich dann Na-yeong zu in der Erwartung, ihre Schwägerin würde bezeugen, dass es ein Unfall gewesen war und sie niemals Hand an die Schwiegermutter gelegt hatte, im Gegenteil sogar von ihr geschlagen worden war. Aber Na-yeong sagte nichts, und die Männer starrten Soo-Ja voller Wut an.

»Vater von Hana, du glaubst ihr doch nicht?«, fragte Soo-Ja. »Ich habe sie nicht geschlagen.«

Min antwortete nicht. Er erspähte eine Schere auf dem Boden nahe der Nähkiste und bückte sich, um sie aufzuheben. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hielt er Soo-Ja stumm die Schere vor die Nase. Mit den Augen verfolgte sie, wie die scharfen Klingen durch die Luft schnitten. Die anderen wichen zurück aus Angst, zufällig gestochen zu werden.

Wenn du mich niederstichst, wird mein Tod langsam und qualvoll sein, dachte Soo-Ja.

Dann reagierte Du-Ho, indem er rasch Mins Hände packte und ihm die Schere wegnahm. Soo-Ja bemerkte, dass Min die Schere freiwillig losließ, als hätte er nur auf jemanden gewartet, der ihn entwaffnete.

Jetzt, wo er die Hände wieder frei hatte, griff Min nach seiner Frau und schleifte sie den ganzen Weg zurück in ihr Zimmer. Erst als sie dort waren, ließ er schließlich ihren Arm los, und zwar mit einer solchen Gewalt, dass sie fast zu Boden fiel.

Soo-Ja setzte sich hin und rieb sich die schmerzende Stelle. Wütend schaute sie Min an. »Hast du denn nicht den Wunsch, meine Version der Geschichte anzuhören?«

Min lief im Raum auf und ab und strich dabei mit der Faust über die Wand. »Warum musstest du auch mit Na-yeongs Bewerber flirten? Wenn du mit mir nicht zufrieden bist, warum machst du dich nicht an den Milchmann ran, oder an den Sohn des Gärtners?«

Soo-Ja merkte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. »Weil ich nicht so bin wie du, Min. Ich halte nichts davon, mit dem Personal zu schlafen.«

Min ballte die Fäuste und hielt sie Soo-Ja vors Gesicht. Zitternd starrte er sie an, als würde er gerade all seinen Mut zusammennehmen, um sie zu schlagen.

»Min, wenn du Hand an mich legst, werde ich dich töten. Ich werde ein Messer aus der Küche holen und es dir ins Herz stechen.«

Mins Augen weiteten sich, und er schlug stattdessen auf die Wand ein. Der Knall war so laut, dass Soo-Ja zusammenzuckte. Sie horchte, ob Hana im Zimmer nebenan aufwachen würde. Das Geräusch war jedoch nicht laut genug gewesen, um den Schlaf ihrer Tochter zu unterbrechen.

Wie vom Schlag ermattet setzte Min sich neben Soo-Ja auf den Boden. Er sah aus wie ein fieberkranker Mann.

»Ich werde dich nicht schlagen, Soo-Ja. Ich bin nicht mein Vater.«

Sie sah ihn von der Seite an, vorsichtig, stupste ihn mit ihren Worten wie mit einem Stock. »Dein Vater hat deine Mutter geschlagen?«

Min lachte. »Er hatte dafür sogar ein spezielles Zimmer.« Er lehnte den Kopf gegen die Wand. »Wir mussten es leerräumen, alle Möbel raus. Dann hat er unsere Mutter hineingezerrt und sie verprügelt. Sie versuchte, ihm zu entkommen, aber er setzte ihr nach, immer im Kreis herum. Und wenn er sie eingefangen hatte, schlug er sie. Dann fiel sie um, stand wieder auf und rannte weiter im Kreis, und so ging es fort, bis Vaters Finger müde waren. Selbst wenn ich mich von dem Zimmer fernhielt, konnte ich sie noch hören, und ich konnte ihre Schatten durch die Papiertüren sehen.«

»Wolltest du mir das heute auch antun?«, fragte Soo-Ja. Draußen vor der Tür heulte der Wind, und der Schnee fiel zu Boden. Bis zum Morgen würde alles unter der weißen Masse aus Kristallen und Pulver begraben sein. »Vertrau mir, ich habe nicht mit Iseul geflirtet.«

»Nein, du hast etwas viel Schlimmeres getan.« In Mins Stimme lag eine Gewissheit, die Soo-Ja bekümmerte. Sie fragte sich, ob noch etwas anderes passiert war.

»Wenn du Iseul gesehen hättest, würdest du das nicht behaupten.«

»Ich habe Iseul gesehen«, sagte Min, der ihr das Wort abschnitt. »Ich bin ihm über den Weg gelaufen, als er das Haus verließ. Er nahm mich zur Seite und sagte zu mir, ich solle besser auf dich aufpassen.«

»Wie kommt er dazu?«, fragte Soo-Ja verwirrt und schaute Min in die Augen.

Min erwiderte ihren Blick. »Er meinte, er hätte beobachtet, wie du die Fische aus dem Teich geholt hast. Es hätte so ausgesehen, als wären deine Hände fast erfroren.«

Soo-Ja legte sich eine Hand auf die Stirn und rieb sich die Schläfen. Also war der Bewerber doch nicht zu spät gekommen. Er hatte am Tor gestanden und sie die ganze Zeit über beobachtet. Sie fragte sich, warum er ihr nicht zu Hilfe gekommen war.

»Warum machst du solche Sachen? Damit die Leute dich bedauern?«, fragte Min.

»Ich wusste überhaupt nicht, dass er da war.«

»Er sagte, du hättest wohl ein schlechtes Los mit deinem Ehemann gezogen. Stimmt das, Soo-Ja? Hast du ein schlechtes Los gezogen?«, wollte Min von ihr wissen.

In seiner Stimme hörte Soo-Ja eine Art Verzweiflung, die sie ihm nie zugetraut hätte. Anscheinend wünschte er sich, sie würde entgegnen: Ja, so ist es, damit er weiter mit ihr kämpfen konnte, sie anschreien und anklagen, weil sie undankbar sei. In seinen Worten hörte Soo-Ja tiefe Schuldgefühle und Frust von der Größe eines Ozeans. Denn er kümmerte sich nicht um sie, wie es sich für einen Ehemann gehörte. Er wusste nicht, wie.

Soo-Ja war es zum Weinen zumute. Sie schloss die Augen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Ich habe ein gutes Leben, Min. Sorge dich nicht um mich.«

Am Anfang war es nicht so schlecht gewesen. In der ersten Woche ihrer Ehe prahlten Soo-Jas Schwiegereltern mit ihrer neuen Schwiegertochter. Sie liebten es, die anderen daran zu erinnern, dass ihr Vater eine der ersten modernen Schuhfabriken Koreas aufgebaut hatte. Die Schwiegermutter nahm Soo-Ja mit auf den Markt und stellte sie allen Ladeninhabern vor, bei denen sie einkaufte. Soo-Ja bemerkte bald, dass ihre Schwiegermutter schon zuvor von ihr erzählt hatte und sie an diesem Tag mitbrachte, weil man so oft nach ihr gefragt hatte.

Aber schon damals machte Mins Mutter ihrer Schwiegertochter das Leben schwer. Sie ließ Kommentare fallen wie: »Deine Hüften sind sehr schmal, das ist nicht gut, um Babys zur Welt zu bringen.« Oder sie lächelte höhnisch und sagte: »Deine Hände sind so weich. Hast du jemals in deinem Leben einen Finger krumm gemacht?« Wie vielen Frauen ihrer Generation war der Schwiegermutter eine hübsche Schwiegertochter nicht willkommen. Schönheit bedeutete Ärger, und Mütter, deren Söhne attraktive Frauen geheiratet hatten, verfluchten oft die Eheschließung. Die ideale Schwiegertochter war von unauffälligem Aussehen, hatte grobe Hände und breite Hüften.

Als Soo-Ja schwanger war, betete die Schwiegermutter jede Nacht vor einem kleinen Schrein, den sie im Hof aufgebaut hatte, um einen Enkelsohn. Sie hielt sich an all die überlieferten Vorschriften, von denen man glaubte, dass sie die Geburt eines Jungen begünstigten. Soo-Ja durfte nicht rennen, nicht lesen oder zu viele Stufen hinaufgehen. Die Schwiegermutter ließ keine Besucher an sie heran und duldete auch keine Gespräche über ernsthafte Themen. Sie verbot ihr, enge Kleider zu tragen, und hielt verdorbenes oder rohes Fleisch von ihr fern. Interessanterweise erstreckten sich die Einschränkungen aber nicht auf Soo-Jas häusliche Pflichten als Schwiegertochter. Noch immer musste sie die Böden schrubben so sauber, dass man darauf sitzen, essen und schlafen konnte , und sämtliche Kleider der Familie waschen, wovon ein großer Teil weiß war und täglich gereinigt werden musste. Diese Tätigkeiten, erklärte die Schwiegermutter, hätten keinerlei Einfluss auf das Geschlecht des Babys.

Als Hana geboren wurde, waren Soo-Jas Schwiegereltern tief enttäuscht. Die Schwiegermutter riss die Chilischoten herunter, die sie am Eingang des Hauses aufgehängt hatte, und baute den kleinen Schrein im Hof ab. Ein Mädchen war wie Gras: Man trampelte darauf herum. Von Min als dem Ältesten wurde erwartet, einen Sohn zu zeugen und so den Bestand der Familie zu sichern. In seinen Augen und in den Augen der Familie hatte Soo-Ja ihre Pflicht versäumt.

Von diesem Tag an begann ihre neue Familie, sie anders zu behandeln. Gelegentlich erinnerten die Verwandten sie jedoch daran, dass sie, sollte sie wieder schwanger werden und einen Sohn gebären, einen besseren Stand im Haus haben würde. Aber Soo-Ja konnte sich nicht überwinden, ein weiteres Kind mit Min zu bekommen. Eins war genug, beschloss sie. Ihrer Meinung nach mussten Kinder aus Liebe geboren werden und nicht aus der Notwendigkeit heraus. Außerdem hatte sie ja schon ihre Tochter, und obwohl niemand dem Mädchen irgendeinen Wert zuschrieb, glaubte Soo-Ja, dass Hana ein Segen war und tausendmal besser als jeder Junge.

Soo-Ja war gerade damit beschäftigt zu bügeln, als der Schwiegervater unerwartet in ihr Zimmer kam. Seine Anwesenheit erschreckte sie ein wenig, weil er sie sonst nie besuchte. Er ließ die Papiertüre hinter sich zugleiten und nahm ihr gegenüber Platz, ohne vorher zu fragen, ob er eintreten könne. Damit zeigte er, dass auch dieses Zimmer ihm gehörte. Wie gewöhnlich setzte er weder ein Lächeln auf noch änderte er seinen starren Blick. Soo-Ja hatte schon früh begriffen, dass er seine Autorität der Tatsache verdankte, dass es ihm egal war, ob andere ihn mochten. Er hatte von der Notwendigkeit, geliebt zu werden, abgelassen in derselben Art, wie einige Mönche die körperliche Liebe oder reichhaltiges Essen aufgaben , und das machte ihn unverwundbar. Während der Rest der Welt mühsam um Zuneigung kämpfte, blieb er gleichgültig, ohne je etwas von anderen zu wünschen oder zu brauchen. Für ihn war Liebe eine Art Schwäche; erst wenn man sich von ihr trennte, war man fähig, so genau und präzise zu arbeiten wie man wünschte.

»Wie komme ich zu der Ehre deines Besuches, Abeonim?«, fragte Soo-Ja und stellte das Bügeleisen so ab, dass es Hana, die neben ihr die Kleider zusammenfaltete, nicht im Weg stand.

Der Schwiegervater schaute auf seine Enkelin, lächelte aber nicht, so als fragte er sich, was sie dort eigentlich machte. »Ich sorge mich um dich. Ich beobachte, was in diesem Haus geschieht, und sehe, dass du nicht glücklich bist.«

»Nein, nein, ich bin vollkommen zufrieden. So ist das Eheleben nun mal, es kann kein Zuckerschlecken sein.«

»Aber du und ich, wir wissen beide, dass deine Tage hier viel angenehmer sein könnten.«

Soo-Ja wandte das Gesicht ab. »Ich will nicht mehr schwanger werden. Lass einen deiner anderen Jungen heiraten und einen Sohn bekommen.«

»Deswegen bin ich nicht gekommen. Die zukünftige Generation bereitet mir wenig Kopfzerbrechen. Mir geht es mehr um Rechnungen und Heizkosten und darum, dass niemand auf meine Kosten lebt.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich dich verstehe.«

»Lass es mich so erklären: Wenn du Gast in einem Gasthaus wärst, würdest du dann erwarten, dort leben zu können, ohne zu bezahlen?«, fragte der Schwiegervater.

Soo-Ja starrte auf seine dunkle lederne Haut und bemerkte, dass die Falten um Augen und Kinn herum ihm das Aussehen einer Bulldogge verliehen. »Denkst du etwa, ich lebe auf deine Kosten?«, fragte Soo-Ja und runzelte die Stirn.

»Ich sehe, dass du trotz all der Schulen, die du besucht hast, nicht viel weißt. Tatsächlich weißt du vielleicht sogar weniger als ein Straßenbettler. Ein Bettler weiß wenigstens, dass er betteln muss, sonst hat er nichts zu essen. Du hingegen scheinst anzunehmen, dass du überhaupt nichts zu tun brauchst. Du denkst, du wirst immer ein Dach über dem Kopf haben und dein Reis wird wie durch Zauberhand erscheinen.«

»So denke ich überhaupt nicht«, erwiderte sie. »Mein Vater hat mir eine Mitgift gegeben, damit ich meinen Schwiegereltern nicht zur Last falle.«

Doch der Schwiegervater höhnte: »Deine Mitgift ist weg. Aufgebraucht.«

Soo-Ja schnappte nach Luft. »Weg? Wie kann eine so große Summe einfach weg sein?«

»Streite nicht mit mir. Wenn ich sage, dass sie weg ist, ist sie weg.«

Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen. Aber ein Wort genügte, und er konnte sie einfach so vor die Tür setzen. Und falls er das tat, würde es sich in der Stadt herumsprechen und die Schande würde auf ihren Vater zurückfallen. Nein, sie musste durchhalten. Sie musste hier erfolgreich sein, als Ehefrau und Schwiegertochter. Ihre Eltern durften nur hören, dass alles bestens war. Überhaupt mussten sie glauben, dass sie glücklich war. Die Verpflichtung ihnen gegenüber war Soo-Jas härtester Lehrmeister, ließ sie Schmerzen ertragen und Dinge durchstehen, von denen sie nicht geglaubt hatte, dass sie es könnte. Der Hass auf ihre Schwiegereltern trieb sie an, aber dieses Gefühl war unbedeutend gegenüber der Pflicht, ihre eigenen Eltern stolz zu machen.

»Was willst du von mir?«, fragte Soo-Ja schließlich, in der Hoffnung, sie könnte den wachsenden Frust unterdrücken.

Der Schwiegervater verzog zufrieden das Gesicht, und ihr wurde klar, dass er diese Frage von Anfang an hatte hören wollen. »Du musst von deinem Vater mehr Geld verlangen. Und dieses Geld musst du mir bringen.«

Soo-Ja sah ihn an wie vom Donner gerührt. In diesem Augenblick begriff sie, dass man sie hinsichtlich des Familienvermögens getäuscht hatte. Die ersten Zweifel hatte sie bekommen, als sie die Kleiderschränke in den dürftig ausgestatteten Zimmern bemerkte. Im Gegensatz zu den antiken Nong und Bandaji im Haus ihres Vaters, die eine dunkle, dekorative Maserung von Zelkove oder Dattelpflaume aufwiesen, hatten die Schränke und Truhen in Mins Haus rostige Beschläge und waren aus Holz mit gewöhnlicher Maserung wie Kastanie oder Birnbaum gemacht. Sogar die Kleider, die sie trugen, schienen billig. Die Hanboks der Schwiegermutter und die von Na-yeong waren nicht aus glänzender Seide, sondern aus matter Ramiefaser. Zudem fehlten ihnen Kleinigkeiten wie die Einfassungen am Ärmelaufschlag.

»Wie könnte ich ihn um Geld bitten?«, fragte Soo-Ja stirnrunzelnd. »Hat er dir nicht schon genug gegeben?«

»Sei dir bewusst, dass ich dich jederzeit hinauswerfen kann, ohne jeden Grund«, bellte der Schwiegervater. »Niemand wird sich großartig darüber wundern, und wenn doch jemand fragt, kann ich sagen, dass du faul warst oder schmutzig oder dass du zu viel getrunken hast. Alle wären auf meiner Seite, und das weißt du.« Soo-Jas Augen brannten vor Wut. Sie dachte an die Schande, die sie über ihre Eltern bringen würde. »Sei dir im Klaren darüber, dass von heute an alles, was du isst, und jedes Kleidungsstück, das du trägst, meiner Großzügigkeit geschuldet sind. Ich werde genau Buch darüber führen, und für jeden Tag, der verstreicht, wird deine Schuld größer und größer werden. Und ich werde von deinem Vater mehr und mehr verlangen können.«

Manchmal, wenn Soo-Ja auf dem Markt Lebensmittel kaufen musste, hielt sie an einem Zeitungskiosk und überflog die Schlagzeilen der Chosun Ilbo. Das Militär, das vor zwei Jahren die Macht übernommen hatte, war nun endlich bereit, die Regierungsgewalt aus der Hand zu geben. Bequemerweise entpuppte sich der vom Volk gewählte Kandidat als derselbe Mann, der zuvor den Staatsstreich inszeniert hatte, Chung-Hee Park. Seine Amtseinführung sollte in Kürze stattfinden.

Während Soo-Ja ihren Korb mit Gerste und getrocknetem Seetang füllte, fragte sie sich, was sie jetzt wohl täte, wenn sie tatsächlich Diplomatin geworden wäre. Vielleicht würde sie gerade dem Botschafter von Uganda gegenübersitzen, in einer leichten blauen Seersucker-Jacke mit großen Knöpfen, einer weißen Seidenbluse und einem frisch gebügelten marineblauen Bleistiftrock, der eng an der Taille anlag. Sie würde der internationalen Gemeinschaft die Bedeutung des Wahlausgangs erläutern: »Es ist zwar nicht ideal, aber er zeigt, dass unser Land Richtung Freiheit marschiert. Südkorea beweist damit, dass es verdient, in die Vereinten Nationen aufgenommen zu werden. Allein in den letzten zwei Jahren haben wir diplomatische Beziehungen zu fünfunddreißig Nationen aufgenommen und werden uns von Russlands Blockadebemühungen nicht beirren lassen.«

Mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen begab Soo-Ja sich auf den Heimweg. Unterwegs machte sie noch einen Abstecher zum Haus ihres Vaters, um ihre Familie zu besuchen. Ihrer Schwiegermutter erzählte sie nie von diesen Umwegen, weil sie wusste, dass sie sie deswegen anschreien würde.

Die Schwiegermutter war ohnehin der Ansicht, dass Soo-Ja dort zu viel Zeit verbrachte. »Dein neues Heim ist hier bei uns. Du lebst dort nicht mehr. Hör auf, sie so oft zu besuchen. Liebst du sie denn mehr als uns?«, fragte sie immer.

Ohne die Worte ihrer Schwiegermutter zu beachten, nahm Soo-Ja zusammen mit Hana den Bus nach Won-dae-don und ging zum Haus ihrer Eltern. Je näher sie kam, desto leichter wurde ihr ums Herz. Dies war ihr wahres Heim, das wusste sie tief in ihrem Inneren. Sie hatte kaum das Tor durchschritten, als sie schon die lauten Freudenschreie ihrer Brüder hörte, und dann kam ihre Mutter, die sich beschwerte, weil sie das gute Geschirr herausholen musste.

Soo-Jas Mutter nahm Hana bei der Hand und führte sie ins Haus, wo der Vater im Wohnzimmer saß und wartete. Er war milder geworden, seit Soo-Ja das Haus verlassen hatte. Es hatte ihrem Verhältnis gutgetan, sich nicht mehr täglich sehen zu müssen vielleicht war dies das Geheimnis so mancher harmonischer Vater-Tochter-Beziehung.

Soo-Ja bedeutete Hana, ihm ein Küsschen auf die Wange zu geben, und dann wechselten sich Hana und ihr Großvater damit ab, sich gegenseitig mit Küssen zu überdecken.

»Hana, wer ist das?«, fragte Soo-Ja lebhaft.

»Großpapa!«, antwortete Hana.

»Liebt Hana den Großpapa?«

»Ja!«

»Wie sehr liebt Hana den Großpapa?«

Hana runzelte die Stirn und wurde plötzlich sehr ernst. »Zu sehr!«

Soo-Ja lachte über den Ernst ihrer Tochter. »Zu sehr? Das ist aber viel. Liebt Hana den Großpapa mehr als Süßigkeiten?«

Das kleine Kind schien für einen Moment in Gedanken versunken, als müsse es eine ungemein wichtige Entscheidung treffen. Schließlich nickte Hana bedeutsam.

»Großpapa ist eine Süßigkeit!«

Soo-Ja lachte. »Großpapa ist eine Süßigkeit? Willst du ihn etwa essen? Yan, yan, yan?«

»Ja!« Hana lächelte verlegen und tat dann so, als würde sie kauen, wobei sie Soo-Ja nachahmte: »Yan, yan, yan.«

Die Mutter schnitt eine Melone in Scheiben und servierte sie mit Tee, eine Geste, die in Soo-Ja das traurige Gefühl erweckte, dass die Schwiegermutter recht hatte: Sie war tatsächlich ein Gast in ihrem eigenen Haus geworden.

»Ach, wenn ich daran denke, was ich alles verpasst hätte, wenn ich in den Westen gezogen wäre«, bemerkte Soo-Ja.

»Du könntest noch immer Diplomatin werden, weißt du«, sagte der Vater mit einem Unterton von Schuldgefühlen in der Stimme. Soo-Ja lag eine bittere Entgegnung auf der Zunge, aber dann entschloss sie sich, sie herunterzuschlucken. Sie wusste, dass die Bemerkung des Vaters so gut wie eine Entschuldigung war, nach seinen Maßstäben jedenfalls. Sie beobachtete, wie er ein Bein über das andere schlug und die Arme auf dem Knie abstützte. »Deine Mutter und ich könnten tagsüber auf Hana aufpassen.«

»Ach, Appa, du weißt doch, dass Min und seine Eltern das niemals zulassen würden.«

»Warum lässt du dich dann nicht scheiden?«

Soo-Jas Mutter starrte ihren Ehemann an. »Bring sie doch nicht auf solche Ideen! Nicht einmal im Scherz.«

»Ja, Vater, du hast Mutter gehört: Nicht einmal im Scherz!«, spottete Soo-Ja.

Soo-Jas Mutter steckte sich eine Zigarette an. Als Hana das sah, ging sie zu ihrer Großmutter und versuchte, ihr das Feuerzeug wegzunehmen.

»Dein Vater vermisst dich sehr«, fuhr die Mutter fort. »Du solltest sehen, wie er abends weint. Er macht all deine Bilder nass mit seinen Tränen.«

»Du wirst altersmilde, Appa«, sagte Soo-Ja ruhig. »Aber es ist ja nicht so, dass ich gestorben oder fortgezogen wäre. Ich wohne gar nicht weit weg, und ich komme auch immer wieder auf einen Besuch vorbei.«

»Ich weine nicht bloß, weil ich dich vermisse. Ich weine aus Sorge um dich«, sagte der Vater und versuchte, Soo-Jas plötzliche Stille zu überbrücken. »Wenn du eine gute Partie gemacht hättest, könnte ich ja ruhig bleiben. Aber du in diesem Haus bei diesen Leuten «

»Es ist wirklich an der Zeit, dass sie reifer wird«, bemerkte die Mutter. »Eine Frau ändert sich, wenn sie ein Kind hat.«

Der Vater schüttelte den Kopf. Seine Miene glich der eines Mannes, der sich Tag und Nacht an seinem Kunstwerk abgemüht hatte und dann zusehen musste, wie es ruiniert wurde. »Ich habe so oft mit dir gestritten, weil ich wollte, dass du ein gutes Leben hast. Vielleicht hätte ich dich einfach tun lassen sollen, was du für richtig hieltst.«

»Appa, es ist gut so. Auf dieser Welt gibt es nichts Vollkommenes. Es könnte doch alles noch viel schlimmer sein.« Soo-Ja dachte über die Forderung ihres Schwiegervaters nach. Natürlich würde ihr Vater ihr das Geld geben. Sollte sie jetzt danach fragen?

Aber bevor sie das Thema anschneiden konnte, unterbrach die Mutter wiederum. »Sie hat recht. Schau nur auf ihre Freundin Jae-Hwa. Schau, wie sie leben muss.«

»Was meinst du damit?«, wollte Soo-Ja von ihr wissen.

»Hat Jae-Hwa dir nichts gesagt?«, fragte der Vater.

Soo-Ja fühlte sich einen Augenblick lang schuldig. Sie hatte monatelang nicht mit Jae-Hwa gesprochen, da sie vollauf mit dem Haushalt und mit Hana beschäftigt gewesen war. Jae-Hwa war einmal bei ihr vorbeigekommen, aber Soo-Ja war nicht zu Hause gewesen. Die Schwiegermutter hatte ihr davon berichtet, und Soo-Ja hatte sich vorgenommen, den Besuch zu erwidern. Aber sie hatte es nie getan.

»Sang-Kyus Mutter lebt gegenüber von ihnen auf der anderen Straßenseite. Sie sagt « Die Stimme der Mutter versagte.

»Was sagt sie?«, fragte Soo-Ja. »Ist Jae-Hwa nicht glücklich mit ihrem Ehemann?«

»Er schlägt sie«, platzte der Vater heraus.

»Was? Wie lange geht das schon so?«, wollte Soo-Ja wissen.

»Seit sie aus den Flitterwochen zurückgekommen sind. Ständig ist er besoffen, und dann beschimpft er sie. Babo. Byeongsin«, murmelte Soo-Jas Mutter. Sie zog fest an ihrer Zigarette und stieß eine große Rauchwolke aus. Dann stellte sie das Radio an, und die klagende Stimme einer alten Frau erfüllte das Zimmer mit einer Ballade.

Mein Bruder, der Musiker, ist so gemein zu mir!

Immer reizbar, immer in Eile, immer verlogen.

Warum musst du mir mein Essen stehlen?

Du stiehlst mein Fleisch und lässt mir nur die Sojabohnen!

Warum lässt du mich stundenlang allein?

Als lebte ich mit einem Landstreicher.

Soo-Ja erinnerte sich daran, wie sie Jae-Hwa kennengelernt hatte. Damals war sie acht Jahre alt gewesen. Die füllige Jae-Hwa war neu in ihrer Schule und hatte mittags allein in einem Verschlag in der Toilette gegessen. Als Soo-Ja das bemerkte, überredete sie Jae-Hwa, sich neben sie an den Tisch zu setzen. Bald waren die beiden unzertrennlich, und Soo-Jas Vater bezeichnete Jae-Hwa scherzhaft als Duljjae Ttal, Tochter Nr. 2.

»Ich muss Jae-Hwa helfen«, sagte Soo-Ja zerstreut und überlegte, wie sie das anstellen könnte.

»Nein. Halt dich da raus, Soo-Ja«, erwiderte die Mutter scharf. »Es ist ihr Leben.«

»Wir müssen es Jae-Hwas Eltern erzählen.«

»Sie wissen es«, widersprach die Mutter.

»Und was werden sie tun?«, wollte Soo-Ja wissen.

»Das, was alle Eltern tun. Den Kopf in den Sand stecken und nicht darüber reden.« Als hätte die Mutter die Gedanken ihrer Tochter gelesen, fügte sie hinzu: »Und es wäre schrecklich unhöflich, wenn jemand ihnen gegenüber das Thema ansprechen würde. Dann würden sie für den Rest ihres Lebens das Gesicht verlieren.«

»Was ist mit der Polizei?«

»Die Polizei würde nie in Privatangelegenheiten eingreifen.«

»Aber irgendetwas muss man doch tun!«, rief Soo-Ja.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf und drückte ihre Zigarette in einem runden, silbernen Aschenbecher aus. »Schau, wie du dich aufregst. Und wo warst du, als Jae-Hwa damals bei dir war? Warum meinst du, ist sie gekommen? Um sich ein paar Chilischoten zu borgen?«

»Ich kann nicht, Soo-Ja. Ich habe schon mit meinen Eltern gesprochen. Sie denken, ich sollte hierbleiben«, sagte Jae-Hwa mit beinahe zitternder Stimme. Soo-Ja saß neben ihr auf dem Boden, mitten in dem kleinen, fensterlosen Zimmer. Obwohl es ähnlich aussah wie in ihrem eigenen Schlafzimmer rosa Matten und Kissen, Papierrollen mit Kalligraphie an den Wänden, ein großer Perlmuttschrank mit Bildern von Kranichen –, wirkte die Umgebung beklemmend, als würde das Zimmer während der Nacht Jae-Hwas Unglück aufsaugen und es nun am Tage wieder ausstoßen.

»Hier bleiben bei einem Verrückten? Was ist das denn für ein Rat?«, fragte Soo-Ja und konnte ihren Ärger nicht verhehlen.

»Ich habe auch mit meinen Brüdern und Schwestern geredet. Sie haben Angst, meine Eltern zu beleidigen, wenn ich zu ihnen ziehen würde. Ich kann also nirgends hin«, erklärte Jae-Hwa.

»Dann wohnst du halt bei meinen Eltern.«

Jae-Hwa schüttelte den Kopf. »Soo-Ja, du weißt, wie die Leute eine getrennt lebende Frau behandeln. Niemand würde mehr eine Tasse Tee mit mir trinken oder mir auch nur in die Augen schauen. Es wäre schrecklich, eine Art Ausgestoßene zu sein.«

Soo-Ja lehnte sich enger an Jae-Hwa und griff nach ihren Armen. Dann krempelte sie den Pullover hoch, sodass sie die Haut ihrer Freundin sehen konnte, und zuckte zusammen. Jae-Hwas Arme waren mit violetten und grünen Blutergüssen bedeckt.

»Wann kommt Chul-Moo zurück?«, wollte Soo-Ja wissen.

Bevor Jae-Hwa antworten konnte, fiel die Eingangstür krachend ins Schloss und sie erstarrten. Jae-Hwas Ehemann war gekommen. Er schob die Tür zu ihrem Zimmer auf und schaute die Frauen an. Noch immer trug er die weiße Baumwollmaske über dem Mund. Soo-Ja sah die Furcht einflößende Brutalität in seinen Augen, wollte sich aber keine Angst einjagen lassen.

»Sag deiner Frau Auf Wiedersehen. Sie packt gerade, um ein paar Tage bei meinen Eltern zu bleiben«, erklärte Soo-Ja mit höflicher Stimme, die gleichzeitig deutlich machte, dass diese Angelegenheit nicht verhandelbar war.

Hinter ihr griff Jae-Hwa nach einer wattierten Bettdecke und breitete sie auf dem Boden aus. Dann begann sie, ihre Kleider darauf zu legen, wobei sie genug Platz nach außen ließ, um später die Ecken zusammenbinden zu können.

»Jae-Hwa, komm her und massier mir den Nacken«, rief Chul-Mo, ohne Soo-Ja weiter zu beachten. »So kann ich besser einschlafen.« Dann begann er, sich vor ihr auszuziehen, bis er nur noch die lange Unterhose anhatte, die er unter seinem Straßenanzug trug.

»Bitte tu nicht so, als hättest du mich nicht gehört«, sagte Soo-Ja. Sie übersah seine Unverschämtheit ihr gegenüber, denn sie wusste, dass er sie nur aus der Fassung bringen wollte.

»Sorge für deinen eigenen Ehemann, Ajumma«, bellte Chul-Moo. »Bevor er losgeht und anderen Frauen Babys macht.«

Er breitete eine Matte auf dem Boden aus und legte sich hin, ohne Jae-Hwa, die noch immer ihre Sachen packte, eines Blickes zu würdigen.

»Ich kann dir versichern, dass meine Eltern sie sehr gut behandeln werden«, entgegnete Soo-Ja trocken. Sie war nicht imstande, ihre Verachtung für ihn zu verbergen. »Bestimmt bist du sehr um das Wohlergehen deiner Frau besorgt.«

»Jae-Hwa, lass den Unsinn und komm rüber zu mir«, befahl Chul-Moo, ohne sich um Soo-Ja zu kümmern.

Jae-Hwa schüttelte trotzig den Kopf. Aber als sie die Ecken der Bettdecke zusammenfaltete, zögerte sie. Die Kleider darin waren für sie fast zu schwer zum Tragen. Jae-Hwa legte die Hände auf die Seidenhülle. Das Gewebe war an einer Stelle eingerissen, sodass man die dicken, zusammengerollten Fasern sehen konnte, die als Polsterung dienten.

»Jae-Hwa!«, knurrte Chul-Moo. Soo-Ja konnte sehen, wie die Angst in ihrer Freundin aufstieg. Chul-Moos Stimme klang wie die eines Löwen, tief und kehlig. »Wo auch immer du hingehen wirst: Irgendwann werden sie dich nicht mehr sehen wollen. Denn du bist eine fade Frau, die nicht kochen kann. Dann wirst du auf Knien zurückkommen und mich anbetteln, dich wieder aufzunehmen. Aber bis dahin werde ich mich lange ausgeruht haben, und meine Hände werden stark genug sein, um dir eine ordentliche Tracht Prügel zu verpassen. Bleib lieber hier, dann bekommst du die Schläge nach und nach, nicht alle auf einmal.«

Soo-Ja war drauf und dran, ihm die wenigen verbliebenen Haare vom Kopf zu reißen. »Jae-Hwa verdient etwas Besseres als dich. Wie kannst du nur so mit ihr reden?«

Chul-Moo stand von der Matte auf und zeigte mit dem Finger auf sie. »Pass gut auf. Du magst Gast in meinem Haus sein, aber Gäste haben in meinem Haus keine Rechte!«

»Und was willst du tun? Willst du mich vielleicht auch schlagen?«, fragte Soo-Ja so scharf wie die Klinge eines Messers. Mit jeder Silbe hob sie die Stimme. »Überleg mal, was die Polizei sagen wird, wenn du die Frau eines anderen Mannes schlägst!«

Chul-Moo zögerte, obwohl der Zorn in seinen Augen glühte. Soo-Ja konnte ihn spüren wie eine heiße Nadel.

»Jae-Hwa, kannst du nicht sehen, dass deine Freundin bloß neidisch ist?«, fragte Chul-Moo und klang nun viel freundlicher. »Ja, ich bin vielleicht manchmal wütend auf dich, aber was geschieht dann? Was geschieht, wenn du aufgehört hast zu weinen und ich dich tröste? Niemand sieht, wenn du dich für mich öffnest wie eine Blume und fröhlich kicherst. Mit einem einzigen Blick auf deine Freundin kannst du sehen, dass sie nicht dieselbe Liebe von ihrem eigenen Ehemann erfährt. Sie möchte nicht, dass du glücklich bist, darum kommt sie hierher, um sich einzumischen und dir den einzigen Mann wegzunehmen, den du hast.«

Jae-Hwa, die den Kopf gesenkt gehalten hatte, während ihr Mann sprach, sah schließlich auf. Sie schien bleich, schwerelos, farblos. Soo-Ja wusste, was passieren würde, wenn ihre Freundin bei ihm bliebe. Sie würde eine der Geisterfrauen des Ortes werden, mit toten Augen und hängenden Schultern.

»Jae-Hwa«, sagte Soo-Ja und hielt ihr die Hand. »Es gibt ein besseres Leben für dich. Ich kann es dir nicht beweisen, du musst es mir einfach glauben. Nicht alle sind gemein. Ich habe genug Schönheit und Freundlichkeit in der Welt gesehen, um zu wissen, dass nicht jeder Mann böse zu seiner Frau ist. Es gibt gute Männer da draußen. Bitte glaube mir.«

Soo-Ja sah, wie Jae-Hwa ihr Bündel fallen ließ, und wusste, dass ihre Freundin nicht mit zum Haus ihrer Eltern kommen würde. Sie hatte versagt. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, dass Jae-Hwas Mann still triumphierte, auch wenn sie bei ihm einen Hauch von Angst spürte. Er wusste, wie nah er daran gewesen war, seine Frau zu verlieren. Aber solche Feinheiten waren nicht entscheidend. Jae-Hwa würde bei ihm bleiben, und das war das Ende der Geschichte. Alles, was Soo-Ja noch tun konnte, war Hana abzuholen, die bei ihren Eltern auf sie wartete, und nach Hause zurückzukehren.

Soo-Ja umarmte Jae-Hwa ein letztes Mal. Als ihre Wangen sich berührten, konnte sie die Feuchtigkeit unter ihren eigenen Augen spüren. Schnell wischte sie die Tränen beiseite und nickte dann resigniert. Sie musste Jae-Hwa zurücklassen. Aber warum empfand sie darüber so viel Traurigkeit, wo doch ihr eigenes Leben so desolat war? War sie wirklich so viel besser dran als Jae-Hwa?

Was ist der wirkliche Grund dafür, dass ich ihr helfen wollte? Hege ich insgeheim vielleicht die Hoffnung, dass ich mich auch selbst retten kann, wenn ich meine Freundin retten kann? Und was bedeutet es dann, dass ich versagt habe?

Soo-Ja stand auf. Vom langen Sitzen auf dem Boden tat ihr der Rücken weh. Als sie die Tür öffnete und hinaustrat, um nach ihren Schuhen zu sehen, wurde sie von der eisigen Luft überrascht, die von allen Seiten auf sie einpeitschte. Es war später, als sie gedacht hatte. Das Gefühl, um diese Zeit noch unterwegs zu sein, verlieh der ganzen Situation etwas Unwirkliches; es kam ihr vor, als würde die echte Soo-Ja noch bei ihren Eltern sitzen, mitten in Won-dae-don, während die andere Soo-Ja ziellos durch die Gegend irrte.

Sie war noch nicht weit gegangen, als jemand ihren Namen rief. Er klang ungewohnt, um diese Uhrzeit, aus beklommener Kehle. Sie drehte sich um und sah Jae-Hwa auf der Treppe ihres Hauses stehen, unbeweglich wie eine Säule, wie Lots Frau, die es gewagt hatte, zurückzuschauen. Jae-Hwa hatte keinen Mantel an und zitterte leicht.

»Er erlaubt mir nicht, meine Kleider mitzunehmen«, sagte sie endlich; eine Silbe nach der anderen schien ihren Lippen zu entschlüpfen. »Er meint, das ist unnötig, da ich sowieso bald zurückkomme.«

Soo-Ja fühlte, wie die Erleichterung sie wieder aufrichtete, dann lächelte sie und streckte Jae-Hwa die Hand hin. Die zögerte und ging dann langsam auf sie zu. Als Jae-Hwa schließlich vor ihr stand, zog Soo-Ja ihren eigenen Mantel aus und legte ihn ihrer Freundin um die Schultern. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie beim Haus von Soo-Jas Eltern ankamen.

Als Soo-Ja nach Hause kam, sah sie Mins Silhouette an der Tür stehen. Es machte sie betroffen, wie jungenhaft und dünn er wirkte. Wenn sie einen Minirock trüge und ihr Haar mit einem Stirnband zurückbände, sähe sie dann auch aus wie ein junges Mädchen? Waren sie beide in Wirklichkeit Teenager, die nur so taten, als wären sie erwachsen? Würde eines Tages ein echtes Ehepaar mit schweren Mänteln und Wollschals vorbeikommen, ihnen dafür danken, dass sie auf ihr Kind aufgepasst hatten, und ihnen Hana wegnehmen, zusammen mit ihrer Heiratsurkunde? Und würden sie und Min dann einander zunicken, das Haus verlassen und in verschiedene Richtungen auseinandergehen, als wären sie bloß Kandidaten in einer Radiosendung gewesen? Wäre sie erleichtert und würde sentimental auf das ganze Abenteuer zurückblicken? Oder würde sie das Leben ohne Min und ihre Schwiegereltern als unerträglich mühelos, fast schon als sinnlos empfinden? Bei ihnen hatte sie schließlich gelernt, selbst die kleinsten Geschenke zu würdigen wie die geliebte halbe Stunde Ruhe am Morgen, bevor das Haus erwachte, wenn der Tag noch vielversprechend vor einem lag. Oder den Anblick der friedvoll schlafenden Hana. Oder irgendeine der tausend anderen Überraschungen, die den Tag durcheinanderbrachten wie die Freundin, die vor Dankbarkeit geweint und geflüstert hatte: »Ein besseres Leben Ja, ein besseres Leben will ich haben.«

»Wo warst du so lange?«, fragte Min. »Was ist passiert?«

»Ziemlich viel«, sagte Soo-Ja bloß und schlüpfte hinter ihm vorbei wie ein Windhauch, die schlafende Hana in den Armen.

»Hast du mit deinem Vater gesprochen?«

Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er meinte. Natürlich musste der Schwiegervater Min über seine Pläne informiert haben. Soo-Ja fragte sich, wie Min reagiert hatte. Wahrscheinlich hatte er die Wünsche seines Vaters einfach hingenommen, so wie immer.

»Nein«, entgegnete Soo-Ja knapp. »Ich habe ihn nicht um ein Darlehen gebeten. Dazu hatte ich keine Gelegenheit. Und das ist auch am besten so. Ich hätte nicht einmal darüber nachdenken sollen, meinen Vater um mehr Geld zu bitten.«

Min folgte ihr ins Zimmer. Er schien gedankenverloren. Aus der Nähe wirkt er ganz anders, dachte Soo-Ja. Er trug einen blauen Pullover mit einer hellgelben Weste darüber und Hosen, die am Knöchel etwas zu kurz waren, sodass seine langen Unterhosen hervorschauten.

»Wir müssen unsere Gläubiger bezahlen, Soo-Ja. Die Lage ist sehr ernst. Wenn wir unsere Schulden nicht begleichen, werden sie uns die Fabrik nehmen«, sagte er.

Soo-Ja begann, ihre Matten und Decken für die Nacht herzurichten. Sie vermied es, Min anzusehen, konnte aber auf der Haut spüren, wie sein Blick auf ihr lag.

»Dein Vater hätte genug Geld, um seine Gläubiger zufriedenzustellen, wenn er die Fabrik nicht so heruntergewirtschaftet hätte«, bemerkte sie.

»Ja, mein Vater ist schrecklich und dein Vater ist perfekt. Sind wir etwa im Kindergarten? Wirst du nicht müde, dieses kindische Spiel zu spielen? Mein Vater ist jetzt auch dein Vater«, erwiderte Min und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Wenn die Fabrik den Bach runtergeht, kannst du auch woanders eine Anstellung finden. Ich kann in einem Laden oder in einem Restaurant arbeiten und meine Mutter bitten, tagsüber auf Hana aufzupassen«, sagte Soo-Ja nüchtern und bürstete einige verstreute Wollfasern von der Bettdecke.

»Nein, Soo-Ja. Wenn wir die Fabrik schließen müssen, wird alles sehr viel schlimmer werden. Weißt du, was mit Männern passiert, die ihre Darlehen platzen lassen?« Er machte eine Pause, um ihrem Blick zu begegnen. »Sie kommen ins Gefängnis.«

»Dein Vater hat andere bestohlen, um die Fabrik am Laufen zu halten. Ich weiß, dass er nie vorhatte, jemandem sein Geld zurückzuzahlen.«

In diesem Augenblick sah sie einen Schatten auf Mins Gesicht fallen, und ihr wurde klar, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Als er sprach, konnte sie die Furcht in seiner Stimme hören. »Soo-Ja, letzten Monat, als die Schwierigkeiten überhandnahmen, hat mein Vater die Fabrik auf jemand anderen übertragen auf mich. Wenn einer ins Gefängnis muss, dann ich.«

Soo-Ja sah Min erschrocken an. Sie hatte gedacht, dass sie ihn nicht liebte, aber vielleicht irrte sie sich ja. Wie sonst konnte sie sich den Schlag in die Magengrube erklären, den sie jetzt empfand, die plötzliche Übermacht an Emotionen, von denen sie gepackt wurde? Wie konnte der Schwiegervater seinem eigenen Sohn das antun? Und warum wehrte Min sich nicht, schrie ihn nicht an? »Dein Vater ist ein widerlicher Mann.«

»Ich würde trotzdem für ihn ins Gefängnis gehen«, erklärte Min prahlerisch.

Soo-Ja ließ die Bettdecken auf den Boden fallen. »Nein, nein, du kannst ihn doch jetzt nicht noch verteidigen!«

»Was er gemacht hat, war vollkommen richtig. Ich bin der Älteste, deshalb gehört mir, was auch ihm gehört. Das Gute und das Schlechte.«

»Aber das ist es doch gar nicht«, erwiderte Soo-Ja und schüttelte den Kopf. »Kannst du denn nicht sehen, was er getan hat?«

»Ja, aber ich versuche mit aller Kraft, darüber hinwegzusehen. Er ist mein Vater. Ich möchte lieber denken, was ich denke, und ein Dummkopf sein, als ein Mann zu sein, der «

»Der einen Lumpen zum Vater hat«, schnitt sie ihm das Wort ab.

Sie standen sich jetzt gegenüber; Min zappelte herum und Soo-Ja war wie erstarrt, den Blick auf ihn gerichtet. Min verteidigte seinen Vater nicht. Soo-Ja konnte erkennen, dass es sogar ihm dem ergebensten aller Söhne schwerfiel, mit dem Verhalten seines Vaters umzugehen. Der Vater behandelte Min, als könnte er über sein Leben verfügen, ihn je nach Bedarf ausnutzen oder verstoßen. Und Min begehrte nie dagegen auf. Sie fragte sich, ob er tief in seinem Innersten wirklich glaubte, dass er nur ein bloßes Anhängsel seines Vaters war und sein Leben nur so viel Wert aufwies, wie es dem Alten nutzte.

»Willst du, dass ich meinen Vater um Geld bitte?«, fragte Soo-Ja.

Min blickte sie an, und sie sah Hoffnung in seinen Augen aufleuchten. Aber nur wenige Sekunden später beobachtete sie, wie seine Pupillen sich verdunkelten und sein Kiefer sich anspannte. Zu ihrer Überraschung schüttelte er den Kopf, und vor ihr entfaltete sich ein außerordentliches Naturschauspiel: Ein menschliches Wesen veränderte sich. Sie fragte sich, ob wenige Sekunden genügten, um alte Gewohnheiten abzuwerfen, sie wie hart gewordene Erde zu lockern und durch die einsickernden Tropfen der Spontaneität und all der Dinge, die das Leben so kompliziert machen, zu ersetzen. Sie konnte die Anspannung in ihrem Ehemann spüren, während er alte Gedanken hinter sich ließ und nach neuen Ausschau hielt. Sie konnte beobachten, wie er ein anderer Mensch wurde oder es wenigstens versuchte, indem er aus dem Schatten seines Vaters hinaustrat und sich einen eigenen suchte.

»Ich will nicht, dass du mit deinem Vater redest«, sagte Min. »Zuerst wollte ich das ich habe den ganzen Abend auf dich gewartet, um zu fragen, ob du es getan hast. Aber jetzt will ich es nicht mehr. Ich kann dich nicht in diese Lage bringen. Ich kann dich nicht auf diese Weise benutzen.«

Soo-Ja nickte und fühlte, wie eine Welle der Zärtlichkeit sie umspülte. »Wenn du es einem Richter erklären würdest, wer weiß, vielleicht «

»Ich kann die Entscheidung meines Vaters nicht infrage stellen. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll Es wäre ungehorsam.« Er sah ihr in die Augen, um zu prüfen, ob sie ihn verstand. Sie nickte. »Er darf nicht wissen, dass ich weiß, was er macht. Weil er dann sein Gesicht verlieren würde. Ich würde ihn schlecht aussehen lassen, und das wäre schlimmer als ins Gefängnis zu gehen. Das kann ich ihm nicht antun.«

Soo-Ja fragte sich, ob Min sich im Geheimen wünschte, dass sie doch mit ihrem Vater spräche, aber aus eigenem Entschluss und nicht auf seine Aufforderung hin. Sie suchte in seinem Gesicht nach Zeichen dafür, fand aber keine, sehr zu ihrer Erleichterung. Sie konnte ihren Vater nicht darum bitten. Der Schwiegervater hatte nämlich gelogen; das Darlehen, das er verlangte, war alles andere als gering. Erst, als Min ihr die Einzelheiten des Bankrotts erklärte, erkannte sie, was der Schwiegervater wirklich wollte: Soo-Jas Vater sollte die gesamte Schuldenlast übernehmen. Die Höhe der Summe brachte sie vollkommen aus der Fassung.

Als sie sich in dieser Nacht auf ihre Matten legten (obwohl der Schlaf erst viel später kam), empfand Soo-Ja zum ersten Mal, dass sie wirklich Ehemann und Ehefrau waren. Sie standen auf derselben Seite, teilten eine Entscheidung, sie waren eine Einheit. Zusammen hatten sie entschieden, nicht mit Soo-Jas Vater zu reden nicht als Kompromiss, sondern als Übereinkunft , und die Konsequenz daraus lastete auf ihnen beiden. In diesem Augenblick hatte Min seine Freiheit verloren, aber ihre Dankbarkeit und vielleicht sogar ihre Liebe gewonnen. Sie konnte sehen, dass er mit diesem Geschäft gut leben konnte. Außerdem war er ja noch nicht im Gefängnis, es war noch nicht alles verloren. Sie hatten in ihrem Leben genügend Filme gesehen, um zu wissen, dass eine Rettung nicht unmöglich war. Die Geschichte würde sich gerade lang genug hinziehen, dass der Held und die Heldin sich näherkommen konnten.

»Also, wo warst du heute Abend? Was ist passiert?« In Mins Stimme lag keine Schuldzuweisung.

Soo-Ja blickte fest geradeaus auf die Zimmerdecke. Wäre das Dach weggeblasen worden, hätte sie die Sterne sehen können. »Ich habe einer Freundin geholfen. Ich habe versucht, ihr aus einer schlechten Ehe herauszuhelfen.«

»Warum ist die Ehe denn schlecht?«

»Ihr Mann ist nicht freundlich zu ihr. Aber sie hat Angst, ihn zu verlassen, darum habe ich versucht, ihr zu helfen.«

»Denkst du, ihr Mann weiß, dass sie gehen will?«

»Ich glaube, Ehemänner wissen so was immer, nicht wahr? Sie wissen doch über alles Bescheid«, gab Soo-Ja zurück.

»Und Ehefrauen auch? Wissen Ehefrauen eigentlich, was ihre Ehemänner gerade denken?«

»Ja. Beide wissen Bescheid übereinander. Aber manchmal ziehen sie es vor, nichts zu sagen. Weil sie glauben, dass Dinge sich ändern können.«

»Und, haben sie recht?«, fragte Min. »Können Dinge sich wirklich ändern?«

»Vielleicht, wenn beide sich Mühe geben «

Min schwieg einen Augenblick. Sie konnte hören, wie seine Brust sich hob und senkte. Als er schließlich zu sprechen begann, fielen seine Worte so friedlich zu Boden wie ein Tautropfen, der auf ein Blatt kullert. »Es tut mir leid«, erklärte er, und mehr brauchte er nicht zu sagen.

Zu ihrer Überraschung erkannte sie, dass sie ihm schon längst vergeben hatte.