FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL

 

Chester saß auf seiner Veranda und sah wie die Pickups mit Beamten des Innenministeriums und der Universität und Männer in weißen Plastikanzügen über seinen Grund und Boden wieselten. Er glaubte nicht, dass ihre tollen Messgeräte und Bildschirme und Radargeräte brauchbare Beweise für irgendetwas erbringen würden. Alles, was noch übrig war, war ein verdammtes Loch in der Erde. Alles andere, was das Alien berührt hatte, war getrocknet, zerbröselt und schließlich verschwunden. Trotzdem wusste Chester, dass die gottverdammte Regierung jede Gelegenheit nützen würde, um in die Schlagzeilen zu kommen.

Sie würden versuchen, ihn von seinem Land zu vertreiben und seine Farm zum Katastrophengebiet zu erklären, aber er hatte ihnen schon unmissverständlich klar gemacht, dass er nicht freiwillig von hier weggehen würde. Sie müssten schon einen Panzer über seinen Arsch rollen lassen, um ihn aus seinem alten Schaukelstuhl zu vertreiben. Sie könnten ruhig im Dreck buddeln, die Bäume untersuchen und das Wasser im Bach stauen, solange sie wollten, aber Chester würde sich zumindest für die kommenden paar Wochen keinen Zentimeter von seinem Bauernhof wegbewegen. Er wollte einfach in seinem Schaukelstuhl schaukeln, in die Leere starren und alles wieder vergessen.

Die Invasion von Aliens konnte einen alten Kerl wie ihn schon hernehmen.

Er hob den schwarzgebrannten Schnaps an seine aufgesprungenen Lippen. Er hatte noch ein paar Flaschen von Don Oscars Edelbrand, aber er würde sich bald einen neuen Lieferanten suchen müssen. Er würde Don Oscar vermissen.

Zu seinen Füßen saß ein zufriedener Welpe. Der Kleine war zwar nicht Boomer, aber Chester dachte sich, dass jeder andere genauso gut war wie sein stinkender Hund mit Hängeohren. Chester hatte ihm Juniors zurückgelassene Schuhe überlassen, damit er daran kauen konnte, um seine jungen Kiefer abzuhärten.

Das Telefon läutete. Chester hatte es auf die Veranda gestellt, falls Tamara anrufen sollte. Er mochte ihre Stimme, vor allem, wenn sie nicht in seinem Kopf herumspukte.

»Hallo«, sagte er.

»Chester. Ich bin´s, Emerland. Hör mir zu. Was würdest du zu vier Millionen sagen?«

»Ich habe dir schon zehnmal gesagt, dass ich nicht verkaufe. Und dabei bleibt es.«

Emerland hatte sich beide Beine gebrochen, als während der Explosion ein Baum auf ihn gestürzt war. Tamara und Chester hatten den halben Morgen gebraucht, um ihn wegzutragen, während er sich beklagte und jammerte und bei jedem Schritt drohte, Gott und die Welt zu verklagen. Nun rief der alte Gierschlund immer wieder von seinem Krankenhausbett aus an und erhöhte jedes Mal das vorhergehende Gebot.

»Verdammt noch mal, Chester«, sagte Emerland. »Stell dir mal die gratis Werbung vor, wenn die Geschichte erst einmal publik wird. Weißt du, wie viel Cash wir machen könnten, wenn hier der Vergnügungspark "Alienworld" seine Pforten öffnet? Kannst du dir das überhaupt vorstellen?«

»Nein, du Hinkefuß. Hatte noch nie besonders viel Fantasie. Was mich betrifft, bringt einen das nur in Schwierigkeiten.«

»Okay, vier Millionen zweihundertfünfzigtausend, du alter Blutsauger. Plus Beteiligungen. Du weißt schon, einen Teil vom Profit.«

Vielleicht würde Chester für fünf Millionen von seinem Land Abschied nehmen. Es war ja nur sein Erbe. Nur Dreck und Felder voller Unkraut und halb-verfallene Gebäude und Erinnerungen, von denen nicht alle gut waren. Jeder Mann hatte seinen Preis. Aber Emerland zappeln zu lassen, war fast genauso lustig wie einen Haufen Geld zu haben.

»Ich glaube nicht. Wiederhören.«

»Aber Chester…«

Chester legte auf. Er wollte die Leitung frei halten, sollte Tamara anrufen. Natürlich hatte sie vor gar nicht so langer Zeit kein Telefon dafür gebraucht. Sie meldete sich einfach in seinem Kopf.

Das war zwar verdammt gruselig, aber gar nicht so unpraktisch, wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte. Nur, dass ihre "Kräfte", wie sie sie nannte, mit jedem Tag schwächer wurden. So blieb ihnen nur mehr das Telefon. Und das war ja auch ok.

Er blickte auf die dicken, weißen Wolken, gute Aprilwolken, so fest, dass man eine Heugabel hineinstechen und sie wenden könnte. Er fragte sich, ob DeWalt da oben war, ein Teil Wolke, ein Teil Himmel.

Die Regierungsbeamten hatte seinen Hühner mitgenommen. Das störte ihn jedoch kein bisschen. Weniger Mäuler, die er stopfen musste. Er beugte nochmals seinen Arm mit dem Schnaps.

Er wollte auf den Rasen spucken, zielte aber zu wenig weit. Seine Veranda hatte einen neuen Fleck bekommen.

 

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James räumte Tante Mayzies Sachen aus den Schränken, packte sie zusammen, sodass seine Mutter und ihre Familie gemeinsam entscheiden könnten, wie sie das wenige Erbe verteilen sollten.  Da das Begräbnis noch frisch in jedermanns Gedächtnis war, waren die Gedanken an weltliche Besitzungen ohnehin eher unangenehm. Trotzdem, seine Mutter würde die Sammlung von Salzstreuern haben wollen. Sie liebte diesen Schnickschnack.

James blickte auf den Lieblingsstuhl von Tante Mayzie. Der Sitzpolster auf dem Sessel war noch eingedrückt, so als ob ihr Geist noch dort sitzen würde. James setzte sich auf den Schoß des Geistes und öffnete die Schublade von Tante Mayzies Kaffeetischchen. Sie war voll mit abgegriffenen Notizbüchern und herausgerissenen, losen Blättern.

James nahm das oberste Notizbuch aus der Lade und öffnete es. Es war unverkennbar Mayzies Handschrift. Er las die erste Seite.

 

FÜR JAMES: SCHNEE AUF BLUMEN

Während der Wind der Hyazinthen weht,

Haucht der bloßfüßige April über gepflügte Felder

Am Strand der warmen grünen See, sie niest und beklagt

Die Ankunft der Kolibris und zählt den Wellenschlag mit wässrigen Augen

Während die Schmetterlinge über gelbe Wege flattern

 

Ihr eisblaues Herz schmilzt

Unter dem Lava-Auge der untergehenden Sonne

Glitzert sie zögerlich

 

Wenn die Nacht ihre Fäden spinnt

Atmet sie die Minze kühlender Hoffnung

Und zieht das Kleid des vergangenen Winters

Fest über ihre mondschwarze Haut

 

In ihren Träumen weint sie Tränen aus Tau.

 

Gedichte. Hunderte, ja vielleicht tausende Seiten mit Gedichten. Und sie hatte ihm nie auch nur ein Wort darüber gesagt. Er las mit Herzklopfen mehrere Gedichte. Soweit er das beurteilen konnte, waren einige sicherlich gut genug, um veröffentlicht zu werden. Sicher besser als ein paar von denen, die er auf der Uni lesen musste.

Tante Mayzie musste schon seit Jahren, vielleicht sogar seit Jahrzehnten geschrieben haben. Und nie hatte sie darüber gesprochen. Hier lag ihr ganzen Leben, Millionen Silben und Fragmente und unterbrochene Gedanken, manchmal wegradiert und ausgebessert. Die Symbole ihrer Seele. Er fragte sich, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn er ein paar der Gedichte einschicken würde. Er hatte aus seiner Zeit in Georgetown noch ein paar Kontakte zur Literaturszene.

Vielleicht konnte er sich so bei ihr bedanken, sich entschuldigen, indem er ihre Werke der Welt präsentierte. Das war das Wenigste, was er tun konnte. Er war gerade dabei, mit seiner Schuld zurecht zu kommen. Vielleicht hatte er ja keine Schuld. Vielleicht war sie ja nur bereit gewesen nach Hause zu gehen. Heim zu Onkel Theo und Oliver.

Und vielleicht würde er ja noch ein bisschen in Windshake bleiben. Er hatte Sarah auf der Straße getroffen, als die Presse und die Wissenschaftler und die Nationalgarde auf der Suche nach ein paar getrockneter Sporen der Toten durch die Stadt gezogen waren. Er hätte nichts dagegen, Sarah ein bisschen besser kennen zu lernen. Sie hatte ja auch ein Schicksal zu beklagen. Vielleicht könnten sie sich ja gegenseitig stützen.

Und außerdem brauchte die Stadt ja auch ihren eigenen Nigg…nein, einen Schwarzen. Oder einfach einen anderen Menschen.

Menschenwürde bekam man nicht durch die anderen. Menschenwürde erlangte man durch sein eigenes Bewusstsein. Mitgefühl war wichtiger als Leben oder Tod, beziehungsweise dieser furchtbare Zustand, der zwischen den beiden lag. Und Utopien brachten auch Probleme mit sich.

In diesem einen Blick auf Shu-shaaa, hatte er sowohl die absolute Schönheit als auch die Leere der kosmischen Einheit sehen können. Wenn alles Eins war, dann würde es niemals Zwei geben.

Er las den Rest von Mayzies Gedichten.

 

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Bill schaute über die grünen Wiesen am Fuße des Fool´s Knob, schaute auf das großartige Naturschauspiel des Herrn. Er konnte sich beinahe noch das eingedrückte Gras an der Stelle, an der er sich mit Nettie fleischlich vereinigt hatte, vorstellen.

Er hatte noch starke Erinnerungen daran, auch wenn diese mit der Zeit schwächer zu werden begannen. Die schlechten Erinnerungen begannen zuerst wegzufallen, die scharfen Zacken der Albträume würden stumpfer, die alten Wunden begannen zu heilen.

Aber auch die guten Erinnerungen wurden schwächer und das machte ihn traurig. Er konnte sich kaum mehr an Netties Augen erinnern. Er wusste, dass sie dunkelbraun und tiefsinnig waren, aber er konnte sich nicht mehr an ihr Glitzern erinnern, wenn sie lächelte. Er konnte sich auch nicht mehr genau an ihre Stimme erinnern, gerade hier auf der Wiese, wo die Spatzen ihr Lied pfiffen und der Wind durch die Tannenzweige hauchte. Er musste tief einatmen, um zumindest eine leise Ahnung an den Duft ihrer Haut wachzurufen.

Aber sie würden sich ja wiedersehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Herr auch ihn nach Hause rufen würde. Er hätte nur gerne Nettie ein christliches Begräbnis gegeben. Aber wie alle anderen hatte sie sich ins Nichts aufgelöst.

Er konnte ihr Fleisch nicht begraben und ihre Seele war schon längst an einem besseren Ort.

Mit seinen Fingern machte er eine kleine Grube in die feuchte Erde, so tief wie die Wurzeln des Klees und des Löwenzahns. Er pflückte eine Butterblume, legte sie zärtlich in das Grab und bedeckte das helle Gelb der Blüte mit Erde.

Morgen war Ostersonntag, der Tag der Wiedergeburt. Aber heute war noch ein Tag so wie jeder andere, ein Tag in einem dunklen Grab, wartend auf die Auferstehung.

Er kniete sich in das Gras und betete. Dann stand er auf, stand in der grünen Wiese und blickte ins weite Nichts.

 

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Tamara legte die Zeitschrift, die sie gerade gelesen hatte, wieder hin. Ginger und Kevin spielten auf dem Wohnzimmerboden ein Kartenspiel. Es war nicht kalt, aber Robert hatte trotzdem im Kamin ein Feuer angezündet. Die Flammen waren laut und fröhlich.

Robert saß neben ihr auf der Couch und küsste sie auf den Hals. »Für den Rest meines Lebens werde ich dich alle fünf Minuten küssen.«

»Kann ich das schriftlich haben?«

»Du kennst mich doch schon gut genug. Nach allem, was wir durchgemacht haben?«

»Solange wir zusammenhalten, können wir alles schaffen«, sagte sie. Das klang vielleicht schon abgedroschen. Aber es war ihr egal. Es stimmte, egal ob es Außerirdische betraf oder einfach die Schwierigkeiten des Alltags.

»Du hast mir noch immer nicht erzählt…«

»Ich werde es erzählen, wenn ich dazu bereit bin. Es gibt noch so viele Sachen, über die ich mir selbst erst klar werden muss.«

»Es tut mir leid, wie ich mich verhalten habe. Wegen…«

»Der inneren Stimme. Und weil du egoistisch warst.«

»Weil ich an dir gezweifelt habe. Und weil…du weißt schon.«

»Shhh. Ich weiß. Du bist auch nur ein Mensch, Gott sei Dank.« Sie berührte ihn leicht am Kopf. »Ich weiß. Ich war ja da drinnen, weißt du noch?«

»Und wirst du für den Rest meines Lebens meine Gedanken lesen können?«

»Alle Ehefrauen können das.«

Sie schaute nachdenklich Ginger an. Sie konzentrierte sich voll auf das Spiel. Kevin war eigentlich schon zu alt für das Kartenspiel, aber er spielte mit ihr, weil Ginger ihn darum gebeten hatte. Er war ein guter Bruder.

Tamara war nach der Explosion von Emotionen und Kräften überladen gewesen, so als ob die sterbende Seele des Shu-shaaa in ihren Verstand eingedrungen wäre. Und sie hatte lauter seltsame Dinge sehen und tun können. Gedanken zu lesen war einfach. Damit konnte sie umgehen. Aber andere Sachen hatten ihr Angst gemacht. Sie konnte mit ihren Gedanken Dinge bewegen, die Äste der Bäume biegen und die Wolken im Himmel steuern. Und sie glaubte - obwohl sie es nicht versuchen wollte – dass sie sogar die Erde schneller drehen oder den Mond für einen Gute-Nacht-Kuss herabsteigen lassen könnte.

Und Tamara hatte Gingers Kräfte gespürt. Sie war eine kleinere, unfertige Ausgabe ihrer selbst. Niemand sollte mit diesem Fluch leben müssen. Niemand sollte in die Zukunft blicken können.

Sie wollte nicht, dass Ginger für den Rest ihres Lebens von einer Stimme verfolgt werden würde. Deshalb hatte sie diese Kräfte aufgesaugt, hatte sie aus Gingers Verstand verbannt. Wie sie das gemacht hatte, würde sie selbst in tausend psychologischen Aufsätzen nicht beschreiben können.

Ginger wendete ihren Blick von den Karten weg, lächelte Tamara an und nahm dann einen Schluck von ihrer heißen Schokolade. Ein normales sechsjähriges Mädchen. Mit ihren nackten Zehen hob sie einen Wachsmalstift auf, führte ihn in ihren Mund und biss darauf.

Nun ja, vielleicht sogar ZU normal.

Tamara wünschte sich, sie könnte ihre Kräfte auch so einfach loswerden. Sie glaubte nicht, dass sie richtig damit umgehen konnte. Kein Normalsterblicher konnte das.

Aber ihre Kräfte wurden schon schwächer. Sie würden nicht immer da sein und Tamara wusste, dass das so gut war. Was sie noch störte, war die bleibende Erinnerung an den Todesschrei des Shu-shaaa.

Jede Nacht, wenn Tamara ihre Augen schloss und in das Reich des Schlafes gleiten wollte, verfolgte sie dieser Schrei. Es war ein Schrei voll Schmerz, eine Agonie, hervorgerufen durch die Erkenntnis, dass es nur Zerstörung und Verderben auf die Erde gebracht hatte.

Kurz vor der Explosion hatte es sich mit Tamara verbunden und den seltsamen Rhythmus menschlicher Gedanken und Sprache übersetzen können. Es hatte endlich verstanden, wie hoch der Preis für das eigene Überleben gewesen wäre. Und es hatte – auf seine eigene Art und Weise – Reue gezeigt. Es hatte sich mit Tamara und den anderen in dieser riesigen Welle der menschlichen Gemeinschaft verbunden, die sie selbst in die Vernichtung geschwemmt hatte.

Die Kreatur hatte ihren eigenen Tod akzeptiert, so dass die anderen leben konnten.

In Tamaras dunkelsten Momenten, wenn Robert schon schnarchte und ihre Leintücher feucht und warm waren, fragte sie sich, ob das Alien nicht die menschlichste Kreatur von allen gewesen war.

 

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Irgendwo im Kosmos, am Rande der kosmischen Nebeln und Oortschen Wolken und  Asteroidengürteln und weißen Zwergen hielt das Shu-shaaa inmitten von seinem Sterne-Grasen inne.  Seine Glieder spürten nur einen kurzen Stich, als einer ihrer Gemeinschaft starb. Es war kein wirklicher Schmerz, nur eine kurze Leere, die schnell wieder aufgefüllt und dann vergessen wurde.

Der Rest graste seelenruhig weiter.

 

 

ENDE

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