DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Bill hatte seine ganze Munition verschossen. Und genau dann tauchte eine der Kreaturen plötzlich neben ihm auf. Bill ergriff den heißen Lauf seines Gewehrs und wollte dem Alien den schweren hölzernen Kolben ins Gesicht stoßen. Das Gesicht gehörte Fred Painter, ein Mitglied des Kirchenbeirats der Baptisten aus Windshake.
Nein, sagte Bill zu sich selbst. Das ist nicht mehr Fred. Jetzt ist er einen von IHNEN.
Der gute, alte Fred hatte die Seiten gewechselt. Fred gehörte jetzt zu der Armee des Antichristen. Zu den Feinden. Zum Bösen.
»Vorwärts, ihr Kämpfer Christi!«, schrie Bill und drückte sein Gewehr in das aufgeschwollene Gesicht neben sich. Es explodierte wie eine Packung Fertigsuppe.
Arnie klopfte die leeren Patronenhülsen aus seinem Revolver und lud im Schutz der offenen Autotür nach. Im Morgenlicht konnte Bill sehen, wie sehr Arnie zitterte. Schwammige Leichen lagen mit zuckenden Gliedern auf dem Parkplatz verstreut.
»Komm, Bill!«, schrie Arnie. »Lass uns von hier verschwinden. Es sind zu viele.«
Bill ging auf eine Lücke im Zaun zu.
»Bill!«
Er drehte sich um und winkte Arnie zu. Gott hatte ihm einen Auftrag gegeben. Er kämpfte sich durch die Sträucher auf den Friedhof durch. Er würde die Kirche zurückerobern.
Bill bat Gott, ihm die Kraft dafür zu geben. Nicht die Kraft, dem Teufel zu widerstehen, sondern die Kraft, den Teufel zurück in die Hölle zu schicken. Aus dem Augenwinkel konnte er Blätter und feuchte Sachen auf dem Boden liegen sehen, aber er fixierte seinen Blick auf das Bronzekreuz, auf dem sich das Licht der aufgehenden Sonne spiegelte. Goldene Strahlen umspielten das Kreuz wie ein Zeichen des Himmels, falls dieser überhaupt noch existierte.
Unsere Hoffnung ist unsere letzte Hoffnung. Der Gedanke kam aus dem Nichts. Bill lächelte. Das war genau die Nachricht von Gott, auf die er in diesem schweren Moment gewartet hatte.
»Unsere Hoffnung ist unsere letzte Hoffnung«, wiederholte er laut. Diesen Satz musste er sich merken.
Bill stürmte auf die offene Tür der Sakristei zu. Laut und deutlich sang er ein Halleluja.
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James schüttelte Tante Mayzie und versuchte sie aufzuwecken. Aber sie öffnete nicht ihre Augen. Sie fühlte sich steif und kalt an.
Tot.
Er hätte sie beschützen sollen. Er hatte versagt. Eine einzige Aufgabe, eine einzige, leichte Aufgabe und er hatte versagt. Wie konnte er jemals wieder seiner Mutter unter die Augen treten? Wie konnte er sich jemals wieder in den Spiegel schauen?
Er setzte sich auf den Bettrand und die Metallfedern der Matratze stöhnten leise auf. Der Körper seiner Tante bewegte sich leicht zur Seite. Als er aus dem Fenster blickte, die entfernten Schreie und das Heulen der Sirenen hörte, sah er, wie sich eine Honigbiene an einer feuchten Lilie zu schaffen machte.
Er hasste Blumen.
Ein Geräusch am Fensterbrett erregte seine Aufmerksamkeit.
Der glitzernde Postbote stolperte durch das Blumenbeet vor seinem Fenster. James fuhr unwillkürlich zurück, als die Kreatur seine Hand auf das Fenster klatschen ließ. Der Postler grinste und sabberte dabei fluoreszierenden Nektar. Bei dieser Ansicht musste sich James fast übergeben.
Das musste das Monster sein, das Mayzies Leben auf dem Gewissen hatte. Dieser schleimgesichtige Mutant hatte die Frau auf dem Gewissen, die ihm nichts als Liebe geschenkt hatte, und das, obwohl James hauptsächlich mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen war. Dieses Ding war für den brennenden Schmerz in seiner Brust verantwortlich.
James schob das Fenster nach oben. Sein Kopf war vor Zorn dunkelrot angelaufen. Die zitternde Kreatur streckte ihre Hand nach James aus, so als ob sie eine Postsendung übergeben wollte. Die grünen Augen blitzten vor Glückseligkeit. Die Sonne stand schon höher, rot und heiß, und James fragte sich, auf welcher Seite sie im kommenden Kampf wohl stehen würde.
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Robert hielt Ginger auf seinem Schoß. Sie war endlich eingeschlafen, aber Robert befürchtete, dass er nie wieder schlafen können würde. Denn Ginger hatte ihm alles erzählt, was ihre Mama gesehen hatte, von dem Ding, das Shu-shaaa hieß und wie es die Bäume auffraß und vom Himmel kam und von anderen kosmischen Phänomenen, die gar nicht Teil von Gingers Vokabular waren.
Robert hatte keine andere Wahl, als ihr zu glauben. Denn er hatte ja Tamara auch kurz in seinem Kopf gehabt, er hatte einen kurzen Blick auf das schwarze, unendliche Nichts werfen können, das das Shu-shaa in den Gedärmen seines Gedächtnisses bewahrt hatte.
Er blickte aus dem Fenster auf die Sonnenstrahlen, die die Baumwipfel beleuchtete und die Schatten der Nacht in Richtung Westen davonjagte. Er stellte sich vor, wie die schleimigen Kreaturen durch das Unterholz wanderten, nach Futter suchten, nach Wurzeln und Engerlingen gruben, Beeren suchten und nach frischem Fleisch gierten.
Vielleicht war es an der Zeit, ein wenig Gottesfurcht zu zeigen. Er wollte nicht beten, das wäre ihm komisch vorgekommen. Aber er konnte an seine Frau glauben. Sie hatte eine ordentliche Portion Mut. Mut, der von ihrer Familie kam, von ihrem Glauben an seine Liebe, von den Wurzeln ihres gemeinsamen Lebens.
Sie hatte den Mut zu hoffen.
Und wenn sie irgendwie seine Gedanken lesen könnte, dann würde es ihr vielleicht helfen, dass er voll und ganz hinter ihr stand. Dass er sie liebte. Dass sie die Einzige war, an die er glauben wollte. Dass er ihr half, das Opfer zu erbringen.
Er hoffte nur inständig, dass ihr Opfer kein endgültiges war.
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Bill fand Prediger Blevins auf der Kanzel, unter dem Baldachin. Der Prediger war eine einzige Blasphemie, er war der Teufel, auch wenn seine Farbe eher milchig-weiß als feuerrot war. Der Priester nagte gerade an dem hölzernen Kruzifix, das an der hinteren Wand der Kirche gehangen hatte. Zähflüssiger Schleim tropfte von seinen kaputten Lippen.
Bill ging den Kirchengang entlang, seine Schritte durch den Teppich gedämpft. Das Ding, das einmal sein spiritueller Führer gewesen war, der Hirte von Windshakes gläubiger Herde, die weltliche Verkörperung des Wort Gottes war nun ein sabbernder Höllengnom. Blevins folgte nun seltsamen Göttern. Und diese Götter hatten ihn zum Bösen geführt.
Der Priester blickte auf und seine grünen Augen durchbohrten Bill wie Zwanziger-Nägel menschliches Fleisch. Bill ging unbeirrt auf ihn zu.
»Denn Gott liebte die Erde«, sagte Bill und nahm all seinen Mut zusammen. Er fühlte, wie der Zorn in seinem Inneren weniger wurde und einer unbeschreiblichen Ruhe wich.
Die Sonne drang durch die Glasfenster und warf blaue und rote und gelbe Lichtmuster ins Innere der Kirche.
»Er schickte seinen eingeborenen Sohn auf die Erde, sodass jeder, der an Ihn glaubte...« . .”
Der Prediger ließ das Kruzifix auf das Podium fallen und erhob seine modrigen Arme.
“. . . »…nicht vergehen, sondern das ewige Leben erlangen sollte.«
Bill warf sein schleimiges Gewehr in die Bankreihen und es rutschte klappernd über das Eichenholz. Die Liebe des Herrn würde seine Waffe sein. Hoffnung war sein Schwert, Glaube sein Schild. Er stieg auf die Kanzel.
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DeWalt rollte mit einer Hand die hundert Meter Zündschnur auf, während er mit der anderen Hand das Gewehr auf die anderen richtete. Tamara schrie in seinen Kopf hinein, aber er war zu geistesabwesend um ihr zuzuhören, zu beschäftigt damit, die positiven und die negativen Seiten seines Lebens gegeneinander aufzurechnen. Er würde es nicht zulassen, dass sie ihn stoppte, er würde es nicht zulassen, dass das Alien ihm Angst einjagte. Dann endlich hatte er den Sprengzünder in der Hand, verbunden mit drei Stangen TNT.
»Macht es gut, Chester, Tamara. Emerland. Sie auch, Herr Vorsitzender«, sagte er.
Tamara wird es verstehen und vielleicht kann sie den anderen alles erklären, wenn es vorbei ist.
»Ihr solltet jetzt lieber davonlaufen und Deckung suchen«, sagte DeWalt zu ihnen und ging um den Steinblock herum und zu dem Abgrund des Erdschlundes. Emerland bewegte sich zuerst, machte einen zögerlichen Schritt, dann noch einen. Tamara wollte etwas sagen, aber DeWalt richtete das Gewehr auf sie.
Sie versuchte noch einmal, in seinen Kopf einzudringen, aber er bat sie, ihn alleine zu lassen. Sie folgte dem Bauunternehmer den schmalen Pfad bergabwärts, denn sie wusste, dass DeWalt sich von nichts und niemandem stoppen lassen würde.
Chester prostete DeWalt mit seinem letzten Schluck schwarzgebranntem Schnaps zu. »Dann bist du also doch kein feiges Arschloch aus Kalifornien.«
»Leck mich, Chester.«
»Mit größtem Vergnügen.« Chester warf seine leere Schnapsflasche in den Erdschlund, nickte DeWalt zum Abschied zu und folgte den anderen. Kurz bevor er sich umdrehte, sah DeWalt in den Augen des alten Mannes ein Schimmern, das eine Träne hätte sein können.
Als DeWalt seine Freunde weggehen sah, versuchte er, die Wucht der Explosion auszurechnen. Die Sonne erhob sich jetzt mit großer Schnelligkeit und ihr goldenes Auge schaute schon über die weiter entfernten Bergrücken. Er zwang seine schmerzenden Knie über die Lippe des nach Verwesung stinkenden Loches und das betäubende Aroma nach Moder und Verrottung stieg um ihn wie der Nebel der Unterwelt auf.
Tamara wagte noch einen Blick zurück, aber sie war schon zu weit weg, als dass sich ihre Augen treffen konnten. Dies galt aber nicht für ihre Gedanken.
»Hoffnung ist unsere einzige Hoffnung«, dachte er, als er in den Erdschlund hinunterrutschte.
Er sah das TNT zwischen den schleimigen, nassen Stalagmiten, dem ausgefransten Schimmel und den zitternden Fühlern, die an seiner Haut leckten, herumliegen. Er war von der überwältigenden Kraft des Shu-shaaa beeindruckt und zum ersten Mal dachte er an das Alien als das, was es wirklich war: eine Kreatur, die ihrem natürlichen Instinkt folgte.
Genauso wie er war es nur ein weiterer Parasit.
Sein Verstand vernetzte sich mit dem des Shu-shaaa und in dieser Millisekunde überschwemmte ihn die Intelligenz des Dinges warm wie das Wasser der Karibik. Er konnte fühlen, wie es versuchte, ihn zu assimilieren, ihn zu verstehen und ihre Seelen tauschte Gedanken aus wie eine Reflexion, die von zwei Spiegeln in alle Ewigkeit hin und her geworfen wurde.
Dann sah er das, was er sofort als das Herz-Gehirn des Alien erkannte. Es war ein glatter Beutel, der zum unhörbaren Ticken einer kosmischen Uhr pulsierte. Es war lavendelfarben und von flüssigen Wurzeln durchzogen. Das Herz-Gehirn sang für ihn, schickte seine Schlaflieder in seine müde Seele, und wiegte ihn in einen langen, unendlichen Schlaf. Das Alien war schön. Er war verliebt, verliebt, so verliebt wie noch nie in seinem Leben auf Erden.
Wie konnte er jemals dieses Wunder zerstören haben wollen?
Das Ding versuchte, ein Wort in seinen Schädel zu schleusen. Ein Wort, das aus den Untiefen seines Gehirns kam Bruuuu…duuuur. Oh Bruuu-duuur.
Dann war Tamara wieder in seinem Kopf und er hatte Angst, dass er nicht den Abzug ziehen könnte, weil er nur Teil der schwarzen Tiefe sein wollte, des süßen Nichts, der dunklen lieblichen Leere, aber dann wusste er, er würde es nicht töten können, wie hatte er das jemals wünschen können aber Tamara zog ihn mit ihren Gedanken zurück zu Herbert und dem Blutenden Herzen und sogar der Vorsitzende war auf seiner Seite und er war Herbert verdammter Webster DeWalt der Dritte, zum Teufel, und bevor das Alien ihn lieben konnte und ihn in die Vergessenheit lecken konnte fragte er sich ob der Rückschlag des Gewehrs stark genug sein würde um die Sprengkapsel die er in seiner linken Hand hielt zum Detonieren bringen würde.
Sie war es.
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Es war nicht genug.
Tamara spürte es, sogar als sie fühlte, dass Herbert starb. Sie war bei ihm, als seine Seele roten und gelben Schmerz herausbrüllte. Sie fühlte das schnelle weiße Brennen in seinen Eingeweiden, fühlte, wie etwas in die entfernte Nacht glitt, wie seine Gedanken in sich zusammenfielen wie in schwarze Löcher, als er reines Licht, dann Friede und dann Chaos wurde. Dann war Herbert unter den Sternen, weit weg und unendlich und niemals wiedervereinbar.
Diese Millisekunde fror zu einem Eiskristall, von dem jede Facette glitzerte und eine unendliche Möglichkeit verkörperte. Tamara suchte in den unendlichen Gängen: Dort, im Herz-Gehirn, das ihre Zuneigung verlangte und bekam.
»Tah-mah-raaa.«
Es lernte. Es lernte, sie zu lieben. Lehrte sie zu lieben.
So einfach. So einfach, wie in einen warmen Swimmingpool zu fallen.
Einfach unterzugehen.
Aber die anderen Möglichkeiten…
Ihre Liebe.
Kevin. Ginger. Robert.
Robert?
Ja, ich bin hier, mein Schatz.
Robert?
Hier bei dir. Es ist schön… . .
Nein.
Ich kann es nicht, nicht alleine, es ist zu stark.
Du bist nicht alleine. Nie alleine.
Aber du siehst, wie wunderbar es ist, Tam. Was für eine Freude. Oh, was für ein Friede.
Aber wir können nicht alle leben. Nicht mit dieser Sache. Sie wird uns alle auffressen.
Ich will leben.
Wir alle wollen leben.
WIR ALLE WOLLEN LEBEN.
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Bill zerrte an den dornigen Ranken, die sich in seinen Hals gruben. Heißes Blut tropfte unter sein Hemd, als er gegen den Priester kämpfte. Er erinnerte sich an einige Worte, die Nettie ihm vorgelesen hatte, während ihre flinken Augen über die Seiten huschten, erinnerte sich an ihre Stimme, die wie Musik in seinen Ohren klang, an ihre Haut, die so weich wie eine Wiese war. Er hörte ihre Worte, so als ob sie sie gerade jetzt aussprechen würde. »Wer von meinem Fleisch isst und von meinem Blut trinkt, der wird das ewige Leben erlangen.«
Bill packte den züngelnden Kopf des Predigers und hob ihn über das Pult. Aus seinem Gaumen sickerte der Nebeldunst. Bills Finger verloren den Halt in seinem glitschigen, durchweichten Schädel und der weit geöffnete Mund kam ihm gefährlich nahe.
»Wer von mir kostet, wird durch mich leben.«
Der Priester, Satan aus feuchtem Fleisch, wurde plötzlich stärker. Bill wurde zurückgedrängt und die Hand des Predigers bearbeitete das Fleisch seines Halses.
»Ich bin das Brot des ewigen Lebens. Wer von diesem Brot kostet, wird ewig leben.«
Der Kopf des Priesters beugte sich herab und Bill wurde über die Kanzel gedrängt. Der Teufel schien zu gewinnen. Ähnlich wie der Jünger Thomas vor zweitausend Jahren, hatte auch Bill den Schatten eines Zweifels.
Die offenen Lippen des Priesters pressten sich auf seine und die ersten Flammen des ewigen Höllenfeuers leckten an seiner Gehirnrinde. Satan murmelte schon sanft und lieblich in sein Ohr, sein feuchter Speichel schon auf Bills Wange.
Die Kanzel fiel um und Satan kroch auf Bills sich windenden Körper. Bill versuchte sich wegzudrehen und zu fliehen, hinaus aus der Kirchentüre und weg von der Rettung und der Verdammnis und den Versuchungen und der Bedrängnis und den Qualen. Aber der Teufel wollte ihn nicht gehen lassen.
Er kämpfte verbissen und rutschte auf dem Rücken über den gebohnerten Boden. Der Teufel jagte ihn mit lüsterner Zunge. Bills Hände stießen plötzlich auf zersplittertes Holz. Das Kruzifix. Gott hatte für ihn gesorgt.
Bill hob das Kreuz über seinen Kopf und stieß, noch mit dem Speichel eines schnellen Gebets auf den Lippen, dessen hölzernes Ende zwischen die schreiend grünen Augen der Kreatur.