ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
James blickte voller Hoffnung aus dem Fenster, als der Mond endgültig am Horizont versank. Mit sich zog er die Nacht in die Tiefe. Die orangen und roten Flammen des Morgens leckten schon an der verschwindenden Dunkelheit.
Vielleicht war er jetzt sicher. Jetzt konnte er die Menschen warnen, bei Tageslicht würde man ihm eher glauben. In den letzten Stunden hatte er keinen mehr von ihnen gesehen und von der abgetrennten Hand waren nur mehr ein paar weiße Flocken über.
Er hatte weder Klopfen oder Knacken gehört, nur das dumpfe Geräusch seines rasenden Herzens und ab und zu das Heulen von Sirenen. Er wollte nach Tante Mayzie sehen. Er klopfte an ihre Türe, sanft und leise. Keine Antwort.
Er öffnete die Türe einen Spalt breit, spähte in das Zimmer und sah ihre Konturen auf dem Bett. Dort würde sie sicherer sein als draußen mit ihm. Er ließ sie weiterschlafen.
James ging ins Freie und schnupperte an der frischen Luft, die nach Blüten und Rasen und einem leichten Anflug nach Fäulnis roch. Er hatte Angst, diese Luft einzuatmen, diese frühlingshafte Frische, der er noch nie getraut hatte. Er blickte auf die Schatten der Bäume und Sträucher, auf den Zaun, der mit den Ranken der Heckenkirsche dicht bewachsen war. Auf der Straße bewegte sich kein einziges Blatt, so als ob auch der Wind noch im Bett lag. James verfiel in einen leichten Trott und joggte mit erhobenem Kopf in Richtung Stadt.
Die ersten Verkäufer waren schon da und deckten ihre Verkaufsbuden ab und behängten sie mit Stoff. Sie arbeitete wie Roboter. Styroporbecher mit dampfendem Kaffee standen griffbereit, während sie ihre hölzernen Enten und gewebten Körbe und Vogelhäuser und selbstgemachten Decken auslegten. Die meisten von ihnen waren fahrende Händler, die hier für ein paar Tage ein paar Dollar verdienen wollten und dann zum nächsten Jahrmarkt weiterzogen. Die Frau vom Blumenladen schenkte ihm heute keine Aufmerksamkeit, als er vorbeilief.
Ein paar Männer mit langen Haaren, kurzen Hosen, ärmellosen Leibchen und großen Lederstiefeln verkabelten gerade die Rednerbühne und testeten die Sound-Anlage. Eine Blondine saß hinter dem Mischpult und machte einen Katzenbuckel, während sie ihr Haar nach hinten warf. Einer von den Männern der Tonanlage ging zu ihr und drückte ihr einen fettigen Kuss auf die Lippen. Ein anderer Bühnenarbeiter kletterte auf die Bühne und begann ins Mikrofon zu sprechen.
»Test, Test, eins, zwei, eins, zwei«, plärrte seine Stimme aus den Lautsprechertürmen. An den Verkaufsbuden drehten sich neugierig ein paar Köpfe.
James ging auf die Bühne zu. Seine Nikes zertraten entschlossen den Tau. Wenn er das Mikrofon in seine Hände bekommen könnte, könnte er sie vielleicht warnen.
»Test, Test…das ist nur ein Test«, sagte der Bühnenarbeiter.
Plötzlich stolperte etwas aus den Büschen in der Nähe des Haynes-Hauses und machte sich auf die Suche nach der Lärmquelle. James sah seine tropfenden Kiefer und den unverkennbaren Hunger in den Augen. Seinen grünen Augen.
Der Bühnenarbeiter mit dem Mikrofon bemerkte nicht, dass die Band einen neuen Groupie bekommen hatte. Er machte unbeirrt mit dem Soundcheck weiter und versuchte die Aufmerksamkeit des knutschenden Pärchens hinter dem Mischpult zu erlangen. »Das ist nicht nur ein Test, das ist vor allem ein Notfall…«, schrie James ihm zu, aber der Mann konnte ihn wegen seiner eigenen tausendfach verstärkten Stimme nicht hören. . .”
Das wässrige Monster fiel auf die Bühne und schlitterte wie ein übergroßes und mutiertes Kind auf seinem Bauch dahin.
“. . . »Test, Test…bla, bla, bla. Hey Mick, passt das so?«
Aber Mick war gerade zu sehr mit der Zunge der Blondine beschäftigt um zu antworten.
James riss seine Arme in die Höhe, winkte dem Arbeiter auf der Bühne zu und zeigte aufgeregt auf die sich nähernde Kreatur.
Doch der Typ ignorierte James, hatte er doch in seinem Leben schon zu viele verrückte Fans gesehen. »Hey, Mick! Ist das laut genug?«
Die sumpfige Kreatur fiel gegen das Schlagzeug und stieß das Gestell mit dem Becken um. Seine bleiche Haut glitzerte in der Morgensonne. Durch das laute Geräusch erschreckt, drehte sich der Bühnenarbeiter um und blickt dem Horror, der nur wenige Meter von seinen Füßen entfernt war, direkt in die Augen. Ein Schrei gellte von weit her und ein Tisch voll handbemalter Keramik wurde umgestoßen.
Jemand rannte hinter die Bühne, zu schnell, um eine von den Kreaturen zu sein. James hörte noch einen Schrei. Er musste sie gar nicht mehr warnen. Man musste nur seine Augen aufmachen. Auch wenn das Gesehene unglaublich war.
Der Roadie trat nach der Sumpfgestalt und sein Stiefel blieb in dem glitschigen Hals des Dämons stecken. Die Kreatur griff mit dornigen Händen nach dem Mann und verkrallte sich in sein Schienbein. Sein Schrei gellte durch das Mikrofon und durch den beginnenden Morgen.
»Hilfe, Mick…aaaaahhhh!« Der Roadie wimmerte vor Angst, als er zu Boden fiel. Mick wollte hinter dem Mischpult aufspringen, sah dann aber genauer, was sich da an seinen Kumpel krallte. Er trat langsam den Rückzug an, während seine Augen das Grauen fotografierten.
Die Blondine schrie auf und rannte zum Haynes-Haus. Sie hatte schon die Stiegen erklommen und bewegte sich auf die Türe zu, als ein Heuhaufen in der Nähe zu explodieren schien. Einer der Zombies fiel über sie her, nasser Schleim klebte auf seiner Haut, als er sie umarmte. Er zog sie in das Heu und gurgelte zufrieden, als es an ihrem Gesicht lutschte.
James sprang auf die Bühne, packte das Mikrofonkabel und zog den Ständer zu sich her. Die Sumpfgestalt kroch über den Bühnenarbeiter hinweg und hinterließ eine breite Schleimspur auf seiner Haut. James schwang den Mikrofonständer über seinen Kopf und stieß das schwere Eisen in den Rücken der Kreatur. Rohe, milchige Flüssigkeit sickerte aus der Wunde, aber die Kreatur ließ sich nicht weiter stören. Sie presste ihren weiten Mund auf das Gesicht des Mannes und erstickte so seinen letzten Schrei.
James blickte von der erhöhten Bühne herab und sah, dass ein halbes Dutzend der Kreaturen aus den Gassen, Nebenstraßen und dem Wald gekommen war.
»Rennt, ihr verdammten Idioten!«, brüllte James in das Mikrofon. Der Bühnenarbeiter streckte und entspannte sich dann, starrte in die Sonne, während ein idiotisches Grinsen über sein Gesicht wanderte und die Kreatur von ihm herunter glitt. Der Roadie rollte sich nun mit einem ungesunden Leuchten in seinen toten, gierigen Augen in James´ Richtung.
James sprang von der Bühne und lief zu Tante Mayzies Haus. Er fragte sich, was er hier überhaupt erreichen wollte. Er hatte "Die Nacht der lebenden Toten" gesehen. Nigger wurden immer erschossen, egal was. Wenn es einen Tumult geben sollte, war es das Beste, nicht gesehen zu werden.
Entlang der Hauptstraße stolperten die Verkäufer auf der Flucht übereinander. Zwei ältere Frauen wurden gegen die verschlossene Türe einer Apotheke gedrückt. Ein bärtiger Mann mit Brille versuchte seine Lederwaren, die auf den Boden gefallen waren, aufzuheben. In seiner Profitgier beachtete er den Horror um sich herum nicht. James rannte an ihm vorbei, trat die Glastür der Apotheke ein und half den zwei Frauen.
»Verstecken Sie sich ganz hinten im Dunklen«, befahl er ihnen und ließ sie dann auf ihrem Weg in die Sicherheit alleine.
Ein Mann mit einem Sweatshirt und Kopfhörern hatte sich in den zahlreichen Kabeln verfangen. Auf seinem Tischchen, das vor ihm stand, konnte man auf einem Vinylplakat "WRNC 1220 AM" lesen.
Er hob ein Handmikrofon und sagte: »Das ist Melvin Patterson live vom Blütenfest, und sie werden es nicht glauben – ich sehe es und kann es trotzdem kaum glauben – live auf WRNC und unterstützt von ihren Freunden der Bryson Futtermittel….«
Eine glitschige Gestalt in Khaki-Fetzen trat hinter ihm an den Tisch und hakte seine Hand in die Schulter des Reporters. Der Mann sprach unbeirrte weiter in sein Mikrofon: »Hier ist wirklich was los und so viel ich sagen kann, ist da eine ganze Horde von kaufwütigen Kunden, also packen Sie Ihre Familie und kommen Sie her, bevor alles ausverkauft ist.«
Die Gestalt zog an der Schulter des Mannes, drehte ihn zu sich, und das Mikrofon fiel auf den Boden. James rannte auf ihn zu um zu helfen, aber die Kreatur hatte schon die Zunge des Reporters verschluckt und tastete mit seinen faserigen Fingern nach seinen Augen.
James verschwand in einer Seitengasse und hoffte, dass die Kreaturen ihn nicht bemerkt hatten. Hatten sie nicht.
Zu sehr waren sie mit ihrer Ernte beschäftigt.
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Tamara schaute in den schwarzen Schlund des Shu-shaaa. Ein tiefes Gurgeln, das man auch als fröhliches Glucksen interpretieren konnte, kam aus den Untiefen seiner Gedärme. Dann war sie wieder in DeWalts Kopf und nahm am nächsten Treffen des Königlichen Ordens der Blutenden Herzen teil.
Herr Vorsitzender, ich habe versagt. Schon wieder.
Weil du deine Fähigkeiten überschätzt hast, oh Bruder. Du hast versucht, etwas zu ändern. Du hast versucht, für etwas Verantwortung zu übernehmen.
Ich habe mir gedacht…vielleicht ein einziges Mal…
Würdest du für jemanden anderen als nur dich etwas tun? Oh mein Bruder, oh Blutendes Herz, vergib mir, dass ich laut lachen muss. Nach mehr als fünfzig Jahren des Nichtstuns hast du dir gedacht, du könntest dich als Supermann verkleiden und die Welt retten? Das ist ein guter Scherz, Bruder.
Aber wenigstens habe ich es versucht. Ich habe es versucht.
Und du bist gescheitert, wie immer. Und spüre ich ein gewisses Bedauern?
»Nimm es nicht so schwer, Herbert. Es ist nicht Ihre Schuld.«
»Tamara?« DeWalt war sich nicht sicher, ob er ihre Stimme tatsächlich gehört hatte oder nicht.
»Ja.«
Hier? Wie zum …?
»Ich weiß nicht. Ich kann mir viele Dinge nicht erklären. Aber ich weiß, dass es besser ist, wenn man es wenigstens versucht. Sich zu kümmern. Sich Sorgen zu machen. Das macht unser Menschsein aus. Das unterscheidet uns von dem Ding, das wir zu töten versuchen.«
Schauen Sie, gute Frau. Ich weiß nicht, warum Sie uns hier unterbrechen – das ist ein privater Club und dieses Meeting ist nur für Mitglieder - , aber mein Ordensbruder hier ist glücklicher, wenn er sich um NICHTS kümmern muss.
Herr Vorsitzender, sie hat unglaubliche Kräfte. Sie kennt das Alien. Sie kennt auch dich.
Oh Bruder, nichts ist dir so fremd wie den eigenes Inneres. Davor solltest du dich am meisten fürchten.
»Nein Herbert, das ist nicht das Schlimmste. Unempfindlichkeit. Leere. Kälte. Innerlich tot zu sein, ohne Hoffnung oder Lebenserinnerungen.«
Hey, Sie! Verschwinden Sie! Der Bruder gehört nur mir.
»Herbert, ich werde Ihnen zeigen…Sie fühlen lassen, was das Shu-shaaa mit uns machen will, mit uns allen. Das ist seine Erinnerung daran, wie das Universum zuvor war. Und so will es das Shu-shaaa wieder haben.«
Ah…so schwarz…lass mich bitte nicht ersticken.
Unsinn, Bruder. Das ist nur einer ihrer Tricks.
»Haben Sie gesehen, Herbert? Das ist schlimmer als alles andere. Und das ist das Gleiche, wie es Ihr Vorsitzender will, nur weltweit. Das absolute Nichts.«
Tamara, wie können wir…
»Ich weiß es nicht. Aber wir dürfen nicht kapitulieren. Weder vor dem Erdschlund noch vor unserer Angst.«
Aber das TNT war unsere letzte Hoffnung.
»Nein. Unsere Hoffnung ist unsere letzte Hoffnung.«
Bruder, lass sie reden. Hör nicht auf sie. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Herr Vorsitzender? Bruder?
»Herbert, was…«
Herr Vorsitzender, ich würde gerne mein sofortiges Ausscheiden aus dem Orden der Blutenden Herzen mitteilen.
»Nein, Herbert, nicht doch.«
Doch, Tamara. Das ist der einzige gangbare Weg. Und es ist viel besser so.
Bruder! Sofort zurückkommen!
Tut mir Leid. Sitzung vertagt.
»Herbert, nicht!«
Bruder…
Halten Sie die Klappe, Herr Vorsitzender.
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Das Alien erzitterte in der Hitze seines pulsierenden Herz-Verstands. Die verwirrenden Symbole rasten durch sein matschiges Fleisch und provozierten unkontrollierte Zuckungen an seinen Fühlern.
Bluuuu-teeend
Heeeeerz.
Tah-mah-raaa-kish.
Dee-waaalt.
Maz-zah-loooch
Che-sher-loooch
Aaarsh-loooch.
Ohp.
Aaar-on-liii-ohp.
Ohp-is-aaar-on-liii-ohp.
Tah-mah-raa.
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»Unsere einzige Hoffnung«, dachte Tamara. »Unsere Hoffnung ist unsere letzte Hoffnung.«
DeWalt wird es tun und vielleicht sollte ich nicht versuchen, ihn aufzuhalten.
Denn Shu-shaaa kish und das Shu-shaaa hatte Angst das Shu-shaaa war schön und liebte sie und liebte sie liebte sie…
Sie presste ihre Hände an ihre Ohren, aber das Alien liebte sie noch immer.
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Chester war sich nicht sicher, was los war. Zuerst war DeWalt über das Dynamit gebeugt erstarrt und hatte auf den Sprengzünder in seiner Hand gestarrt. Tamara hatte DeWalt komisch angeschaut, so als ob sie seine Gedanken lesen konnte. Emerland starrte über die Felskuppe auf den gärenden und pulsierenden Schlund des verdammten Alien.
Noch ein Beben ließ die Umgebung erzittern und als die Bäume aufhörten zu schwanken, stand DeWalt auf. Er riss das Gewehr aus Chesters Händen.
»Tun Sie es nicht, DeWalt«, sagte Tamara.
Chester wusste nicht, was sie meinte. DeWalt hatte ihren ganzen Plan mit dem Dynamit verschissen oder vielleicht war es ja Emerland, der Mist gebaut hatte, weil er eine gottverdammte, billige Ausrüstung für seine Firma gekauft hatte. Es war auf jeden Fall nicht seine Schuld. Verdammt, vielleicht hatte niemand Schuld daran, außer Gott, der zugelassen hatte, dass so ein Ding überhaupt existierte und dann noch dazu auf seinem Grund und Boden, der seit dem Bürgerkrieg der Familie Mull gehört hatte.
Er war müde und verärgert und für seinen Geschmack viel zu nüchtern. »Mit dem scheiß Gewehr kannst du gegen das Ding nichts ausrichten«, sagte er zu DeWalt.
»Mit dem Gewehr alleine nicht. Aber wenn ich nahe genug hingehen, könnte ich…«
»Die verdammte Explosion auslösen«, sagte Tamara. »Durch große Hitze und Druck. Aber das wäre viel zu nahe…«
»Um zu überleben? Daran habe ich schon gedacht.«
»Ich weiß«, sagte Tamara.
Chester dachte sich, dass beide verrückt waren, genau so faulig und verdorben wie das Monster, das es sich hier auf dem Berghang gemütlich gemacht hatte. Tamara machte einen Schritt auf DeWalt zu und hob ihre Hand um ihn zurückzuhalten. Das ungesunde Licht des Alien wurde von ihrem Gesicht zurückgeworfen. DeWalt zielte mit dem Gewehr auf seine Begleiter.
»Ich schlage vor, ihr zieht euch zurück«, sagte DeWalt. »Denn es sieht so aus, als würde hier bald ein schweres Gewitter niedergehen.«