VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL

 

James packte den Arm der Kreatur, die am Fenster lehnte. Zähflüssiger Schleim tropfte auf den Boden, als sich die Kreatur mit ihren zerschlissenen Lippen ein Lächeln abrang. Als sie zu sprechen versuchte, spritzte ein Tropfen Speichel in James´ Auge. Ein wilder Schmerz durchfuhr ihn wie ein Blitz und in derselben Sekunde hob er ab, begann zu fliegen und war dabei, komplett verrückt zu werden.

Plötzlich war er eine weiße Frau und sein Name war Tamara und das musste eine Auswirkung der Anspannung sein, die Trauer, die seine Sinne überflutete, der Hammer der Götter, der auf die graue Masse seines Gehirns einschlug, wie sonst konnte er die Pilze erklären, die plötzlich gehen konnten und – warte einen Moment -, das war die einzige Erklärung, er musste wohl gerade sterben oder so ähnlich, aber er würde eines von diesen Arschlöchern mitnehmen, so Gott ihm helfe, aber warte einmal, Mister Wallace, diese Kreatur ist ja schon tot und was zum Teufel ist Shu-shaaa und wer bist du überhaupt, Tamara?

Wow…jetzt sind wir im "Herz-Gehirn", stimmt das, Tamara? Das muss wohl das geschwollene lila Zeug da sein, da drinnen in dem Ding, das wie ein Abwasserrohr voller Krankheitserreger aussieht.

Und das ist deine Tochter, Ginger? Und dein Mann, Robert. Dein Sohn, Kevin. Angenehm.

So fühlt man sich also, wenn man weiß ist. Komisch, aber es ist das Gleiche wie schwarz zu sein, zumindest von innen. Aber wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mir bitte sagen, was hier los ist, warum ich hier in deinem Traum gerade sterbe und warum die Zeit gerade nicht vergeht?

Und du? Herbert DeWalt, habe ich das richtig verstanden? Ok, ich möchte das nur alles richtig verstehen. Du bist tot und du bist jetzt Staub und Energie, aber du haust nicht ab, bis wir dieses Shu-shaaa besiegen und es dorthin zurückschicken, wo es hergekommen ist und, wow, das ist ein toller Plan und lasst uns alle Teil von deinem Traum sein, Tamara. Und ich dachte, dass ich vorher verrückt war, als die grünen Augen schlimmer wurden als weiße Augen jemals waren.

Wirklich? Ich soll mit dir gemeinsame Sache machen, Tamara?

Weil wir alle überleben wollen?

Gemeinsam, in perfekter Harmonie? Eine vereinte Menschheit?

Sicher, warum nicht, habe ja nichts Besseres zu tun, während ich warte, bis ich in einer Zwangsjacke aufwache. Also weiter und lasst uns die Wale retten, Schwester.

Du glaubst, dass du das Ding besiegen kannst?

Ja sicher, aber du brauchst meine Hilfe? Unsere Hilfe?

Sicher. Ich brauche ein gutes Karma um dabei zu sein, aber ich mache mit. Denn, wie du sagst, Hoffnung ist unsere einzige Hoffnung.

Aaar-on-liii-ohp.

 

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»Mach bei uns mit, glaube an uns, denn wir sind alle eins und nur einer von uns kann gewinnen!«

Tamaras Gedanken explodierten, breiteten sich hell und weiß und dünn aus, genauso wie das Universum, als es aufgrund von Physik, Hitze und Shu-shaaa zu existieren begann. Sie fühlte James in ihrem Kopf, sie kannte ihn, sie lebte sein Leben und das alles in einem einzigen Herzschlag. Sie fühlte seine Ambitionen, aber auch seine Bitterkeit, seinen Schmerz. Seine Schuld. Und seine Hoffnung.

Und andere kamen gleich hinter ihm, Sarah Blevins, ein Mann namens Bill Lemly mit einem tropfenden Kreuz in der Hand, Chester, Emerland und noch mehrere Leute, so als ob sie alle durch das Läuten einer entfernten Glocke herbeigerufen worden wären.

Plötzlich durchzuckte sie ein Zweifel.

Würde sie Robert so Unrecht tun, wie sie ihrem Vater Unrecht getan hatte? Würde sie ihren Kindern Unrecht tun? War sie zu schwach, um mit dem Talent, das sie geschenkt bekommen hatte, richtig umzugehen? Würde sie alle enttäuschen?

»Ich werde nicht zulassen, dass du versagst«, unterbrach sie Robert. »Ich werde nicht zulassen, dass wir versagen.«

Ihre Gedanken verbanden sich wie zwei Flüsse. Sie sah seine Schwäche, seine Zerbrechlichkeit, seine allzu große Menschlichkeit, aber in diesem Moment, in dem sie einander brauchten, war alles vergeben. Es zählte nur mehr, dass er sie liebte. Und diese Menschlichkeit, die seine Schwäche war, war auch zugleich seine besondere Stärke.  Ihre Stärke.

Komisch, sie hatte immer gedacht, dass Liebe eine unsichtbare, aber wirkliche Stärke war, aber jetzt nahm sie Form an, bekam einen Umfang und eine Farbe und Ginger half dabei, und Kevin auch, aber Ginger war wie ein Blitzableiter, sie fasste und dirigierte eine unglaubliche Energie ohne wirklich zu wissen, was sie tat.

Tamara wusste, was das für eine Energie war.

Die Kraft der Liebe, tausendfach multipliziert. Herbert, Chester, James, ein dutzend, nein hunderte, tausende menschliche Organismen, deren Träume und Hoffnungen und deren Bewusstsein sich zu einer einzigen großen, goldenen Träne formte, die das Herz-Gehirn des Shu-shaaa überflutete, es erstickte und das giftige, vergiftete und pulsierende Alien verbrannte.

Es war wie dieses Lied von den Beatles "All you need is Love", nur mit einer anderen Melodie, etwas, das sich wie ein reines Lippenbekenntnis anhörte, wenn man es laut aussprach, aber dann wirklich wahr wurde, die wirklichste Sache im ganzen Universum, wenn man es fühlen konnte.

Und das Shu-shaaa nahm diese Gedanken in sich auf, dieses Gefühl und die seltsamen Emotionen, warf sie wieder zurück und absorbierte sie wieder, eine unendliche Kettenreaktion, wie die Spiegelung von zwei sich gegenüberstehenden Spiegeln.

Die Naturgesetze waren flexibel. Gesetze waren dazu da, um gebrochen zu werden. Tamara war wie eine Leitung, durch die die kollektive Energie menschlicher Seelen floss. Sie stellte die Extraportion Energie bereit, die die Sprengkapsel ihrer gebündelten Seelen zur Explosion brachte, nur den Bruchteil einer Sekunde nachdem Herbert DeWalt auf den Abzug seines Gewehrs gedrückt hatte.

Und sie war Bill Lemly, und alle waren sie Bill Lemly, der ein Mahagonikreuz in die Fratze eines Monsters stieß, denn Liebe nimmt viele Formen an und alle sind sie seltsam und wunderbar und Ehrfurcht einflößend.

Die Kraft der Liebe. Etwas, was das Alien nie gekannt hatte, nicht so, wie es nur die Menschen kennen können. Eine Kraft jenseits unseres Verstands, eine Kraft, die nicht kontrollierbar ist.

Und sie war hier in der Umgebung von Tamaras Vorstellungskraft, wo dieser kosmische Krieg geführt wurde. Und gerade jetzt war das der einzige Ort, der wirklich zählte.

Denn die Liebe gewann den Krieg. Liebe war Hoffnung, Liebe war stark, Liebe war blind und gerade in diesem Moment war die Liebe auch ein selbstgerechtes Vieh, das um sein Überleben kämpfte.

Die goldene Träne explodierte mit einer Kraft, die das Universum bis an seine äußersten Ränder erschütterte.

Und die Millisekunde schritt vorwärts, als Tamaras Verstand das explodierende Herz-Gehirn anbrüllte, als sie die Kraft von tausenden anderen Seelen in sich vereinte, als die Kraft der Hoffnung ihr Feuer in das Shu-shaaa ejakulierte, und es kollabierte und fiel in sich zusammen. 

Schmutz und Steine und ein Schwall von zähflüssigem, dickem Schleim spritzte aus dem Erdschlund, und sie fühlt, wie er starb, nein, er starb nicht, wechselte nur seine Form und verwandelte sich in Atome und in Raum und Zeit zurück. Sie fühlte die Explosion, die das Fundament der chemische Zusammensetzung des Alien zerstörte, fühlte die Gifte, die auf das kalte Herz-Gehirn einschlugen, fühlte, wie sich die Sporen zusammenkrümmten und erstickt wurden, fühlte das Zucken und Verwittern der Wurzeln, fühlte, wie das Bewusstsein des Alien mit einem unverständlichen Walzer in die Finsternis verschwand, eine Finsternis, die nichts als Finsternis war, ohne Glückseligkeit oder Frieden oder Boden: Finsternis und nichts als Finsternis. 

Und es weinte.

Dann rollte sie sich auf dem Boden weg von den umfallenden Bäumen und ein faustgroßer Stein traf sie an der Schulter und Chester hatte seinen Arm um sie gelegt und er fluchte in Gedanken und Emerland und Robert und Ginger träumte von einem Hasen und Kevin, jeder zur gleichen Zeit zu viele für einen kurzen Moment waren ihre Gedanken in jedem Organismus der ganzen Welt, ein Organismus-Orgasmus, und jeder Vogel und Käfer und Löwenzahn und Holzapfel und Flusskrebs und Lilie und Pantoffeltierchen und Virus, und es war eine absolute Verrücktheit und zum Glück war dieser überlange Wimpernschlag vorbei und sie spuckte Dreck und Zweige aus ihrem Mund und zwischen den Zähnen, während Erde durch die abgestorbenen Blätter der Bäume niederregnete. 

Dann war sie wieder Tamara, schmutzig, blutend, mit einer Gehirnerschütterung, aber sonst mehr oder weniger in Ordnung.

 

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Die Explosion weckte Klein Mack auf. Er war unter dem Wohnwagen eingeschlafen, zu müde, um noch länger zu weinen.  Als er seine Augen öffnete, hatte er vergessen, was passiert war und er konnte sich nicht erklären, warum er nicht in seinem Stockbett lag und Junior nicht im Bett über ihm schnarchte.

Dann sah er seine Mutter und sie hatte ihn gefunden, sie kam, um ihn zu trösten und zu umarmen, sie krabbelte auf allen Vieren auf dem Kies der Einfahrt. Aber sie war zu glitschig und nackt und ekelig und abstoßend und ihre Augen waren grün, aber das Schimmern wurde schon weniger, wie eine Taschenlampe, deren Batterien keinen Saft mehr hatten und ihre Haut wurde ganz zerfurcht wie Pappmaschee und begann sich von ihren Knochen zu lösen.

Sie sah aus, als ob sie Schmerzen hätte, aber dann löste sich ihre Oberlippe ab und sie sah so aus, als ob sie lächeln würde und sie sah so aus, als ob sie Mack einen Abschiedskuss geben wollte, aber dann löste sich auch ihre Unterlippe zusammen mit dem Rest ihres Gesichtes ab und auch ihr Schädel fiel in sich zusammen wie ein schmutziger Ballon und dann schrie und schrie und schrie Mack und dann war seine Mutter nur mehr ein Haufen dampfenden Schleimes und dann trocknete sie in der Sonne, flockte aus und der Wind nahm sie mit, aber Mack schrie schrie schrie und würde nie mehr aufhören zu schreien.

 

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James´ Augenlider öffneten sich, als die Kreatur schlaff neben ihm in sich zusammensank.  Sie kollabierte in das Blumenbeet unter dem Fenster, knickte die Gänseblümchen und erfüllte die Luft mit einem unangenehm süßlichen Geruch. James sah zu, wie die Kreatur welkte und sich schließlich auflöste. Man konnte überall Sirenen heulen hören.

James fühlte sich, als ob er von einem seltsamen Traum erwacht wäre, einer von denen, in dem du ein Statist im Film eines anderen Menschen warst. Außer dass er irgendwie wusste, dass dieser Film real gewesen war. Seine Finger juckten und er schaute auf die schmierigen Abdrücke auf dem Fensterbrett. Ja, er ist real gewesen.

Denn er konnte Tamara noch immer in seinem Kopf hören.

»Wir haben gewonnen«, jubelte sie. »Wir haben gewonnen!«

Stimmt. Gemeinsam sind wir stark. Brüder und Schwestern. Eine vereinte Menschheit.

Er hatte die Explosion gesehen, ein heller grüner Blitz auf dem Hang des Bear Claw. Er war Teil einer telepathischen Erfahrung gewesen und etwas Seltsames war über den Grund seiner Psyche gehuscht und hatte tiefe Abdrücke hinterlassen. Er wusste, dass er nie verstehen würde, was wirklich passiert war, aber das machte ihm nichts aus, denn er war sich nicht sicher, ob er wirklich verstehen wollte.

Aber er wollte wissen, ob ihr Sieg ein endgültiger war.

»Wir müssen es hoffen«, sagte Tamara in seinem Kopf.

Hoffen?

Ja, er hoffte. Hatte nicht jemand einmal gesagt, dass Hoffnung die letzte Hoffnung war?

Er hatte einen Herzschlag lang gesehen, was das Leben zu bieten hatte und was die Alternativen dazu waren. Die Dinge konnten immer besser werden. Seine Tante war unterwegs zu einem hoffentlich besseren Ort, aber die Lebenden hatten einen Auftrag zu erfüllen.

Sein Verstand war klar und farblos. Vielleicht war er der Rassist gewesen, hatte sich eingeigelt und war zum Sklaven der Vorurteile geworden, die er so sehr hasste.

Er konnte fühlen, dass der Albtraum vorüber war, dass das, was diesen Horror verursacht hatte, jetzt tot war, dass heute der erste Tag von etwas Neuem war, dass es Zeit war, die verstreuten Teile aufzusammeln und völlig neu zu beginnen. Es war Zeit für Veränderung.

Vielleicht konnten sich die Menschen ändern.

Die Bäume sahen voll Leben und kräftig aus, so wie normalerweise nach einem Regenschauer im Frühjahr. James ging hinaus in die Morgensonne, um zu sehen, ob jemand seine Hilfe brauchte.

 

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Bill schaute auf den Fleck auf dem Boden, wo der Teufel verreckt war. Der Herr war Bill im Moment größter Not zu Hilfe gekommen, Er war auf einem weißen Pferd gekommen, nein, als weiße Wolke, nein, nur reine Güte, die Bill frei von Sünde und Finsternis machte. Der Herr hatte triumphiert. Satan war wieder in der Hölle, wo er die nächsten tausend Jahre oder so seine Wunden lecken würde, bevor er einen neuen Versuch starten würde.

Aber Bill fürchtete sich nicht. Der Herr würde immer wieder einen Diener finden, durch den er seine Wunder vollbringen würde, der als rechter Arm Gottes dienen würde. Die Macht Gottes als Werkzeug auf dem Weg zur Wahrheit.

Er zog sein Hemd aus und wischte damit das Blut von seinem Hals und säuberte dann damit das vom Schleim befleckte Holzkreuz. Er trug das Kruzifix zur Kanzel und hängte es zärtlich auf seinen Haken zurück.

Dann kniete er sich nieder und dankte seinem Schöpfer.