SIEBZEHNTES KAPITEL

 

»Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?« Virginia Speerhorn drückte ihren gefeilten Daumennagel in ihre Handfläche, um durch den Schmerz ihren Ärger besser kontrollieren zu können.

»Ich habe mir nicht gedacht, dass es eine große Sache ist. Nur ein Bericht über einen versuchten Überfall. Und Sie haben ja schon genug zu tun, mit dem Blütenfest und so.«

»Und jetzt habe ich noch mehr zu tun, wenn ich mir einen neuen Polizeichef suchen muss, Crosley«, sagte Speerhorn aufgeregt in den Telefonapparat. Sie konnte zwar nicht ihren durchdringenden Blick benutzen, aber sie konnte Sarkasmus versprühen. »Sie wissen ganz genau, dass ich über diese Dinge informiert werden möchte.«

»Das tut mir Leid, Frau Bürgermeister. Ich wollte Sie zu Hause nicht stören…«

»Sie wollten mich nur nicht in Rage bringen. Wollten mich bloß nicht verärgern, richtig?«

Am anderen Ende der Leitung war Stille. Virginia wusste, dass Crosley jetzt mit seiner freien Hand über seinen fetten Bauch streicheln würde.

Das Blütenfest war nur noch wenige Stunden entfernt und sie wollte den tausenden Besuchern frisch und voll Energie gegenübertreten. Obwohl sie ihr eisernes Regiment über Windshake genoss, spielte sie auch mit dem Gedanken, einmal auf Landesebene zu kandidieren. Crosley hatte sie kurz vor Mitternacht angerufen und dabei ihre Überlegungen zur morgigen Garderobe gestört.

»Und haben Sie bis jetzt Meldungen über abgängige Personen erhalten?«, fragte sie und lenkte damit Crosleys Aufmerksamkeit wieder weg von seiner Leibesfülle.

»Ah, ja. Erstens, Kyle Emerland. Sie wissen schon, der Bautycoon.«

»Natürlich kenne ich ihn.« Es war für sie eine Frage der Ehre, alle Prominenten zu kennen.

»Sein Assistent hat um neunzehn Uhr angerufen. Sagte, dass Emerland nicht zu einer Besprechung erschienen ist und auch einem Abendessen mit Investoren von außerhalb ferngeblieben ist. Der Assistent sagte, Emerland verpasste sonst keinen einzigen Termin. Geht aber auch nicht an sein Handy.«

»Wann wurde er zuletzt gesehen?« Virginia Speerhorn war froh, dass die Lokalzeitung nur zweiwöchentlich erschien und die nächste Ausgabe erst nach dem Wochenende fällig war. Und Dennis Thorne vom Lokalradio würde jede Geschichte zurückhalten, wenn man ihm klarmachte, dass ihm das eine schlechte Arbeitsbeschreibung einbringen könnte. Keine negativen Schlagzeilen bis nach dem Blütenfest.

»Der Assistent sagte, Emerland wollte einen Kerl namens Chester Mull besuchen, um mit ihm am Nachmittag über ein Angebot zu sprechen. Mull lebt da oben, am Bear Claw.«

»Das ist schon außerhalb der Stadtgrenzen. Haben Sie Mull kontaktiert?«

»Auch keine Antwort. Ich habe aber einen Beamten da hinaufgeschickt, obwohl es eigentlich schon Landessache wäre. Der Kollege fand ein Auto, das auf dem Dach lag, aber es war nicht das von Emerland. Gehörte einem Nachbarn namens DeWalt. Auf dem Grundstück war niemand zu sehen. Nur ein Pickup. Ich habe das Kennzeichen überprüfen lassen und das Auto gehört Mull.«

»Da stimmt etwas nicht. Ich nehme an, Sie suchen noch weiter?«

»Natürlich, aber wir haben nur drei Männer, äh Beamte, die Dienst machen. Zwei überwachen in der Innenstadt die Vorbereitungen für das Fest. Alle anderen haben heute Nacht frei, weil sie morgen auf dem Blütenfest eine volle Schicht haben.«

»Alarmieren Sie ein paar. Ich genehmige die Überstunden persönlich. Sonst noch jemand abgängig?«

Virginia hoffte, dass das nicht zu einer Gewohnheit wurde. Die meisten Abgängigen tauchten am nächsten Morgen wieder auf, meistens mit einem idiotischen Grinsen und einem ordentlichen Kater oder sie wurden in einem Motel aufgestöbert, das die Zimmer stundenweise vermietet.

»Eine gewisse Tamara Leon«, sagte Crosley. »Unterrichtet in Westridge. Ihr Ehemann sagt, er habe von ihr den ganzen Tag kein Lebenszeichen bekommen. Er hat schon die Uni angerufen und all ihre Freunde, aber niemand hat sie gesehen. Aufenthaltsort weiter unbekannt. Außerdem ist noch ein Schüler abgängig. Aber bei ihm ist das nichts Besonderes. Geht gerne auf kleinere Trips, wenn Sie verstehen, was ich meine… Drogen.«

Virginia konnte einen Seufzer der Erleichterung nicht vermeiden. Wenigstens waren diese zwei Niemande. Sie fragte sich, ob zwischen ihnen und Emerland eine Verbindung bestehen konnte. Eher unwahrscheinlich.

»Konzentrieren Sie Ihre Ermittlungen auf Emerland und behalten Sie auch die anderen zwei im Auge. Aber die sind bei weitem nicht so wichtig. Haben Sie verstanden?«

»Ja, Frau Bürgermeister«, antwortete Crosley. »Aber es gibt da noch eine Sache.«

Sie hörte zu, als Crosley den Fall von dem unheimlichen Mann erzählte, der verschwunden war, "geschmolzen", und nur ein paar schmutzige Klamotten und eine Red Man Baseballkappe zurückgelassen hatte.  Als er mit seinen Schilderungen fertig war, war Virginia Speerhorn mehr denn je davon überzeugt, dass sie einen neuen Polizeichef brauchte.

»Ich habe jetzt keine Zeit für Spielchen. Rufen Sie mich an, wenn Sie Neuigkeiten haben!«

»Aber ich habe es selbst gesehen…äh...Gute Nacht.«

Sie legte auf und überlegte einen Moment lang. Drei abgängige Personen in einer Nacht. Normalerweise gab es in einem halben Jahr nur einen derartigen Fall in Windshake. Irgendetwas war da los, das sie nicht kontrollieren konnte. Das Gefühl schmeckte ihr überhaupt nicht. Sie fragte sich, ob es ihr das Blütenfest vermiesen konnte, entschloss sich aber dagegen. Das würde sie nicht zulassen.

Sie ging aus dem Wohnzimmer, um zu sehen, ob Reggie da war. Bis elf Uhr musste er nämlich zu Hause sein. Er verstand hoffentlich, wie wichtig dieses Wochenende für sie war. Sie wünschte sich manchmal, dass sein Vater nicht gestorben wäre, aber der war eigentlich sowieso nur ein Nichtsnutz gewesen, der ihrer Karriere geschadet hätte. Das Einzige, was er gut gemacht hatte, war, ihr Reggie zu schenken.

Sie konnte an der Ritze unter Reggies Zimmertüre sehen, dass er kein Licht mehr brennen hatte. Sie klopfte sanft. Er war schon alt genug, ein Recht auf Privatsphäre zu haben. Keine Antwort. Er schlief wohl schon.

»Schlaf gut, mein Engel«, flüsterte sie und machte sich dann in ihr eigenes Schlafzimmer auf.

 

###

 

An ihrem Tisch in der Sakristei der Kirche summte Nettie gerade "Amazing Grace". Sie fühlte, dass sie innerlich glühte, wie eine Madonna auf diesen Renaissancegemälden. Sie hatte sich noch nie so lebendig gefühlt, seit sie im Alter von vierzehn Jahren gerettet wurde. Jetzt war sie wieder gerettet worden, diesmal vor der Einsamkeit und unerwiderter Liebe.

Maybe it’s even . . . yeah, you can say it: LOVE, sang sie mit Innbrunst.

Der Tag mit Bill war wundervoll gewesen, ihre wildesten Fantasien waren Wirklichkeit geworden. Er hatte sie berührt, gehalten und schließlich genommen. Sein Geruch war noch auf ihrer Haut, ein starker, maskuliner Geruch nach Sägespänen und Schweiß. Unter ihrem Kleid erglühte sie noch mehr, wenn sie an ihr Schäferstündchen im Klee zurückdachte.

Sie hatte Schwierigkeiten, sich auf ihre Arbeit am Computer zu konzentrieren. Sie versuchte sich gerade am Programm für die kommende Sonntagsmesse. Sie hatte mit der Maus auf einen Clip-Art Jesus geklickt, doch dann begann sie wieder zu träumen und der angeklickte Jesus endete inmitten der Geburtsanzeigen von vergangenem Monat. Und als sie "Windshake Baptistenkirche begrüßt die Besucher des Blütenfests" schreiben wollte, wurde daraus "Brütenfest" und dann "Busenfest". Wenn sie sich nicht konzentrierte, würde sie hier die ganze Nacht beschäftigt sein, und das war ganz gegen ihren ursprünglichen Plan. Denn Bill würde sie später besuchen kommen, bevor er als Freiwilliger die Vorbereitungen zum Blütenfest überwachen würde.

Sie schwebte auf Wolke Sieben und fühlte sich Gott näher denn je. Sie dankte dem Herren tausendfach, dass Er Bill in ihr Leben und ihr Herz gebracht hatte. Sie hatte ein bisschen gefürchtet, dass sich Bill danach schuldig fühlen würde, dass er glauben könnte, sie sei eine schlechte Frau, die ihn verführen und von Gott wegführen wollte. Aber als sie nach dieser brennheißen Explosion endlich die Augen geöffnet hatten, sahen sie sich eine Minute lang ohne zu sprechen an. Doch dann hatte Bill in seiner tiefen, ehrlichen Stimme "Ich liebe dich" gesagt und sie wusste, dass er die Wahrheit sprach.

Sie ließ die Worte wieder und wieder in ihrem Kopf abspielen. Und sie tat es auch noch, als Prediger Blevins Fußschritte auf dem Kirchenboden zu hören waren. Sie drehte sich in ihrem Drehstuhl um, sodass sie ihn anblicken konnte. Sie würde es diesmal nicht zulassen, dass er sich anschlich und wieder seine Hand auf ihre Schulter legte.

Er blickte auf sie herab, sein birnenförmiger Kopf von seinem engelhaften Lächeln erleuchtet. »Noch so spät am Abend im Namen des Herren tätig, Nettie?«

»Ich mache nur das Programm für nächsten Sonntag fertig«, antwortete sie und bemerkte, dass seine Augen wie die eines Geiers langsam ihren ganzen Körper abtasteten.

Er lächelte sein ihm eigenes Lächeln, das eher bösartig als freundlich wirkte. »Schön, mein Kind. Schön. Diese Woche sollten viele Leute kommen. Und nächste Woche auch, Ostern steht schließlich vor der Türe. Das ist jetzt eine wichtige Zeit für den Herrn.«

Nettie fragte sich insgeheim, ob er überhaupt wusste, dass Ostern ursprünglich ein heidnisches Fruchtbarkeitsfest war. Der Gedanke an Fruchtbarkeit erinnerte sie daran, dass sie zum Glück immer noch die Pille nahm, obwohl sie schon seit über einem Jahr keinen Sexpartner mehr gehabt hatte. In der Hitze des Gefechts hatten weder sie noch Bill an Kondome gedacht. Auch nicht an mögliche Krankheiten. Der Gedanke an Gummis in der Kirche ließ sie erröten.

»Deine Wangen sind rosa, mein Kind«, sagte der Priester und kam noch näher, sodass er fast über ihr zu stehen kam. »Welcher Gedanke spukt in deinem Kopf, sodass sich die Farbe des Teufels auf deinem Gesicht abzeichnet?«

»Ach, nur eine kleine Sünde. Nichts Schlimmes, aber im Haus Gottes…«

Der Prediger hob nachsichtig seine Hand. »Ich weiß, Kind. Wir Menschen sind schwach. Wir können das Ideal Gottes nur erahnen, aber nie erreichen.«

Er griff ihr mit seiner heißen, feuchten Hand auf das Knie. Sein Atem roch nach Kupfer und Blut, der Atem eines Jägers.

Bills Liebe machte Nettie Mut. Es war an der Zeit, Klartext zu sprechen. »Herr Pfarrer…«

Er beugte sich noch näher zu ihr. »Erzähle mir von deinen Sünden, mein hübsches Kind.«

Sie bog sich in ihrem Sessel zurück, um seinen lüsternen Augen zu entkommen.

»Mein Schweigen war meine Sünde«, sagte sie mit zusammengepressten Zähnen. »Ich habe nichts gesagt, obwohl ich einen Fehler gesehen habe.«

»Aber bedenke, die Bibel sagt "Nur wer unschuldig ist, werfe den ersten Stein"«, sagte er mit leiser Stimme. Die Dachsparren knarrten in der Stille der leeren Kirche, so als ob die Nacht schwer auf ihnen lastete.

Sie zögerte, denn sie wusste nicht, wie sie ihre Zweifel formulieren sollte. »Es geht um das Geld, Priester.«

»Geld?« Seine Augen rollten wie gut geölte Kugellager.

»Das fehlende Geld. Nur eine einzige Person hatte Zugriff auf das Geld, bevor ich hier zu arbeiten begonnen habe. Nur eine Person kann das Geld genommen haben.«

»Kind, ich habe dir doch gesagt…«

»Ich bin auch nicht Ihr Kind. Ich bin ein Kind Gottes und Sie sind weit von Gottes Wegen abgekommen.«

»Was sagst du da?« Sein Gesicht zerknitterte mit einem Male und das gewöhnlich aufgemalte Grinsen verschwand.

»Sie müssen das Geld genommen haben, Priester. Es gibt einfach zu viele Ungereimtheiten, als dass man das als einfache Versehen abtun könnte. Ich bin auf zirka zehntausend Dollar gekommen, die alleine letztes Jahr verschwunden sind.«

»Ach, mein Kind, mein Kind, der Teufel ist in deinen kleinen Kopf gekommen und hat deine Augen mit Visionen geblendet«, sagte Armfield Blevins mit der wiedergefundenen sanften Stimme eines Predigers.

Sie konnte aus seinen Worten die Schlange der Versuchung zischen hören. Gott, war sie von diesem Verführer die ganze Zeit geblendet gewesen!

Ich habe gehofft, dass ich mich irre«, sagte sie. »Aber ich kann nicht länger meine Augen vor der Wahrheit verschließen. Die Lüge verzehrt mich innerlich.«

Sie lehnte sich weiter zurück, als er sie anlächelte. Blevins Hand umklammerte ihr Knie, als er sich über sie beugte. Er sah größer und mächtiger aus als sonst und er schien die Schatten der Sakristei aufzusaugen.

»Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen«, sagte er emotionslos.

»Und du sollst keinen falschen Propheten huldigen«, antwortete sie. Es würde eine Zerreißprobe für die Kirche werden, aber Nettie wusste, dass Gott die Gemeinde wieder heilen würde und sie gestärkt aus dem dunklen Tal hervorgehen würde. Und sie würde sicherstellen, dass Blevins nicht ungeschoren davonkommen würde. Hier musste sogar das weltliche Gericht walten. Gott würde anderswo richten.

»Es gibt genug für uns beide, Nettie. Es ist Teil Seines Plans. Teil meines Plans.«

Mit seiner rechten Hand knetete er ihr Knie und mit seiner anderen Hand begann er, ihren Rocksaum nach oben zu schieben. »Für uns beide«, wiederholte er mit rauer Stimme.  Sein Atem ging schnell, flach und stoßartig.

»Nein.« Sie versuchte, sich von ihm zu befreien.

»Ruhig, mein Kind.« Der rohe Atem des Predigers war nun auf ihrer Wange. »Armfield vergibt dir. Du weißt nicht, was du tust.«

»Armfield, was glauben Sie, was Sie hier gerade tun?« Sie fühlte sich innerlich kalt, eiskalt.

»Ich rette dich vor dem Feuer der Hölle, Nettie«, flüsterte er. »Du hast den rechtschaffenen Pfad verlassen und ich bringe dich zur Herde zurück. Ich werde dir den rechten Weg zeigen. Aber du musst tun, was ich dir sage. Du musst dich öffnen und mich einlassen.«

Seine Hand war nun unter ihrem Rock, auf ihrem nackten Oberschenkel. Sie drehte und wendete sich und versuchte, sich zu erheben. Sein Gesicht lief vor Ärger lila an und er ergriff ihre Haare, riss ihren Kopf zurück und fixierte sie so auf dem Stuhl. Seine Augen funkelten mit einem grausamen Versprechen.

»Hure!« Er stieß seine freie Hand tief unter ihren Rock. »Ich kann den Teufel auf dir riechen. Ich habe den Teufel in deinen Augen gesehen. Ich habe gesehen, wie du versuchst hast, mich mit deinen weiblichen Reizen in Versuchung zu führen. In den Augen Gottes bist du nur Abschaum.«

Nettie versuchte, ihn wegzuschieben, aber sein schlanker Körper drückte sich gegen sie, seine Knie hielten ihre Beine nieder und hielten ihre Arme zwischen ihren Körpern gefangen. Er hatte die Kraft eines Dämons. Er riss ihren Kopf nach hinten, über die Stuhllehne und legte so ihren Hals frei, den er mit rasenden Küssen bedeckte und mit seiner Zunge ableckte. Sie konnte nur hilflos auf die Decke der Sakristei blicken, als er ihren Rock bis zur Taille hochschob.

Sein Gesicht war über ihr. Es war verzerrt und knallrot. In ihrer Verzweiflung und in ihrem Horror konnte sie noch denken, dass der Teufel, wenn er auf die Erde käme, genauso eine Maske tragen würde. Eine Maske der Grausamkeit und des Hohns. Augen, die vor widerlicher Lust glühten, und ein Atem, der faulig roch und dir die Seele raubte. Als sie sich wehrte, schloss sie ihre Augen und betete zu Gott, dass er sie vor dem Bösen erlösen würde.

Eine leise Stimme erfüllte plötzlich ihre Ohren. “Ahmmmm .« . .”

Der Prediger hielt inne. Zuerst hatte Nettie gedacht, dass er gestöhnt hatte und seine Lust herausließ. Doch dann kam die Stimme noch einmal, aus dem Inneren der Kirche.

“Ahmmmm …fiiihl«

Der Kopf des Predigers schwang herum, seine Augen waren vor Angst geweitet. Seine klauige Hand in ihren Haaren ließ ein wenig locker. Nettie hielt den Atem an und wartete auf eine Chance, ihm entkommen zu können. Ihr Herz klopfte wie das einer ängstlichen Taube.

Da kam die Stimme noch einmal, lauter, von dem Eingang zur Sakristei. »Ahmm….fiiihl…« . .”

Nettie konnte nicht sehen, wer es war, denn ihr Kopf war noch immer gegen den Stuhl gepresst. Aber sie konnte sehen, dass das Gesicht des Priesters plötzlich aschfahl wurde, als ob er einen Geist gesehen hätte. Er ließ sie los.

Armfield machte ein paar Schritte weg von Nettie und drehte sich zur Türe. Seine Arme baumelten an seinen Seiten, o wie die eines Pistoleros kurz vor dem entscheidenden Kampf. Seine Hose fiel von der Hüfte zu seinen Knöcheln, weil er zuvor schon den Gürtel gelöst hatte. Nettie hob den Kopf und zweifelte zum zweiten Mal am heutigen Abend an ihren Sinnen.

Denn sie konnte nicht glauben, was ihre Augen ihrem Verstand zubrüllten.

Amanda Blevins bewegte sich durch den Raum auf ihren treuelosen Ehegatten zu. Aber Amanda war nur ein kleiner Teil von dem, was auch immer das Ding war, so als ob ein paar Teile von ihr völlig willkürlich in grünen Ton gepresst worden wären. Es hatte noch Amandas hennarotes Haar, aber das Styling war schon verwelkt und zu feuchtem Stroh geworden. Ihre auffällige Nase stand noch vom Gesicht ab – falls man das überhaupt noch GESICHT nennen konnte. Nettie dachte, es sieht vielmehr wie ein gebogener Dorn aus.

Amandas Kleider waren zerrissen und hingen in Fetzen von ihr herab und ihr Fleisch bestand auch nur mehr aus feuchten Fetzen. Ihre Haut sah aus wie altes Fleisch, das in einem Keller gelegen hatte und schimmlig geworden war. Während sie sich bewegte, fielen fingergroße Teile von ihr ab und auf den Boden. Sie hinterließen eine schleimige Spur auf dem Weg zu ihrem Mann hinterließen. Eine hängende, schlaffe Brust baumelte aus ihrer zerrissenen Bluse wie eine überreife Frucht. Netties Magen krampfte sich vor Ekel zusammen und sie fühlte den Drang, sich zu übergeben, aber ihr Magen gehorchte ihr nicht.

Nettie wusste nicht, was schlimmer war, die Augen oder der Mund des Dinges. Die Augen glühten dunkelgrün und doch durchsichtig, so als ob ein fauliges Feuer inmitten von einem wässrigen Schädel brannte. Aber der Mund – der Mund öffnete sich, gurgelnd und schal zugleich, und scharfe Tentakel züngelten wie Schlangen aus einer matschigen Höhle.

Dann sprach es:  “Ahmmmm …fiiihl…Ahmfihl…kish…«

Aus dem Mund sprühten ekelige grünliche Tropfen und Nettie konnte jetzt Amanda riechen. Es war der Gestank nach Leichen, nach Friedhofsaas und fauligem Kompost, nach verfaulten Pfützen und gärigen Melonen. Nettie versuchte aufzustehen, aber ihre Glieder waren dicke, schlaffe Nudeln und sie konnte nichts anderes tun, als in hilfloser Faszination dem Schaupiel zuzuschauen.

»Kish...shu-shaaa...Ahmfiiihl«, sagte Amanda.

Der Priester wich zurück, seine Teufelsfratze war weiß geworden.  Auf seiner hohen Stirne glitzerten Schweißperlen. Sein Unterkiefer fiel herab, als Amanda ihn erreichte. Mit seiner Hose um die Knöchel stolperte er und fiel gegen die Mauer.

Dann war das Ding, das einmal Amanda gewesen sein musste direkt über ihm und glitt auf seinen Körper mit einem nassen, schmatzenden Geräusch. Ihr flüssiges Fleisch bedeckte ihn fast gänzlich und ihr unmenschlicher Mund näherte sich seinem Gesicht. Nettie hörte seine erstickten Schreie, als er sich mit seiner Frau vereinte.

Dann erwachten Netties Muskeln plötzlich und sie konnte sich von ihrem Stuhl erheben. Sie rannte weg und rutschte fast auf der Schleimspur, die Amanda hinterlassen hatte, aus. Als sie die Tür der Sakristei erreichte, konnte sie die Stimme des Predigers in einer letzten Litanei hören.

»Es brennt...es brennt!«, jaulte er.

Amanda hatte ihren matschigen Kopf zur Decke gedreht und aus ihrem ausdruckslosen Mund tropfte morastiger Schleim. »Shu-shaaahhhh«, gurgelte sie in Richtung Himmel, bevor sie ihr Gesicht noch einmal auf das des Predigers fallen ließ.

Nettie rannte in die unbeleuchtete Kirche und stieß ihre Knie gegen die Orgel. Sie schickte ein Stoßgebet in den Himmel, dass der Herr ihr in der Dunkelheit leuchten möge, in der Dunkelheit, die auf der Erde herrschte, die auch in ihrem Verstand aufstieg und drohte, sie in den Schlund des Wahnsinns zu ziehen.

Denn die Hölle hatte ihre Dämonen ausgeschickt, die Apokalypse war gekommen und sie fragte sich, ob ihr Glaube sie retten würde. Zum ersten Mal seit ihrer spirituellen Rettung war sie sich nicht sicher, ob der Glaube an Gott allein genug sein würde.

 

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Robert drehte den Fernseher ab. Er konnte sich nicht auf das Basketballspiel konzentrieren. Er hatte die Kinder mit beschwichtigenden Ausreden zu Bett gebracht und hoffte, dass er es geschafft hatte, seine Sorgen vor ihnen zu verbergen. Er ging in die Küche und starrte auf das Telefon. Er flehte es stumm an, endlich zu läuten. Oder sollte er noch einmal die Polizei anrufen? Er schaute auf die Kuckucksuhr, die ein Hochzeitsgeschenk gewesen war. Ihre Zeiger waren genauso staubig wie ihre Ehe.

Fast Mitternacht. Er ballte seine Hände zu Fäusten und versuchte dem Drang, auf den Kühlschrank einzuschlagen, zu widerstehen. Er wollte den Schmerz in seinem Arm spüren und seine blutigen Knöchel von dem eingedrückten Metall nehmen, er wollte dieses idiotische Gerät dafür bestrafen, dass es so ruhig und stoisch dastand, während seine Frau abgängig war. Er wünschte, er könnte sich bestrafen, weil er sie von sich weggetrieben hatte, denn er wusste, dass es seine Schuld war.

Vielleicht hatte sie genug und wollte nicht noch einen seiner Wutausbrüche miterleben. Robert konnte es ihr nicht übel nehmen. Sein schlechtes Gewissen fraß ihn von innen auf. Er hätte für sie da sein sollen, er hätte mit ihr reden sollen, beichten sollen und ihr sein Herz öffnen und um Vergebung bitten sollen, Vergebung, die sie ihm sicher gewährt hätte.

Was, wenn das Undenkbare eingetreten ist? Dieser Traum, dem sie ihm zu erzählen versucht hatte. Aber er hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Irgendetwas von einem Berg, der sie alle verschlingen würde. Vielleicht war es ja die Vorahnung von einem Unfall und sie war mit dem Wagen in einen Straßengraben gefahren oder in einen Fluss gestürzt, oder erstickt oder ermordet oder… . .

Denk nicht einmal daran. Aber diese verdammte Stimme...

Vergiss diese Hellseher-Scheiße. Wenn Tamara in die Zukunft schauen konnte, warum hätte sie dann so ein wertloses Stück Müll wie dich geheiratet?

Aber sie hatte das mit ihrem Vater wirklich vorhergesagt. Und als Kevin seinen Oberschenkel gebrochen hatte. Wenn sie tot war und er nie mehr die Möglichkeit haben würde, sich zu entschuldigen, wie könnte er dann jemals weiterleben?

Er überlegte, ob er nicht doch den blöden Kühlschrank eintreten sollte, weil er nicht in sich hineingreifen konnte und sein noch blöderes Herz herausreißen und es über der Abwasch in das Licht halten konnte, während sein verlogenes Blut heraustropfte, und er zuschauen konnte, wie es seine letzten Schläge machte. Er konnte es nicht, wegen der Kinder.

»Papa?«

Robert drehte sich um, seine Hände noch immer zu Fäusten geballt. Ginger rieb sich verschlafen die Augen und hielt einen Frosch aus Stoff an die Brust. Ihre Wangen waren tränennass.

»Was machst du denn hier? Du solltest doch schlafen, mein Schatz.« Er ließ seine Hände locker und kniete sich zu ihr. Sie sah Tamara so sehr ähnlich.

»Hab´ schlecht geträumt.« Sie stand da in ihrem Flanell-Zirkuspyjama und schnupfte noch, als Robert sie umarmte.

»Es ist alles gut. Ich bring dich ins Bett und du kannst mir von deinem Traum erzählen, wenn du willst.«

»Wo ist Mama?«

»Mama ist noch nicht da, mein Schatz. Aber sie kommt gleich.«

»Aber nicht, wenn der Erdmund sie frisst.«

»Erdmund?« Robert musste fast lächeln, aber die grünen, ernsten Augen seiner Tochter hielten ihn davon ab.

»Der Erdmund in den Bergen« Sie sagte es so sicher, als wäre es etwas, das sie im Fernsehen gesehen hatte.

»Liebling, so etwas gibt es nicht…«

»Mama sagt, dass man an seine Träume glauben muss. Weil Träume von der Natur kommen und die Natur nie lügt. Und der Erdmund war in meinen Träumen. Und Mama war auf dem Berg beim Erdmund.«

»Ach, Träume sind nur Schäume. Wie kleine Spiele, damit die Nacht schneller vorüber geht.«

»Aber wo ist denn Mama dann?«

»Ach, irgendwo ist sie noch unterwegs, mein Liebling.«

»Sie ist da draußen bei dem Erdmund. Und er wird den ganzen Berg auffressen, Papa. Er will jeden auffressen und alle Bäume und die anderen Sachen.«

Robert streichelte über Gingers Haare und drücke sie an seine Brust. »Es war nur ein schlechter Traum, Schatz. Geh zurück in dein Bett und morgen wirst du sehen, dass Mama wieder da ist und die Sonne wird scheinen und es wird keine bösen Erdmäuler mehr geben.«

Er nahm sie in seine Arme und brachte sie ins Bett zurück.

Mein Gott, wie schnell sie größer geworden ist. Blond und wunderschön und mit schönen Augen.  Und sie ist sensibel, genauso wie ihre Mutter. Und viel Fantasie hat sie auch.

Genau wie ihre Mutter.

Er deckte sie zu und küsste sie auf die Stirne. Er konnte nichts dagegen tun. Er musste es wissen. Nur im Fall des Falles. »Wo war Mama denn? Ich meine, in deinem Traum?«

»Auf dem Berg, mit den bösen Leuten. Auf dem Berg, der barfuß ist. Wo der Erdmund ist und das grüne Licht.«

Sie gähnte und schloss langsam und müde ihre Augen.

»Schlaf gut, Liebes. Papa passt auf dich auf.«

»Nacht, Papa.«

Er drehte das Licht ab. Aus der Dunkelheit ertönte noch einmal ihre Stimme.

»Papa, was heißt Shu-shaaa?«

»Shu-shaaa? Das weiß ich nicht.«

»Es macht mir Angst.«

»Du brauchst aber keine Angst zu haben«, sagte er zum finsteren Bett hin. »Es kann dir nichts passieren. Nicht, wenn ich da bin.«

Lügen war gar nicht so schwer, wenn man Übung darin hatte. Er begann zu singen und war bei der dritten Strophe, als Ginger endlich einschlief.

Er ging auf die Veranda um eine Zigarette zu rauchen und weiter zu warten.

 

###

 

Nettie betete.

Sie fragte den Herren, warum Er sie über den kleinen runden Grabstein hatte fallen lassen, der ein altes Grab ohne Namen kennzeichnete. Sie hätte ihn eigentlich unter dem Mondlicht weiß leuchten sehen sollen. Aber sie war in Panik aus einem Seitenausgang aus der Kirche heraus und auf den finsteren Friedhof gelaufen. Außerdem hatte sie die Angst blind gemacht.

Warum konnte der Herr wollen, dass sie sich den Knöchel bricht. Und sie hatte Angst davor, um Hilfe zu rufen, denn vielleicht würde die Hilfe ja in der furchtbaren Gestalt von Amanda Blevins zu ihr kommen.

Oder der Priester selbst, der jetzt im Licht der Kerzen in der Kirche stand, noch immer mit seiner Hose bis zu den Knöcheln heruntergelassen und mit Augen so tief wie der Schlund der Hölle.  Vielleicht wenn sie die Pfarre erreichen konnte, vielleicht war ja Sarah zuhause, vielleicht konnte sie bis dorthin robben... . .

Es waren nur knapp dreißig Meter. Aber der Schmerz war wie ein dumpfes Feuer knapp über ihrem Fuß und sie musste mit den Händen tief in die Erde graben um sich nur ein paar Meter vorwärts zu ziehen. Kleine Steine gruben sich in ihre Hüfte und das Gras zerrte an ihrem Rock. Sie war erst zehn Meter von der Kirche entfernt, als sie die Geräusche hörte.

Zuerst dachte sie, es wäre eine zerborstene Wasserleitung oder ein feuchter Wind, der durch die Baumwipfel fegte. Doch dann sah sie die Schatten, die am Rande des Friedhofs langsam aus dem Wald kamen. Sie wollte schon rufen, weil sie sich von ihnen Hilfe erhoffte.

Aber wer würde schon gegen Mitternacht auf einem Friedhof spazieren gehen?

Dann sah sie ihre Augen. Drei Paar fluoreszierende Kreise, die wie fette Fliegen in der Dunkelheit tanzten. Es gab also mehr von denen.

Mehr von dem, was Amanda Blevins geworden war.

Nettie biss sich in die Zunge, um einen Schrei zu ersticken, und der daraus resultierende Schmerz pochte in ihrem Mund.  Sie packte ihr verletztes Bein mit beiden Händen und drehte sich auf den Rücken, während sie versuchte ihre Schmerzen zu ignorieren. Sie rollte sich hinter einem großen Grabstein aus Marmor zusammen und presste ihren Körper gegen die glatte Kälte des Steins. Die Inschrift "William Franklin Lemly, 1902-1984" war als dunkles Relief in den mondbeschienenen Alabaster eingraviert. Bills Großvater.

»Hilf mir, Bill«, flüsterte sie mit einer Wange am Stein. Die drei Figuren traten – traten war nicht das richtige Wort, sie FLOSSEN – in das Mondlicht und Nettie konnte die grünliche Farbe ihrer Körper sehen. Ihre Köpfe erinnerten sie an Früchte aus Wachs, die in Motoröl getaucht worden waren.

Sie schwebten über die grasbedeckten Knochen der Toten so, als ob sie selber tot wären, mit dem gleichen feuchten Schmatzen, das Amanda von sich gegeben hatte, als sie in die Kirche kam, eine Mischung aus Schleim und Gelatine. Sie erkannte zwei von ihnen, Hank und Ellen Painter, Mitglieder der Windshake Baptistengemeinde, die am Stony Fork lebten. Der Dritte war so verrottet, dass sie nichts mehr erkennen konnte. Nicht einmal das Geschlecht war unter seinen zerrissenen und verwesten Kleidern erkennbar.

Die drei näherten sich dem Licht der Kirche wie die Heiligen Drei Könige, die ein Wunder erblickten. Nettie spähte hinter ihrem Stein hervor und war sich sicher, dass ihr hämmernder Puls sie verraten würde. Aber die glühenden Augen waren auf ihre geliebte Kirche fixiert.

Nettie sah zu, wie sie die Stiege hinauf stolperten und zusammenmatschten, als sie alle gleichzeitig durch die Türe eintreten wollten. Sie fielen in die Kirche und stöhnten mit nassen Stimmen, vielleicht priesen sie den Herrn oder sie verfluchten den Gott, dem sie jetzt zu dienen schienen.

Nettie zog sich weiter über das Gras und es fühlte sich wie die Haare der Erde an, eine Erde, die Tau schwitzte und den Wind ausatmete. Ein brennender Schmerz flammte in ihrem Bein auf. Sie krabbelte hinter eine hohe Statue von einem Engel, der eine Harfe in der Hand hielt und in den Himmel blickte. Nettie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Statue, bedacht darauf, dass zwischen ihr und der Kirche das steinerne Monument war, und blickte selbst in den Himmel.

Herr, du hast schon so viele Wunder vollbracht.Wenn das das Ende der Welt ist, gib mir bitte die Kraft, Deine Schmerzen zu ertragen. Wenn dies erst der Anfang ist, wie wird dann das Ende aussehen? Dein Wille geschehe. Bitte vergib mir, oh Herr, aber ich werde versuchen zu überleben. Denn mein Leben hat mir gefallen, bis diese Dämonen aus der Hölle gestiegen sind. Vergib mir, dass ich nur ein Mensch bin, ein Mensch, der noch nicht bereit ist, seine Seele aufzugeben! Amen.

Durch einen Busch konnte sie ihr Auto erkennen, das zwanzig Meter entfernt auf dem Parkplatz unter den Straßenlaternen funkelte. Aber das Auto war keine richtige Option, weil sie wegen ihres gebrochenen Knöchels die Pedale nicht bedienen konnte. Ihre beste Chance war, die Pfarre zu erreichen und von dort Hilfe zu holen.

Vorausgesetzt, dass Sarah zuhause war oder die Haustüre nicht verschlossen war. Vorausgesetzt, dass Sarah nicht schon eine von ihnen war. Vorausgesetzt, dass Nettie das letzte Stück vom Friedhof zur Pfarre zurücklegen konnte, ohne von den Kreaturen gesehen zu werden. Vorausgesetzt, dass sie vor Schmerz nicht in Ohnmacht fiel, bevor sie die Eingangstür erreichte.

Sie biss die Zähne zusammen und bewegte sich wie eine schwerfällige Schlange auf dem Bauch vorwärts.

 

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Emerland schloss das Tor auf. Der Metallzaun war mit Stacheldraht umsäumt, um etwaige Diebe mit Nachdruck von ihrem Vorhaben abzuhalten. Er überlegte sich kurz, ob er in die Dunkelheit, die den Gebäudekomplex auf allen Seiten umgab, flüchten sollte. Aber der alte Mull hatte noch immer sein Gewehr und Emerland konnte seine unnachgiebige Kraft irgendwo hinter sich spüren. Außerdem hatte ihn, soviel musste er zugeben, all das Gerede von Zombies mit grünen Augen und einem Erdmund, der Berge verschlang, auch nervös gemacht.

Obwohl Emerland auf seinen vielen Reisen schon viel erlebt hatte, hielt er Mull und DeWalt immer noch für verrückt. Zum Teufel noch einmal, das war hier das einundzwanzigste Jahrhundert. Die Wissenschaft hatte alle Vorstellungen von Monstern oder Geistern und Vampiren, die aus der Erde stiegen, zunichte gemacht. Und Aliens waren schon längst zu Klischees aus Plastik geworden, weil sie von untalentierten Science-Fiction-Schriftstellern und Filmproduzenten ohne Geld zu tausenden heraufbeschworen wurden.

Aber die menschliche Idiotie war eine Konstante in der Geschichte der Menschheit. Und Emerland war sich sicher, dass er sich darauf verlassen konnte, dass der alte Mull irgendetwas Unvorhersehbares  tun würde.

Er drehte sich zu dem Trio um und schaute geblendet in das gleißende Licht der Scheinwerfer seines Mercedes. Chester, DeWalt und die dünne Psycho-Braut waren dunkle Schatten in dem gelblichen Licht.

»Bitte sehr«, sagte er. »Ich hoffe nur für euch, dass keiner der Wachmänner vorbeikommt.«

Aber es gab gar keine Wachleute. Die Firma, die die Versicherung seiner Baufirma ausgehandelt hatte, hatte wegen des Dynamits auf eine 24-Stunden Bewachung bestanden. Emerland hatte zwar schriftlich zugestimmt, aber nicht eingesehen, warum er Geld für einen Sicherheitsdienst ausgeben sollte. Wen kümmerte es schon, wenn etwas gestohlen wurde oder wenn alles in die Luft ging, wenn er doch ohnehin eine Versicherung hatte, die den Schaden deckte?

»Sperren Sie nun das Dynamitlager auf«, grunzte der schmalste Schatten, nämlich der mit dem Gewehr.

Emerland wollte unter diesen Umständen nicht streiten. Er ging voran, vorbei an den riesigen Bulldozern, Betonmischwägen und Stapeln von Autoreifen für Lastwägen, zu einer kleinen Hütte am Ende des Firmengeländes. DeWalt trug eine Taschenlampe, die Chester in Emerlands Handschuhfach gefunden hatte, aber der Mond war so hell, dass sie die Lampe gar nicht benötigten. Emerland fummelte einige Zeit am Schloss der Holztür herum und verfluchte sich innerlich, dass er auch wirklich jeden Schlüssel zu jeder Tür haben wollte, auf der Emerland Enterprises geschrieben stand.

Dann endlich drehte sich der Schlüssel im Schloss und die Türe öffnete sich mit dem Quietschen der rostigen Scharniere.  DeWalt trat mit seiner Taschenlampe ein. Emerland spürte den Lauf des Gewehrs im Rücken und folgte DeWalt in die Hütte.

»Kannst du mit dem Zeug umgehen?«, fragte Chester DeWalt.

»Mehr oder weniger. Ich habe das Kochbuch für Anarchisten gelesen, als ich noch jünger war. Man braucht eine Sprengkapsel, Sicherungsdraht und einen Schalter, der die Detonation auslöst. Und einige von denen da.«

Er zeigte auf einen Stapel von kleinen, mit Papier abgedeckten Stangen, die in einer offenen Kiste auf einem Regal lagen. »Wie viele braucht man?«, fragte DeWalt Emerland.

»Wie soll ich das wissen? Ich bin ein Bauunternehmer und nicht der Chef einer Abbruchfirma«, sagte Emerland.

»Halt deine verdammte Klappe, Emerland«, sagte Chester. »Nimm einfach zwei Dutzend. Gib ein paar davon Tamara.«

Emerland schaute zu, wie Chester die Taschen seines Overalls mit den Dynamitstangen füllte.

»Hey DeWalt, du übergebildeter Yankee, warum liest du nicht einfach, was hier in rot geschrieben steht?«, sagte Chester und deutete auf den Warnhinweis auf der Holzkiste. »Und dann mach einfach alles, was hier verboten wird. Dann sollte es laut knallen.«

»Chester, du bist ein absolutes Genie«, sagte DeWalt.

»Sollte das nicht ironisch gemeint sein, nehme ich das jetzt einfach mal als Kompliment.«

»Wenn ich mich richtig erinnere – und ihr müsst entschuldigen, dass mein Gehirn damals nicht immer richtig tickte – muss der Draht zuerst mit dem Schalter und dann mit der Sprengkapsel verbunden werden. Dieser Schalter schickt eine elektrische Spannung durch den Draht, der das Zeug in der Sprengkapsel erhitzt und dann...«

»Gibt´s ein verdammtes Feuerwerk«, sagte Chester. »Zündet es den Rest des Dynamits.«

»Also eigentlich ist das TNT, nicht Dynamit.«

»Scheiß drauf. Solange es nur richtig laut knallt.«

Emerland machte einen Schritt zur Tür. Die zwei Männer waren so auf das TNT fixiert, dass sie ihn gar nicht mehr beachteten. Er warf einen Blick auf die Blonde. Verdammt, die sah ja lecker aus. Wenn die Umstände andere wären, dann hätte er nichts dagegen, mit ihr seine Badewanne in Sugarfoot zu teilen und die Champagnerkorken knallen zu lassen. Er fragte sich, ob Verrücktheit ansteckend war.

»Hört mal her«, drängte sie. »Das Ding wird immer hungriger. Ich habe das Gefühl, dass wir uns besser beeilen sollten, bevor die Sonne wieder aufgeht.«

Emerlands Erregung schrumpfte wieder zusammen. Er versuchte, hinter einem kaputten Planierfahrzeug zu verschwinden.

»Nicht so schnell, Idiot«, sagte Chester ohne sich umzudrehen. Emerland blieb wie festgenagelt stehen. Er konnte sich die Zeit vertreiben, indem er den rötlichen Abhang auf dem Berg bis hin zu dem leuchtenden Turm der Sugarfoot Condos beobachtete. Er sah vor dem Hintergrund des Sternenhimmels so wunderschön aus, sein eigener Beweis, dass Träume Wirklichkeit werden konnten. Er wünschte, er könnte jetzt dort sein, hinter einem dieser kleinen Lichter, bei den flauschigen Teppichen, zwischen den Satinbettlaken und mitten unter den schon obszön reichen Touristen. Weit weg von den schlecht gelaunten Verrückten und dieser süßen Reinkarnation des Nostradamus.

Sie waren gerade auf dem Weg zurück zum Auto, DeWalt und die Frau jeweils mit einem Haufen Dynamit unter den Armen, als irgendetwas gegen den Zaun stieß. Emerland hörte das Klirren des Zaunes, drehte sich um und sah die Ausgeburt seiner Albträume.

Das Ding war wohl vorher eine Frau gewesen, soviel konnte er ausmachen, denn ihr strähniges Haar hing wie feuchte Sojasprossen über ihre tropfenden Brüste. Ihre Augen glühten mit einem tiefen, strahlenden Verlangen und ihre Finger waren in dem Metallzaun verkrallt. »Shu-shaaa…kish…bäuuume…«

Kamen diese Geräusche tatsächlich aus diesem nassen Mund, der zu weit aufklappte um zu einem Menschen zu gehören? Emerland schaute genauer auf diese Wangenknochen, die ihm irgendwie vertraut vorkamen, und auf den breiten Schädel, der wie bleicher Käse im Mondlicht leuchtete. Plötzlich erkannte er sie – nein ES, nicht SIE. Es war eine der Aerobic-Lehrerinnen aus Sugarfoot. Eine, die mit ihm schon ein paar private Turnstunden eingelegt hatte.

Nein.

Das konnte nicht wahr sein.

Emerland blickte noch immer auf den Kopf und suchte darin das Gesicht, das sich zuvor unter dieser Haut verborgen hatte… . . Bevor der Erdmund-Zombiemacher-Weltfresser gekommen war.

Dann verschwand das Gesicht plötzlich, als Chester mit einem Schuss aus seinem Jagdgewehr den Oberkörper dieser Kreatur in einen Matschregen verwandelte.

»Es gibt schon viele von ihnen. Sie kommen!«, sagte Tamara in die Stille hinein, die dem tödlichen Schuss folgte.

Tamara führte sie an, als sie zum Mercedes rannten. Nur Emerland konnte sich nicht bewegen, konnte sich von dem Anblick des zitternden Stumpfes der Kreatur, die nun zu Boden floss und eine klebrige Schleimspur, die im Mondlicht leuchtete, auf dem Zaun hinterließ, nicht losreißen. Doch dann hatte er wieder Kontrolle über seine Beine erlangt und rannte zum Auto, überholte die anderen und schob sich auf den Sitz hinter dem Lenkrad des Mercedes.

»Glauben Sie mir jetzt?«, fragte DeWalt vom Rücksitz. Emerland nickte.

»Lasst uns so schnell wie möglich verschwinden!«, sagte Chester.

Emerland gehorchte und Chester musste diesmal gar nicht seinen Worten mit seinem Gewehr Nachdruck verleihen.